IM FOKUS Rotwild Text & Fotos Ing. Thomas E. Tscherne 20 WEIDWERK 9 | 2015 ww0915_s2023.indd 20 21.08.2015 17:42:05 Hirschfieber . . . wen es einmal gepackt hat, den lässt es nicht mehr los: das Hirschfieber. Zwar nicht lebensbedrohlich, ist es dennoch schwerwiegender als Sehnsucht oder bloßes Verlangen. Das Hirschfieber befällt aber nicht nur uns Menschen, sondern auch – und vor allem – den Hirsch! Wie, das schildert ein Betroffener. – 2. Teil: Es geht ums Ganze! 21 WEIDWERK 9 | 2015 ww0915_s2023.indd 21 21.08.2015 17:42:10 IM FOKUS Rotwild IDYLLE? Das Gasteinertal ist die Heimat unseres „Hauptdarstellers“. M it sinkender Tageslicht länge des Hochsommers baut sich ein immer hö herer Testosteronspiegel im Körper des Hirsches auf, und er wird immer mürrischer und argwöhnischer. Jeder Tag, der voranschreitet, macht ihn gegenüber seinen Hirschgenossen aggressiver. Er geht jetzt lieber allein, und manchmal, bereits 3–4 Wochen vor dem Eisprung der Hirschtiere, muss er sich sogar schon ärgern, wenn er nur einen „Hirsch“ sieht oder riecht, sodass es ihn ganz einfach überkommt und er zu diesem Ärgernis hinüberschreien muss. Das ist für ihn schlicht so, wie wenn wir Menschen lachen, wenn uns etwas amüsiert – die Reaktion auf einen Reiz, die wir nicht unterdrücken kön nen. Endlich Platzhirsch! Schon im August habe ich kundgetan, dass ich endlich Platzhirsch sein und wie ein König leben will! Mittlerweile bin ich zu einem stattlichen Hirsch he rangewachsen und im 14. Lebensjahr. Mit jedem Tag wird es schwieriger, dass ich mich leise verhalte – überall bemerke ich die ärgerlichen, verschla genen Stellen meiner Rivalen! Ringsum im Gras und in der Erde und an den Baumstämmen haftet deren Geruch! Und dann sind da auch noch diese mechanischen, optischen Markierungen – wirklich jedes Mal ein Grund, ärger lich zu brummen. Wenn ein anderer zurückbrummt, gebe ich ihm umge hend und ordentlich Bescheid, was er eigentlich von mir will. Schließlich und endlich bin ich stark wie ein Bär! Und weil die ganze Sache immer wichtiger und ärgerlicher wird und die Damen immer mehr „abgecheckt“ wer den müssen, es jeden Tag immer wich tiger wird, dass man auf dem Laufenden ist – wo die Alttiere stehen und wie sich deren Geruch täglich verändert, wo die Nebenbuhler sind und welche Kon k urrenten es gibt –, bleibt bald überhaupt keine Zeit mehr zum Äsen! Was dann auch bald der Grund dafür ist, dass ich gar nicht mehr schlafe und sich jede Minute nur um Folgendes dreht: Wo sind meine Tiere? Welche Tiere riechen wie? Wieso ist da schon wieder so ein Hirsch? Habe ich dort schon nachgeschaut? Habe ich nicht etwas vergessen? Soll ich nicht noch einmal schnell nachschauen gehen? Je mehr sich das Karussell dreht, desto mehr muss ich mich verbal und auch sonst wie bemerkbar machen und desto intensiver wird kommuniziert und bisweilen auch ordentlich ge schrien. Dann sind da noch die „Un belehrbaren“, die nicht einmal dann auf die Seite gehen, wenn ich schon ordentlich mit ihnen geschrien habe; da hilft nur noch eins: zunächst einmal im Stechschritt nebeneinander her gehen, den anderen taxieren, ihm ordentlich drohen und versuchen, dabei die Führerschaft zu übernehmen und ihn räumlich abzudrängen, bis dieser 22 WEIDWERK 9 | 2015 ww0915_s2023.indd 22 21.08.2015 17:42:16 abspringt. Sollte dies jedoch nicht ge lingen, ist der Pakt besiegelt; es wird gekämpft – um die Ehre und ums Leben – alles oder nichts, koste es, was es wolle! Ein Fehler kostet das Leben . . . Ein Hirsch verliert in der Hoch brunft etwa 5 kg an Körpergewicht pro Tag, manchmal sogar noch mehr. Ganz schlimm ist es dann nach der Hoch brunft: Die starken älteren Hirsche sind nach Wochen ohne Nahrungsaufnahme nervlich am Ende, körperlich aus gelaugt, die Konkurrenz ist mittlerweile ebenso gereizt und bitterböse. Die alten Hirsche haben in der Brunft bereits beinahe ein Drittel ihres Körperge wichts eingebüßt und sind jetzt voll mit Testosteron und Adrenalin, was be kanntlich die rationale Entscheidungs findung erschwert. Sie haben einen unbeugsamen Willen, wollen gegenüber Gegnern bestehen und versuchen, die wenigen brunftigen Hirschtiere zusammenzuhalten, die bereits Man gelware und daher noch begehrter geworden sind als noch in der Hoch brunft. Manche mutieren zu gefähr lichen Killermaschinen . . . Wie ein Sechzigjähriger? Am Morgen nach einer anstrengenden Brunftnacht mit vielen Scharmützeln und ebenso vielen abgespulten Kilo metern, um das Kahlwild zusammen zuhalten, erscheint plötzlich, bereits am Wechsel in den Einstand, ein reifer Hirsch und provoziert mich. Und dann passiert es – entgegen jeder Vernunft, entgegen jeder Strategie, entgegen jeder vernünftigen Notwendigkeit. Mit eiser nem Willen treffe ich im Zorn und mit Schlaf- und Nahrungsentzug jene Ent scheidung „aus dem Bauch heraus“, die mein Schicksal verändern wird. Ich drehe mich um und stelle mich dem ungleichen Kampf. Im 14. Lebensjahr bin ich etwa so alt wie ein 60-jähriger Mann, eigentlich im besten Alter: voller Lebenserfahrung und körperlich topfit, bin ich auf dem Höhepunkt meines Lebens; ich habe vieles gesehen und erfahren, habe viele Jahre überlebt, habe das Feindver meidungsverhalten perfektioniert und gelernt, nicht mehr nur mit körper licher Kraft, sondern mit Strategie und Er fahrung an Dinge heranzugehen. Ich kenne meinen Lebensraum genau, weiß bis ins kleinste Detail über die idealen Sommer- und Wintereinstände Bescheid, kenne die Stärken und Schwä chen meiner Nebenbuhler, trete erst später in die Brunft ein, stehe meinen Mann nur dann, wenn es auch wirklich Sinn macht, beginne nicht schon drei oder vier Wochen vor dem Brunftigwer den der Tiere mit dem Hungern und kämpfe nicht mehr um jeden Preis und nicht mehr mit jedem – was mich gänz lich vom 10-jährigen Hirsch unterschei det. Dieser ist vergleichbar mit einem etwa 40-jährigen Mann und im Be wusstsein, so stark wie ein 20-Jähriger zu sein, nur mit mehr Lebenserfahrung. Er stellt den Anspruch, König zu wer den, aber ich will es bleiben und werde mich durchsetzen! Wenn, ja wenn ich nur keinen Fehler mache . . . Es kommt zum Kampf! Es ist so weit. Ich, der König, bin völlig am Ende meiner Nervenstärke ange langt und aufs Äußerste gereizt. Ich habe die ganze Nacht junge Hirsche von meinen Tieren weggejagt, mit eini gen gerauft und diese abgeschlagen, einige Blessuren und leichte Stich verletzungen aus manchen Kämpfen davongetragen. Auch die Zerrungen und Verstauchungen am ganzen Körper sind kein Grund zum Frohlocken, und jetzt ziehe ich hinter meinen Tieren in Richtung Tageseinstand. Nichts wird es mit einem entspannten Brunftmorgen und einer kurzen Ruhepause für die Hirschgesellschaft – denn diesen Ein dringling, der überhaupt alles infrage stellt und sich respektlos und aggressiv gebärdet, so als gäbe es mich gar nicht, kann ich nicht tolerieren! Ich drehe mich um und lasse das Kahlwild allein in den Einstand weiterziehen. Jetzt will ich nur eines: diesem Aggressor ordentlich die Leviten lesen und, wenn es sein muss, eine Lektion erteilen; ihn für immer verjagen! Der Platzhirsch stürmt zurück, überlegt nicht wie in den Jahren zuvor, wo die strategisch günstigste Stelle für den Ausgangspunkt eines Kampfes wäre, wo er hinflüchten und abspringen könnte, sollte er unterliegen. Er taxiert den Gegner nicht, sondern prescht voller Zorn nach hinten – weg von den Tieren – auf den Jüngling zu, das Haupt zum Kampf gesenkt, die langen spitzen Enden wie Messer auf den Gegner gerichtet. Aber Zorn ist ein schlechter Ratgeber . . . Das Finale dieser atemberaubenden Fotostory finden Sie in der nächsten Ausgabe! 23 WEIDWERK 9 | 2015 ww0915_s2023.indd 23 21.08.2015 17:42:20
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