Zu Liberalismus und Landwirtschaft

Neue Zürcher Zeitung vom 14.01.2016, Seite 11:
TRIBÜNE
Zu Liberalismus und Landwirtschaft
Gastkommentar
von Francis Egger (SBV)
Im Artikel «Die fatalen Folgen der verfehlten Schweizer Landwirtschaftspolitik» (NZZ 11.
12. 15) über die fatalen Folgen der Versäumnisse der Schweizer Agrarpolitik stimmt die NZZ
in das alte Lied des Liberalismus ein: stets bereit, eine Lektion zu erteilen, ohne zu
differenzieren. Die Schweizer Landwirtschaft, die bloss 55 Prozent unserer Lebensmittel
produziert (den Rest importieren wir), ist mit hohen gesellschaftlichen Ansprüchen
konfrontiert, zum Beispiel beim Tierwohl, beim Umwelt- oder Landschaftsschutz. In vielen
anderen Ländern wird die Schweizer Agrarpolitik zu Recht als Erfolgsstory wahrgenommen.
Behördenvertreter aus verschiedenen asiatischen Ländern waren schon in der Schweiz, um
sich über das Prinzip des ökologischen Leistungsnachweises, verbunden mit staatlicher
Unterstützung für die Landwirtschaftsbetriebe in Form von Direktzahlungen, zu informieren.
Ja, die Produzentenpreise in der Schweiz sind 40 Prozent höher als die Preise auf den
Weltmärkten. Die Differenz der durchschnittlichen Einkommen dürfte jedoch weit höher
ausfallen. Bei den Konsumentenpreisen ist es noch extremer. Wieso kritisiert der Artikel
einzig die Landwirtschaft und befasst sich nicht mit der ganzen Branche, insbesondere dem
Duopol im Lebensmittelhandel? Ein Duopol, das notabene sein Marketing auf einer
idealisierten inländischen Landwirtschaft aufbaut. Selbst wenn die Schweizer Bauern ihren
Brotweizen gratis an die Mühle liefern würden, wäre der Konsumentenpreis für Brot in der
Schweiz um 250 Prozent höher als in Deutschland.
Und dasselbe gilt für viele weitere Produkte. Die Hauptmehrkosten fallen in den
nachgelagerten Stufen an, die aber nie jemand für ihre hohen Kosten und Margen kritisiert.
Eine vollständige Liberalisierung der Schweizer Landwirtschaft würde – unter Annahme einer
vollständigen Weitergabe der Preisreduktionen – die Konsumentenpreise um etwa 15 Prozent
senken. Die Schweiz hätte weiterhin hohe Preise. Will man in der Schweiz gleich viel für das
Brot bezahlen wie in Deutschland, wären diverse Anpassungen erforderlich: unter anderem
eine Senkung der Löhne für Chauffeure, Techniker, Händler, Marketingverantwortliche.
Weiter braucht es einen Abbau des Tierschutzgesetzes, die Aufhebung der Einschränkungen
bezüglich Maximalbeständen und eine Reduktion des Anteils an Biodiversitäts-Förderflächen.
Und die Hälfte der Landwirtschaftsbetriebe, vor allem die aufwendigen im Berggebiet, müsste
über die Klinge springen. Was wäre unter dem Strich der Gewinn?
Es gibt nur wenige Länder, in denen die Bevölkerung gemessen an ihrem Einkommen
weniger für Lebensmittel ausgibt als in der Schweiz. Wir leben in einem Land, in dem mehr
Geld in die Versicherungen fliesst als ins Essen. Was die Ausgaben der öffentlichen Hand für
die Landwirtschaft betrifft, so sind diese seit dem Jahr 2000 stabil und nominal gesunken.
Nimmt man die ganze öffentliche Hand zusammen, so fliessen 2,9 Prozent in den
Primärsektor. Ist dies zu viel, um 55 Prozent unseres Lebensmittelbedarfs sicherzustellen?
Um unsere Landschaft zu erhalten, die ein zentraler Tourismusmagnet unseres Landes ist?
Um die Beschäftigung in den abgelegenen Alpentälern aufrechtzuerhalten?
Was ist die Alternative? Wären Staatsangestellte bereit, für 48 000 Franken pro Jahr zu
arbeiten (das ist der durchschnittliche Verdienst einer Familienarbeitskraft in der Schweizer
Landwirtschaft), und dies während mehr als 50 Stunden pro Woche? Und will wirklich eine
Mehrheit der Schweizer Bevölkerung voll auf importierte Lebensmittel setzen?
Damit sind wir wieder beim alten Lied des Liberalismus, der leider höchstens einen
Tunnelblick auf das Ganze ermöglicht. Wer sich dort befindet, sollte weitergehen, den Tunnel
hinter sich lassen und sich umschauen.
Francis Egger ist Leiter des Departements Wirtschaft und Politik sowie Mitglied der
Geschäftsleitung des Schweizer Bauernverbands (SBV).