A rts & Lettres Christoph König Die „Rose“ aus der Finsternis Zu Stéphane Mallarmés Gedicht „Surgi de la croupe“ Für Jean Bollack Surgi de la croupe1 (1887) Surgi de la croupe et du bond D’une verrerie éphémère Sans fleurir la veillée amère Le col ignoré s’interrompt. Je crois bien que deux bouches n’ont Bu, ni son amant ni ma mère, Jamais à la même Chimère Moi, sylphe de ce froid plafond! Le pur vase d’aucun breuvage Que l’inexhaustible veuvage Agonise mais ne consent, Naïf baiser des plus funèbres! À rien expirer annonçant Une rose dans les ténèbres. Aufgestiegen aus der Kruppe Aufgestiegen aus der Kruppe und dem Sprung Ein Glaswerk ohne Dauer, Ohne die bittere Wacht zu erblumen, Unterbricht sich der ignorierte Hals. Ich glaube wohl, dass zwei Münder nie, Weder ihr Liebhaber noch meine Mutter, an derselben Chimäre getrunken haben, Ich, Sylphe dieser kalten Decke! 105 A rts & Lettres Die reine Vase keines Gebräus, außer der unausschöpflichen Witwenschaft, erstarrt, aber stimmt nicht zu, Kindlicher Kuss von tiefster Schwärze Durch nicht Ausgehauchtes verkündend Eine Rose in der Finsternis. (Aus dem Französischen von Christoph König) Die Wörter ändern ihren Sinn. Das Bild im Wort weicht seiner abstrakteren Seite. Beides – Bild und Abstraktion – sind in der französischen Lexik enger verbunden als im Deutschen, wo man sogleich konkreter empfindet. Der „Hintern“, sei es einer Frau oder eines Pferdes: „la croupe“, ein sinnlicher Körperteil also, ist zusammengefügt mit einer männlichen Bewegung; im Deutschen geht die Übersetzung als „Sprung“ mit „Bespringen“ zusammen. Sie beide charakterisieren die gläserne Konstruktion, der sie syntaktisch untergeordnet sind. Ihr gehören sie an. Die Bewegung („du bond“) charakterisiert also nicht wie eine Metapher den Teil einer Vase, sondern sie ist dieser Teil, der den ruhenden ergänzt und in seinem Sinn verändert, hier und weiterhin im Gedicht. Die Vase ist potenziell ein sexueller Akt im neuen Wortsinn. Als Figur, wenn auch vorerst flüchtig, kann sie später in reiner, zeitloser Form aufgegriffen und ‚verbessert‘ werden – eine Grundlage ist in der Form, der Gestalt des Aktes gelegt. Im Sonett entfaltet und kreuzt sich, strophenweise, das weiterführende Argument. Der Hals der Vase ist im Grunde durch die Bewegung („surgi“) gemeint. Auch er ein Körperteil. Eine Transformation hat stattgefunden. Der Hals wirkt als ein Engpass. Der Raum, in dem sich alles ereignet, wird sichtbar: es ist ein Raum der Wahrnehmung; paradoxerweise tritt der Hals gerade als fehlender, ungekannter, nicht wahrgenommener auf. Es gibt ihn vorerst nicht. Doch führt die Unterscheidung zwischen „ignorieren“ und „unterbrechen“ weiter. Der Hals reflektiert seinen Aufstieg, der sich in einem nicht zur Blüte gebrachten Nichts vollendet. Das Fehlen des Halses und der Blumen kommen zur Deckung. Die Reflexion ist – kraft der Formulierung des sich Unterbrechens – sprachlicher Natur. Die Unterbrechung erkennt im „sans“ ihre Bedingung. Das „Übergangene“ oder „Ignorierte“ wird in der Benennung („sans“) zu etwas Bewusstem. Die Reflexion als Potenz kommt dabei schon von der „verrerie éphémère“ her – im „Glas“ („verre“) ist der „Vers“ zu hören. Entscheidend ist der Übergang von „ignoré“ zu „s’interrompt“. Die verdoppelnde Negation eines Nichts wird schöpferisch. Die Unterbrechung ist das bewusste Beharren auf dem Nichts. Sie prägt als Bedingung des Neuen das Gedicht. Jean Bollack betont – bezogen auf das Gedicht „Le vierge, le vivace“ – den sprachlichen Charakter von Mallarmés Spekulation: „Die Anerkennung des Nichts verleiht die Kraft, sich von falschen Vergöttlichungen loszusagen; sie betreffen nicht weni106 A rts & Lettres ger die poetische oder poetisierende Sprache, die an die Wiedergabe der Realität gebunden bleibt, und damit auch die vorherrschende Tradition der Romantik. Das Nichts erlaubt [] den vermittelten Übergang zu einer neuen Symbolisierung, in welcher sich die Resemantisierung zurechtfindet“.2 In der dem Negieren verpflichteten Resemantisierung wird am Ende die Rose des Gedichts entstehen. Die Vase schafft keine Blumen (das „fleurir“ wird als sprachliche Möglichkeit: etwas als Blume zu schaffen, im „Erblumen“ gewissermaßen, in der deutschen Lyrik, bei Rilke zuerst, eine große Rolle spielen3); und die Vase enthält auch kein Getränk. Das Wort vom „Glaswerk“ ist abstrakt genug, um beides, das Fehlen des „erblumten“ Halses und des Wassers, zu ermöglichen. Nun tritt, in der zweiten Strophe, ein Sprecher auf: Das Ich ist ein Ungeborenes, das über seine fehlende Herkunft nachdenkt. Man befindet sich bereits in einem zweiten Kreis der Inexistenz. Zunächst hat es das Glas nicht auf Dauer gegeben. Eine Eintagsfliege, denn Mallarmé mag das Wort „éphémère“ von seiner griechischen Bedeutung her interpretiert haben, als ein „für den Tag“. Da des weiteren das Glas ohne Hals unfruchtbar bleiben musste, kam es schließlich nicht zum Liebesakt: Er hätte darin bestanden, dass zwei Münder von dem, was es nicht geben konnte („Chimère“): aus der Vase, wie aus einem Brunnen tranken. Das monströse Gebilde nimmt die Ungestalt (ephemer im vollen Sinn, als mythisches Gebilde) auf, wie auch die Körperteile erneuert werden; sie gehören nun der Mutter und ihrem Liebhaber, dem Vater des „Ich“, das nur als ein Geist an der kalten, toten Zimmerdecke spricht, als Produkt einer Vereinigung, die nie stattgefunden hat. „Chimère“ und „éphémère“ verbindet nicht nur der Reim, die Mutter („mère“) wird gerade in der hier vorbereiteten Silbenzerlegung sichtbar. Das Wort nimmt seinen Sinn zurück. Auch die Mutter eines toten Kindes ist keine – sich begattende – Mutter.4 Alles löst sich auf, die Vase ist zu einem monströsen Gebilde geworden, das im vollen Sinn Ungestalt ist. Die Vase erweist sich im Lauf des Gedichts als rein, weil sie keinen anderen Inhalt hat als die Unendlichkeit der Trennung: „l’inexhaustible veuvage“. Das „breuvage“ führt von der Apotheke zur Zauberei, die das Nichts schöpft. Eine ständige Agonie folgt daraus („Le pur vase [...] Agonise“, V. 9-11), doch stimmt die Vase ihrem eigenen Nichtsein nicht zu. Diese Verneinung, die schon der Hals aussprach, ist stärker als das Nichts. Davon zeugt das zweite, engführende Terzett des Sonetts. „Kindlicher Kuss von tiefster Schwärze“ (V. 12): Das „Naïf“ meint das lateinische „nativus“ und ist von der Geburt her gedacht, die entweder, im absoluten superlativischen Sinn „schwarz“, Zeugung und Gezeugtes zusammenzieht. Oder der Kuss ist nunmehr zwar ein Geschöpf tiefster Trauer, aber als solches frei. Der naive, kindliche Kuss hätte die traurigen Küsse zu Eltern. Indem der kindliche Mund nicht spricht – „expirer“ ist pneumatisch zu deuten, gegen die theologische Inspiration – kommt es zu dem Wunder in der Sprache. Das Nichtsprechen ist die Verneinung. Bezeichnenderweise zieht sich das „Ich“ in den Terzetten zurück, die Reflexion geht auf eine andere Instanz über. Die Vase verkündet, gerade aufgrund des nicht Ausgehauchten, in der Finsternis, die Geburt einer Rose. Jean-Pierre 107 A rts & Lettres Richard möchte dem widersprechen: „Pour que le vase puisse expirer, souffler hors de lui une rose, il faut d’abord qu’il consente à ‚expirer‘, à tout simplement disparaître. Or il ne se résigne pas, semble-t-il, à cette disparition. Il ne veut pas d’une mort qui serait pourtant ‚l’annonce‘ d’une vie, il n’accepte pas un néant qui le conduirait sans doute à renaître sous la forme familière d’un feu nucléaire, d’un diamant épanoui, d’une ‚rose dans les ténèbres‘“.5 Entgegen Richards Ablehnung der Vorstellung, das Nichts werde bei Mallarmé produktiv (sein Kuss gelte der Nacht und gebiere die Rose), hat das Wort „Rose“ gerade kraft der verneinenden Bewegungen6 im Gedicht seine sinnliche Bedeutung erweitert, ganz im Sinn jener Bewegungen. Das Wort ist zur Rose des Gedichts geworden: zur Poesie, die zu verkünden ist. 1 2 3 4 5 6 108 Nr. II des „Tryptichon“, in: Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes, édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal, Paris, Gallimard, 1998 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 1, 42. Jean Bollack, „Vom Hinauswachsen der Dichtung. Über Mallarmés Sonett ‚Le vierge, le vivace, et le bel aujourd’hui‘“, in: Kultur & Gespenster, 10, 2010, 149-164. Vgl. Christoph König, „Rilkes Leser – Zur Theorie und Kritik von Interpretationskonflikten im Gedichtzyklus ‚Die Sonette an Orpheus‘“, in: Jürgen Paul Schwindt, Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009, 227-254. Richard, Jean-Pierre, L’univers imaginaire de Mallarmé, Paris, Ed. du Seuil, 1961, nimmt das „chimère“ als geistig und denkt daran, dass die Vereinigung zu sinnlich war, als dass sie ein ideales Geschöpf hätte zeugen können (ibid.: 259). Cf. allgemein Gerhard Regn, Konflikt der Interpretationen. Sinnrätsel und Suggestion in der Lyrik Mallarmés, München, Fink, 1978. Richard, op. cit., 260. Nicht wie Fritz Usinger 1944, in Vertretung anderer und ins Gegenteil übergehend, übersetzt: „Ihr Atem trüge, was verspricht / Aus Finsternissen eine Rose“ (69).
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