Schwindel aus psychiatrischer Sicht

UNIVERSITÄRE PSYCHIATRISCHE DIENSTE BERN (UPD)
U n i v e r s i t ä t s k l i n k f ü r P s yc h i a t r i e u n d
P s yc h o t h e r a p i e
Schwindel aus psychiatrischer Sicht
PD Dr. med. Sebastian Walther
Chefarzt und stv. Direktor
“mir ist sturm”
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54-jähriger Mann
Schwindel seit 3 Monaten
Schwindel kommt und geht, tritt täglich auf
Permanente Gangunsicherheit
Schwindel verstärkt sich beim Stehen, Gehen in Menschenmengen,
Rolltreppenfahren
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Psychiatrische Ursachen
für Schwindel
 Angststörungen
 Soziale Phobie
 Agoraphobie
 Panikstörung
 Angst im Kontext somatischer Erkrankungen (Herzerkrankungen,
Atemwegserkrankungen, Parkinson, ...)
 Somatisierungsstörung
 Hypochondrie
 Depressionen
 Entzugssyndrome
 Unerwünschte Arzneimittelwirkung psychiatrischer Medikation
Differentialdiagnostik
Schwindel
ANAMNESE ist entscheidend !
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Typische Situationen (Umwelt, aktueller Zustand)
Typische Gedanken/Annahmen
Typische Emotionen bei Schwindel (Angst, Hilflosigkeit)
Hinweise auf Funktionalität
 Woran hindert der Schwindel?
 Wie lebt man mit Schwindel?
Beispiel soziale Phobie
Lebenszeitprävalenz 3%
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Typische Situation:
Vortrag, Essen im Restaurant, sich in der Gruppe zu Wort melden
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Typische Kognition:
„ich verhalte mich inakzeptabel“ – „andere werden mich negativ beurteilen“
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Typische Emotion:
Angst, Scham
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Typische Körpersensationen:
Erröten, Schwitzen, Tremor
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Typisches Verhalten:
Vermeidung, Sicherheitsverhalten, Flucht
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Behandlung
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SSRI, SSNRI (Evidenzlevel A)
Kognitive Verhaltenstherapie (Evidenzlevel A)
Beispiel Agoraphobie
Lebenszeitprävalenz 3%
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Typische Situation:
Menschenmenge, ÖV, Supermarktkasse, Theater/Kino
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Typische Kognition:
„ich werde ohnmächtig“, „ich werde verrückt“
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Typische Emotion:
Angst, Scham
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Typische Körpersensationen:
Hyperventilation, Palpitationen, Schwitzen,
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Typisches Verhalten:
Vermeidung, Sicherheitsverhalten (Partner)
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Behandlung
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Kognitive Verhaltenstherapie (Evidenzlevel A)
SSRI (Evidenzlevel A)
Beispiel Panikstörung
Lebenszeitprävalenz 1%
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Typische Situation:
Keine, aber plötzliche, unkontrollierbare Intensität
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Typische Kognition:
Katastrophisierende Fehlinterpretationen (Herzinfarkt, Ohnmacht)
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Typische Emotion:
Todesangst
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Typische Körpersensationen:
Thorakales Engegefühl, Atemnot, Hyperventilation, Parästhesien
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Typisches Verhalten:
Vermeidung, Angst vor der Angst
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Behandlung
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Kognitive Verhaltenstherapie (Evidenzlevel A)
SSRI (Evidenzlevel A)
Beispiel
Somatisierungsstörung
Lebenszeitprävalenz 0.5%
 Chronifizierte wechselnde Beschwerden, mehrere Organsysteme
betroffen
 Hohe Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
 Typische Körpersensationen:
Hyperästhesien, Globusgefühl, Amnesien, Bauchschmerzen, Atembeschwerden,
Schwächen, Kopfschmerzen
 Typisches Verhalten:
Krankheitsverhalten, Rückversicherung
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Behandlung
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Kognitive Verhaltenstherapie (Evidenzlevel A/B)
Kollaborative Primärversorgung (Evidenzlevel A/B)
SSRI (Evidenzlevel B/C)
Beispiel Hypochondrie
Lebenszeitprävalenz 0.5%
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Starke Selbstbeobachtung, Angst vor schwerer Erkrankung
Eigentliche körperliche Beschwerden sind nebensächlich
Typische Körpersensationen:
Schwindel, Palpitationen, Magen-Darm-Beschwerden
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Typische Gedanken:
 Körperliche Beschwerden sind immer Zeichen einer Erkrankung.
 Wenn Medi nicht hilft, muss es eine schwere Erkrankung sein.
 Ärzte übersehen häufig ernste Erkrankungen
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Typisches Verhalten:
 Rückversicherung beim Arzt, Rückversicherung im Internet, selbst durchgeführte
Körperkontrollen; unauffälliges Gesundheitsverhalten
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Behandlung
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Kognitive Verhaltenstherapie (Evidenzlevel A)
SSRI (Evidenzlevel C)
Beispiel Depression
Lebenszeitprävalenz 16%
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Hoffnungs-/Freudlosigkeit, mangelnde Energie, Schuldgefühle,
psychomotorische Hemmung, Ermüdbarkeit, Suizidgedanken
Dauer über Wochen-Monate
körperliche Symptome ohne situativen Auslöser
Typische Körpersensationen:
Globusgefühl, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen,
Appetitstörung, Schlafstörung
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Verhalten
Vermeidung, sozialer Rückzug
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Behandlung
Kognitive Verhaltenstherapie oder interpersonelle Psychotherapie (Evidenzlevel A)
SSRI (Evidenzlevel A)
Beispiel Nebenwirkung
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Orthostatische Dysregulation
Schwindel
Zeitverlauf beachten
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Antidepressiva, v.a. TCA, Mirtazapin, Trazodon
Antipsychotika, v.a. neue Antipsychotika, niedrigpotente Antipsychotika
Phasenprophylaktika, v.a. Carbamazepin, Lamotrigin
Hypnotika vom Benzodiazepintyp
Antidementiva
Fazit Schwindel aus
psychiatrischer Sicht
 Anamnese zu Situation, Kognition, Funktion
 Differentialdiagnosen:
 Angststörung
 Depression
 Somatisierungsstörung
 Nebenwirkung
 Behandlung
 Kognitive Verhaltenstherapie
 Antidepressiva (Cave: Schwindel als NW)
 Bitte keine Benzodiazepine !
 Fachärztinnen Psychiatrie und Psychotherapie