Übersehen Sie den Charcot-Fuß nicht!

FORTBILDUNG
SEMINAR
Geschwollen, gerötet, überwärmt, aber nicht schmerzhaft
Übersehen Sie den
Charcot-Fuß nicht!
MMW-Fortbildungsinitiative:
Diabetologie für den Hausarzt
Regelmäßiger Sonderteil der
MMW-Fortschritte der Medizin
R . Lobmann
Herausgeber:
Fachkommission Diabetes in Bayern –
Landesverband der Deutschen Dia­betesGesellschaft,
Dr. med. Andreas Liebl (1. Vorsitzender)
m&i-Fachklinik Bad Heilbrunn
Wörnerweg 30, D-83670 Bad Heilbrunn
Der Charcot-Fuß ist eine potenziell verheerende Komplikation des Dia­
betes mellitus, die im ungünstigen Verlauf zur Amputation führen kann.
Daher ist es wichtig, dass Sie bei entsprechender Klinik (Schwellung, Rötung, Überwärmung) frühzeitig daran denken. Bei den Betroffenen selbst
ist das Krankheitsempfinden bei dem nicht schmerzhaften und wenig bedrohlich erscheinenden lokalen Befund oft nur mäßig ausgeprägt.
Prof. Dr. med.
Ralf Lobmann
Klinik für Endokrinologie, Diabetologie
und Geriatrie,
Klinikum Stuttgart –
Bad Cannstatt
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Die diabetisch-neuropathische Osteoarthropathie – bekannt auch als
Charcot-Fuß – wurde, anders als zu vermuten, nicht erstmals durch den Namensgeber Jean-Martin Charcot beschrieben, sondern 1831 durch J. K.
Mitchell im Rahmen einer Tuberkulose
mit Rückenmarksschädigung. Erst 1868
beschrieb Charcot dies bei einem Patienten mit Syphilis (Tabes dorsalis) und
1883 erstmals bei einem Patienten mit
Diabetes mellitus. 1936 wurde durch W.
R. Jordan die endgültige Assoziation mit
dem Diabetes hergestellt [1].
Die diabetisch-neuropathische Osteo­
arthropathie (DNOAP) ist eine aufgrund der Neuropathie schmerzfreie,
nicht infektiöse Zerstörung von
Knochen und Gelenken. Bereits J.-M.
Charcot erkannte die grundliegenden
Prozesse „massive Gelenkdestruktion,
Subluxation, Dislokation und Entzündung“.
MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (13) Redaktion:
Priv.-Doz. Dr. M. Hummel, Rosenheim
(Koor­dination); Prof. Dr. L. Schaaf, München
(wissenschaftliche Leitung).
Häufig nicht erkannt
Der Charcot-Fuß ist eine häufig übersehene Komplikation des Diabetes. Insbesondere Patienten mit einem länger bestehenden, schlecht eingestellten Diabetes mit peripherer sensomotorischer
und/oder autonomer Neuropathie sind
häufig betroffen.
Die typische Osteoarthropathie
kommt oft bei jüngeren Patienten vor
(40–55 Jahre), wobei es scheint, dass
Männer etwas häufiger als Frauen betroffen sind. Das Wissen um diese po-
tenziell deletäre Kompli­kation des Diabetes ist daher sehr wichtig.
Infektion, Erysipel oder
Charcot-Fuß?
Der Charcot-Fuß imponiert bereits in
der Blickdiagnose durch eine typische
reaktive Hyperämie mit deutlicher
Schwellung und Destruktion der knöchernen Strukturen mit Aufhebung des
Fußgewölbes (Plattfuß) durch Zusammensinterung des Mittelfußes [2, 3, 5].
Ein akuter Charcot-Fuß kann zum Teil
Abbildung 1
Trauma
Neuropathie
Erhöhte plantare Drücke
Verstärkte Kraftwirkung
Dislokation
(Mikro-)Frakturen
Pro-inflammatorische
Zytokine (TNFα, Interleukin-1β)
Osteopenie
Osteoklastenaktivierung
RANKL
NF-κB
Inflammation
Abb. 1 Über auslösende Traumata bei bestehender Neuropathie und Aktivierung des
NF-κB kommt es beim akuten Charcot-Fuß zur Zerstörung des Knochens.
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Shunts (direkte Gefäßverbindungen
zwischen kleinen Arterien und Venen)
und eine Gefäßerweiterung (Vasodila­
tation). Der Blutfluss der unteren Extremität ist damit erhöht, und dies korreliert auch mit einer erhöhten Aktivität
der die Knochensubstanz abbauenden
Osteoklasten. Eine dadurch vermehrte
Demineralisation des Fußes erhöht die
Anfälligkeit für Subluxationen, Frak­
turen und Einbrüche des Mittelfußgewölbes.
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©© R. Lobmann
b
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Abb. 2 Klinisches Bild des Charcot-Fußes: Der rechte Fuß ist geschwollen und be­
sonders im Mittelfußbereich sowohl an der Innen- als auch an der Außenseite deutlich
gerötet und überwärmt (Hauttemperatur mit einfachem Stirnthermometer gemessen
36 °C, auf der Gegenseite 29,8 °C). Eine Fußdeformität oder ein Ulkus bestanden nicht.
Das Mittelfußgewölbe ist zusammengesintert (Plattfuß). Das Vibrationsempfinden betrug beidseits 0/8, das Monofilament (10 g) konnte nicht wahrgenommen werden.
schwer von einer Infektion oder einem
Erysipel unterschieden werden.
Weitere Differenzialdiagnosen sind
die Osteomyelitis, ein Abszess, eine neuropathische Fraktur oder eine tiefe Beinvenenthrombose. Insbesondere die Differenzialdiagnose zur Osteomyelitis ist
relevant und im klinischen Alltag oft
nicht einfach zu stellen [6].
Frühe Diagnose und frühe Therapie
sind entscheidend
Die frühzeitige Diagnose sowie die
prompte Therapieeinleitung sind entscheidend, um einen funktional belastbaren Fuß zu erhalten und eine mögliche Amputation zu vermeiden. Die Patienten stellen sich aber häufig erst spät
vor, da aufgrund der Neuropathie die
Gewebs- und Knochenveränderungen
schmerzarm ab­laufen.
Die Angaben zur Prävalenz schwanken zwischen 0,08% in der Gesamt-Diabetes-Population und 30% in Hochrisikogruppen. Aktuelle Daten der Arbeitsgemeinschaft Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zeigen, dass in
spezialisierten Zentren in bis zu 14% der
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Fälle eine Charcot-Veränderung mit dia­
gnostiziert werden konnte [3, 4, 7, 8].
Wie entsteht die diabetischneuropathische Osteoarthropathie?
Die DNOAP ist eine Folgeerkrankung
eines langjährigen Diabetes mellitus, die
auf dem Boden einer diabetischen Polyneuropathie entsteht und diese auch als
Voraussetzung für ihre Entstehung benötigt, d. h. ohne Poly­neuropathie keine
Charcot-Osteoarthropathie.
Pathophysiologisch liegen neurovaskuläre sowie neurotraumatische Komponenten zugrunde. Aktuelle Forschungen zeigen, dass – ausgehend von der
Neuropathie – Kaskaden der Zytokinaktivierung und Inflammation in Gang gesetzt werden, die zur Knochendestabilisierung führen.
Neurovaskuläre Komponente (nach
Charcot): Diese sieht die DNOAP als
Folge eines erhöhten peripheren Blutflusses durch die autonome Sympathektomie. Sie verursacht eine Störung der
normalen regulatorischen Prozesse des
Blutflusses, bedingt arteriovenöse
Neurotraumatische Komponente (nach
Volkmann): Sie beinhaltet eine durch
die sensomotorische Neuropathie bedingte kontinuierliche Fehlbelastung
mit repetitiven kleineren Traumata,
gefolgt von einer chronischen Destruk­
tion von Weichteil- und Knochenstrukturen. Diese Traumata führen zu intrakapsulären Schäden sowie Subluxationen und induzieren instabile Bänder
und Gelenke i. S. einer Gefügedilatation.
Der Verlust von schützenden sensorischen Informationen durch eine periphere Neuropathie erlaubt die fortgesetzte Belastung einer bereits frakturierten und geschädigten Extremität [7,
9, 10].
Aktuelle Theorien weisen dem KernTranskriptionsfaktor NF-κB, und dem
RANK/RANKL/OPG-Zytokininsystem
eine wichtige Rolle zu [RANKL = Receptor Activator of NF-κB Ligand]. Ge­
triggert durch eine Entzündung kommt
es zu einer vermehrten Exposition von
verschiedenen Faktoren, insbesondere
des Tumor-Nekrose-Faktors Alpha
(TNF­a lpha) und Interleukin-1-Beta, die
dann zu einer gesteigerten Ausschüttung von RANKL führt. RANKL und
eine durch diese erhöhte Aktivierung
von NF-κB bewirken eine vermehrte
Reifung von Osteoklasten (Abb. 1) [11,
12, 13, 14].
Klinik und Einteilung des
Charcot-Fußes
Die Verdachtsdiagnose einer DNOAP
stellt sich, wenn bei einem Patienten mit
diabetischer Neuropathie eine Schwellung und/oder Rötung sowie eine Überwärmung des Fußes, primär oft ohne
Schmerzen, vorliegen (Tab. 1, Abb. 2).
MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (13)
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Die vier Stadien der CharcotNeuroarthropathie
Stadium 0 (Inflammation), auch als
Prä-Stadium 1 definiert, ist charakterisiert durch ein Erythem, Ödem und die
Überhitzung bei noch fehlenden strukturellen Veränderungen. Im Röntgenbild sind noch keine Knochenveränderungen feststellbar, wobei bereits erste
Instabilitäten auftreten.
Stadium 1 (Developement) ist durch
die Knochenresorption und -fragmen­
tation, verbunden mit einer Gelenksdis­
lokation, gekennzeichnet. Schwellung,
Überwärmung und Rötung persistieren.
Erste radiologische Veränderungen im
Bereich der Gelenke, Debris-Formierung, ossäre Fragmentation oder Gelenkdysfunktionen sind nachweisbar.
Im Stadium 2 (Consolidation)
kommt es durch die gesteigerte Knochenaktivität zur Konsolidierung mit
Osteosklerose und Fusion der Knochendestruktionen. Feststellbar sind
die Absorption von kleinen Knochenfragmenten, die Fusion von Gelenken
und die Sklerosierung des Knochens.
Im Stadium 3 (Reconstruction) finden sich eine zunehmende Osteogenese
und eine progressive Knochenfusion.
Heilung und neue Knochenbildung gehen voran. Die Deformierungen, insbesondere Subluxationen und Dislokationen, sind nun permanent [2, 3, 5, 7].
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Diagnostik
Notwendig ist ein konventionelles Röntgenbild, um die sog. 5 D der radiologischen Manifestation der DNOAP (Tab.
2) zu beurteilen. Immer durchzuführen
ist auch ein MRT, weil das native Röntgenbild im Stadium 0 und im Übergang
zu 1 häufig noch nicht aussagekräftig ist.
Hier kommt das Magnetresonanzimaging zum Tragen, das bereits im Sta­
dium 0 erste pathognomonische Zeichen
des Charcot-Fußes aufzeigen kann. Im
MRT zeigen sich ligamentäre Disruptionen, kortikale Destruktionen, Gelenkdeformitäten sowie eine Signalanhebung im Sinne eines Knochenödems
(Abb. 3a). Somit kann es die CharcotNeuroarthropathie von vorübergehenden regionalen osteoporotischen Veränderungen differenzieren [3, 15].
MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (13) Ein PET-CT kann die anatomischen
Lokalisationen besser hervorheben und
ist insbesondere in der Differenzialdia­
gnostik zur Osteomyelitis indiziert. Diese kann schwierig sein, wenn ein Charcot-Fuß kombiniert mit einem plantaren
Ulkus auftritt. Alternativ kann eine Knochenszintigrafie erwogen werden [3, 16].
Konservative Therapie
der akuten DNOAP
In der Akutphase ist es das Ziel, die Progression einzudämmen sowie weitere
Fußdeformitäten und folgende Fußulzera zu vermeiden. Die Krankheitsaktivität wird anhand der Rötung und Schwellung sowie der Hauttemperatur beurteilt,
wobei diese im Vergleich zur nicht betroffenen Seite einen Temperaturunterschied von max. 2 °C aufweisen sollte.
Basis der Therapie ist die rasche und
konsequente Druckentlastung des Fußes
mittels passagerer Immobilisation oder
protektivem Gips (Total Contact Cast)
bzw. Orthese (z. B. VACO®ped Diabetic),
bis die Akutphase abgeklungen ist (dies
kann Monate dauern und erfordert von
Patient und Diabetesteam viel Geduld).
Normalerweise kann nach acht bis zwölf
Wochen auf einen entfernbaren Walker
umgestellt werden, wobei gerade bei
konfektionierten Orthesen mit einer
Therapiedauer von vier bis sechs Monaten gerechnet werden muss. Sofern ein
Total Contact Cast zur Anwendung
kommt, ist dieser alle ein bis zwei Wochen zu wechseln, um Nebenwirkungen
(Schwellungen und Hautirritationen,
kritisch beim gefühllosen Bein) auszuschließen.
Nach ausreichender Entlastung des
Fußes kann, sobald die Temperaturdifferenz < 2 °C beträgt, eine langsame und
moderat zu steigernde Belastung des Fußes erfolgen [3, 7, 10, 17].
Bisphosphonate sind nicht empirisch
evaluiert und die aktuelle Studienlage
dazu ist heterogen. Die Bisphosphonate
sollen aber in den frühen Stadien der Behandlung die Remineralisierung des Fußes mit unterstützen. Insbesondere die
Temperaturerhöhung sowie die beim
Charcot-Fuß in 50% vorliegende
Schmerzhaftigkeit der Extremität bilden
sich damit deutlich zurück [3, 18].
Tabelle 1
Klinische Hinweise auf
eine akute diabetische
Neuroosteoarthropathie
Periphere oder autonome
Neuropathie mit
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−−
−−
−−
−−
−−
Rötung
Überwärmung
Schwellung
Schmerzen
Hauttemperaturdifferenz > 2 °C
Fußdeformitäten (meist erst nach
Wochen bis Monaten)
positivem MRT-Knochenmark­signal
in der Akutphase, später auch
konventionelles Röntgen positiv.
Tabelle 2
Die 5 D der radiologischen
Manifestation der DNOAP
1.Distension der Gelenke
2.Dislokation der Gelenke und
Knochen
3.Debris des Knochens
4.Desorganisation von Gelenken
und Knochen
5.Dichteerhöhung des Knochens
Die Akutphase ist nicht als Domäne
chirurgischer Interventionen zu sehen.
Diese sind vorzugsweise für Umstellungsosteotomien sowie für rekonstruktive Eingriffe indiziert.
Operative/orthopädische Therapie
Operative Verfahren werden notwendig,
wenn das konservative Therapieregime
nicht in der Lage ist, einen plantigraden,
belastbaren Fuß hervorzubringen. Knochenrekonstruktive Eingriffe sind erst in
der Konsolidierungs- und chronischen
Phase anzuraten und sollten spezialisierten Zentren vorbehalten sein. Lokale
Exostosen sollten nach Möglichkeit,
nach Abheilen des Ulkus, mit einer
Exostosenresektion behandelt werden.
Bei plantaren Ulzerationen und Exostosen stellt die Exostosenresektion durch
eine elliptische Ulkusumschneidung
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©© R. Lobmann
FORTBILDUNG _ SEMINAR
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Abb. 3 Ausgeprägter Charcot-Fuß mit Destruktionen der Mittelfußknochen. MRT
mit deutlichem Knochenmarködem im Bereich der Mittelfußknochen (a). Korrespondierende konventionelle Röntgenaufnahme (b).
eine Alternative dar. Bei schwerwiegenden Charcot-Fußdeformitäten sowie Instabilitäten kommen Arthrodesetechniken zum Einsatz. Der plantigrade, belastbare und mit einem Schuh bzw. einer
Orthese versorgbare Fuß ist dabei das
Ziel der Behandlung [17, 19].
Woran noch denken?
Nach der Diagnose Charcot-Fuß ist eine
Schulung des Patienten und des fami­
liären Umfeldes unabbdingbar, um das
Krankheitsbewusstsein zu stärken.
In Abhängigkeit von der Therapietreue und der Compliance des Patienten kann zwar eine Abheilung und Rekonstruktion des Fußes erzielt werden,
in der Regel können bestehende Deformierungen – ohne operative Maßnahmen – aber nicht mehr rückgängig gemacht werden. Daher ist ein entsprechender, extra weiter Schuh mit individuell gefertigten Einlagen notwendig.
Der Schuh muss als Stiefel gearbeitet
werden, um eine Stabilisierung im Knöchelbereich zu gewährleisten.
Die Behandlung erfordert ein beachtliches initiales Management und eine
spezialisierte Nachsorge, wie sie oft nur
in spezialisierten Zentren (z. B. den zertifizierten Einrichtungen zur Behandlung des diabetischen Fußes der DDG)
gewährleistet werden können [8].
Literatur unter mmw.de
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Ralf Lobmann
Ärztl. Direktor der Klinik für Endokrinologie,
Diabetologie und Geriatrie
Klinikum Stuttgart – Bad Cannstatt
Prießnitzweg 24, D-70374 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
Charcot-Fuß
Fazit für die Praxis
1.Der Charcot-Fuß ist eine poten­
ziell verheerende Komplikation des
Diabetes, die gerade in den Anfangsstadien leicht übersehen wird.
2. Die Behandlung erfordert ein bedachtes initiales Management und
eine spezielle Nachsorge. Eine konservative oder chirurgische Therapie
kann ggf. durch pharmakologische
Behandlungskonzepte (Bisphosphonat) ergänzt werden.
3. Außer der konsequenten Immobilisation (Total Contact Cast; Orthese)
steht derzeit kein kausaler Therapieansatz zur Verfügung.
4.Es sollte eine Mit- und Weiterbetreuung in dafür spezialisierten Einrichtungen erfolgen.
Keywords
A specific characteristic of the dia­
betic foot – the diabetic-neuropathic
osteoarthropathy
Charcot foot – osteoarthropathy –
diabetes – neuropathy
MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (13)