182_232_BIOsp_0216_- 14.03.16 07:28 Seite 215 215 Bioökonomie Warum der Diskurs lohnt HOLGER ZINKE B.R.A.I.N AG, ZWINGENBERG © Springer-Verlag 2016 ó Vor zehn Jahren fand in Berlin unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement der Kongress „Weiße Biotechnologie – Chancen für eine nachhaltige Chemieindustrie“ statt. Ende letzten Jahres organisierte der Bioökonomierat unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin ebenfalls in Berlin den „Global Bioeconomy Summit“ mit fast 1.000 Teilnehmern. Was bleibt, außer einer gestiegenen politischen Wertschätzung? Nach wie vor ist „Bioökonomie“ ein Spezialistenthema, obwohl weltweit über 40 Nationen Bioökonomiestrategien entwickelten. Auch die Bundesregierung hat eine nationale Forschungsstrategie und eine nationale Politikstrategie dazu durch Kabinettsbeschlüsse besiegelt, bemerkenswerterweise nicht als Förderinitiative eines einzelnen Ministeriums, sondern als ressortübergreifende Strategie der Bundesregierung. Trotz dieses selten gewordenen politischen Gestaltungswillens ist die Bioökonomie noch nicht, wie es angemessen wäre, auf den ersten Seiten der Strategien von Industrieunternehmen oder den Programmen der politischen Parteien oder gar Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) zu finden. Dies mag am langsamen Prozess oder an der Konkurrenz durch andere große Themen liegen, aber es gibt auch Kritik und Gegenwind. Lässt man einfache Nörgeleien an den Begrifflichkeiten beiseite, bleiben aus zwei Lagern ernst zu nehmende Gegenargumente: Die Industrie argumentiert, eine Umstellung der Rohstoffbasis auf erneuerbare Ressourcen sei erstens ökonomisch und zweitens mengenmäßig nicht zu schaffen. Ersteres trifft sicher derzeit zu, erst recht nach dem drastischen Verfall der Ölpreise im letzten Jahr. Der Bioökonomierat hat dies schon in seiner Ausarbeitung zur Chemieindustrie einige Jahre zuvor vorweggenommen, indem er ausführte, dass Investitionen in neue fossile Produktionsanlagen wahrscheinlicher BIOspektrum | 02.16 | 22. Jahrgang seien (weil kurz- und mittelfristig lohnender) als die breite Implementierung disruptiver biobasierter Verfahren und Produkte. Dies ignoriert gleichwohl den gesellschaftlichen Wandel, vor allem im Bewusstsein der Konsumenten, die als Bürger zunehmend Unwohlsein, bezüglich der etablierten fossilen Wirtschaft entwickeln. Dies mögen Minderheiten sein, die Kritik national unterschiedlich und auf unlogische Argumente bezogen, wie etwa bei „Bio“-Lebensmitteln. Aber es bleibt ein starker und wohl unumkehrbarer Trend, und die „Industrie“ tut gut daran, dies ernst zu nehmen. Bezeichnenderweise sind es eher die mittleren Unternehmen und weniger die Betreiber von world-scale-Anlagen, die dies tun und erhebliche wirtschaftliche Erfolge mit seit Jahren zweistelligen Wachstumsraten durch Nutzung biologischen Wissens erzielen, sei es Naturkosmetik, seien es biologische Wirkstoffe oder Enzyme. NGOs argumentieren, Bioökonomie sei ein primär von wirtschaftlichen Interessen geleiteter politischer Prozess, der Verwerfungen etwa bei den Lebensmittelpreisen, der Struktur der Landwirtschaft oder auch der internationalen Warenströme, zu Lasten der Entwicklungsländer induziert. Und es fehle ihr an demokratischer Legitimation und Kontrolle. Doch selbst, wenn derlei Einwände mitunter berechtigt sein mögen: Schon die unterschiedliche Genese und Ausgestaltung der nationalen Bioökonomiestrategien zeigt, dass hier keine neue Weltwirtschaftsordnung geschaffen wird, sondern nationale Lösungen gesucht werden, um die sicher konsensfähigen Ziele eines nachhaltigen Wirtschaftens unter Vermeidung von Verwerfungen zu erreichen. Bioökonomie ist nicht weniger als ein bedeutender Teil einer Transformation der Wirtschaftssysteme, wie sie etwa Klimaforscher immer wieder fordern. Die Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins zu Rohstoff-, Energie- und Klimathemen wird zwangsläufig Änderungen auch der Wirtschaftssysteme zur Folge haben – früher oder später, hierzulande oder anderswo. „Biologisierung“ ist die Durchdringung von Produkten und Verfahren durch biologisches Wissen, vergleichbar der „Digitalisierung“ mit ihren gesellschaftlichen Veränderungen. Auch wenn kein Konsens im Einzelnen herzustellen ist, es ist für Kritiker und Protagonisten gleichermaßen lohnend, sich mit den Einwänden im Dialog zu beschäftigen, nämlich diese Veränderungen positiv gestalten zu können. ó Korrespondenzadresse: Dr. Holger Zinke B.R.A.I.N AG Darmstädter Straße 34–36 D-64673 Zwingenberg Tel.: 06251-9331-12 Fax: 06251-9331-11 [email protected] www.brain-biotech.de Holger Zinke (Jahrgang 1963) ist Molekularbiologe und Gründer der B.R.A.I.N AG. Er engagiert sich in Wirtschaft und Politik für die Anwendung biologischen Wissens, insbesondere für Bioökonomie. Er ist Mitglied des Bioökonomierats sowie des BioEconomy-Panels der Europäischen Kommission. Als „Pionier des nachhaltigen Wirtschaftens“ erhielt er zusammen mit Ernst-Ulrich von Weizsäcker 2008 den deutschen Umweltpreis.
© Copyright 2024 ExpyDoc