Warum der Diskurs lohnt

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Bioökonomie
Warum der Diskurs lohnt
HOLGER ZINKE
B.R.A.I.N AG, ZWINGENBERG
© Springer-Verlag 2016
ó Vor zehn Jahren fand in Berlin unter der
Schirmherrschaft des damaligen Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement der
Kongress „Weiße Biotechnologie – Chancen
für eine nachhaltige Chemieindustrie“ statt.
Ende letzten Jahres organisierte der Bioökonomierat unter der Schirmherrschaft der
Bundeskanzlerin ebenfalls in Berlin den „Global Bioeconomy Summit“ mit fast 1.000 Teilnehmern. Was bleibt, außer einer gestiegenen politischen Wertschätzung? Nach wie vor
ist „Bioökonomie“ ein Spezialistenthema,
obwohl weltweit über 40 Nationen Bioökonomiestrategien entwickelten. Auch die Bundesregierung hat eine nationale Forschungsstrategie und eine nationale Politikstrategie
dazu durch Kabinettsbeschlüsse besiegelt,
bemerkenswerterweise nicht als Förderinitiative eines einzelnen Ministeriums, sondern
als ressortübergreifende Strategie der Bundesregierung.
Trotz dieses selten gewordenen politischen
Gestaltungswillens ist die Bioökonomie noch
nicht, wie es angemessen wäre, auf den ersten
Seiten der Strategien von Industrieunternehmen oder den Programmen der politischen
Parteien oder gar Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) zu finden. Dies mag am langsamen Prozess oder an der Konkurrenz durch
andere große Themen liegen, aber es gibt
auch Kritik und Gegenwind. Lässt man einfache Nörgeleien an den Begrifflichkeiten beiseite, bleiben aus zwei Lagern ernst zu nehmende Gegenargumente:
Die Industrie argumentiert, eine Umstellung der Rohstoffbasis auf erneuerbare
Ressourcen sei erstens ökonomisch und zweitens mengenmäßig nicht zu schaffen. Ersteres
trifft sicher derzeit zu, erst recht nach dem
drastischen Verfall der Ölpreise im letzten
Jahr. Der Bioökonomierat hat dies schon in
seiner Ausarbeitung zur Chemieindustrie
einige Jahre zuvor vorweggenommen, indem
er ausführte, dass Investitionen in neue fossile Produktionsanlagen wahrscheinlicher
BIOspektrum | 02.16 | 22. Jahrgang
seien (weil kurz- und mittelfristig lohnender)
als die breite Implementierung disruptiver
biobasierter Verfahren und Produkte. Dies
ignoriert gleichwohl den gesellschaftlichen
Wandel, vor allem im Bewusstsein der Konsumenten, die als Bürger zunehmend Unwohlsein, bezüglich der etablierten fossilen Wirtschaft entwickeln. Dies mögen Minderheiten
sein, die Kritik national unterschiedlich und
auf unlogische Argumente bezogen, wie etwa
bei „Bio“-Lebensmitteln. Aber es bleibt ein
starker und wohl unumkehrbarer Trend, und
die „Industrie“ tut gut daran, dies ernst zu
nehmen. Bezeichnenderweise sind es eher
die mittleren Unternehmen und weniger die
Betreiber von world-scale-Anlagen, die dies
tun und erhebliche wirtschaftliche Erfolge
mit seit Jahren zweistelligen Wachstumsraten durch Nutzung biologischen Wissens
erzielen, sei es Naturkosmetik, seien es biologische Wirkstoffe oder Enzyme.
NGOs argumentieren, Bioökonomie sei ein
primär von wirtschaftlichen Interessen geleiteter politischer Prozess, der Verwerfungen
etwa bei den Lebensmittelpreisen, der Struktur der Landwirtschaft oder auch der internationalen Warenströme, zu Lasten der Entwicklungsländer induziert. Und es fehle ihr an
demokratischer Legitimation und Kontrolle.
Doch selbst, wenn derlei Einwände mitunter berechtigt sein mögen: Schon die unterschiedliche Genese und Ausgestaltung der
nationalen Bioökonomiestrategien zeigt, dass
hier keine neue Weltwirtschaftsordnung geschaffen wird, sondern nationale Lösungen
gesucht werden, um die sicher konsensfähigen Ziele eines nachhaltigen Wirtschaftens
unter Vermeidung von Verwerfungen zu erreichen.
Bioökonomie ist nicht weniger als ein
bedeutender Teil einer Transformation der
Wirtschaftssysteme, wie sie etwa Klimaforscher immer wieder fordern. Die Änderung
des gesellschaftlichen Bewusstseins zu Rohstoff-, Energie- und Klimathemen wird
zwangsläufig Änderungen auch der Wirtschaftssysteme zur Folge haben – früher oder
später, hierzulande oder anderswo. „Biologisierung“ ist die Durchdringung von Produkten und Verfahren durch biologisches Wissen, vergleichbar der „Digitalisierung“ mit
ihren gesellschaftlichen Veränderungen. Auch
wenn kein Konsens im Einzelnen herzustellen ist, es ist für Kritiker und Protagonisten
gleichermaßen lohnend, sich mit den Einwänden im Dialog zu beschäftigen, nämlich
diese Veränderungen positiv gestalten zu können.
ó
Korrespondenzadresse:
Dr. Holger Zinke
B.R.A.I.N AG
Darmstädter Straße 34–36
D-64673 Zwingenberg
Tel.: 06251-9331-12
Fax: 06251-9331-11
[email protected]
www.brain-biotech.de
Holger Zinke (Jahrgang 1963) ist Molekularbiologe
und Gründer der B.R.A.I.N AG. Er engagiert sich in
Wirtschaft und Politik für die Anwendung biologischen Wissens, insbesondere für Bioökonomie. Er ist
Mitglied des Bioökonomierats sowie des BioEconomy-Panels der Europäischen Kommission. Als „Pionier des nachhaltigen Wirtschaftens“ erhielt er zusammen mit Ernst-Ulrich von Weizsäcker 2008 den
deutschen Umweltpreis.