Beißer nicht per se aggressiv - Agrar- und Veterinär

TIER
Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben
Beißer nicht per se aggressiv
Fotos: Schulte
Ursachen für Schwanzbeißen vielfältig / Hitzestress und Wassermangel
als Faktoren oft unterschätzt / Praktiker berichten, wie sie Langschwänze
halten / Seminar an der Agrar- und Veterinär-Akademie (AVA) in Horstmar
Engagiert diskutierten Tierärzte, Berater und Landwirte über die verschiedenen Risikofaktoren für Schwanzbeißen.
Z
wölf Stunden lang drehte
sich am vergangenen Freitag
für rund 60 Tierärzte, Berater
und Landwirte alles um das Thema Ringelschwanz. Sie besuchten das Fortbildungsseminar der
Agrar- und Veterinär-Akademie
(AVA) in Horstmar-Laer.
„Schweine, die Schwänze beißen,
sind nicht per se aggressiv“, räumte Tierärztin Dr. Anja Eisenack aus
Nideggen gleich zu Beginn mit einem Vorurteil auf. Oft sei eine
Stoffwechselnot Ursache für die
Verhaltensstörung. Intensives „Belutschen“ und „Bewühlen“ anderer Schweine an den Flanken seien
deutliche Anzeichen, auf die es im
Stall zu achten gelte.
Schwein ist „Liegekühler“
„Brandbeschleuniger aller Probleme mit Schwanzbeißen sind Hitzestress und Wassermangel“, betonte Beraterin Mirjam Lechner
aus Herrieden in Mittelfranken.
Dazu müsse man wissen, dass das
Schwein ein „Liegekühler“ ist: Ist
ihm zu warm, drückt es den Bauch
und die gestreckten Gliedmaßen
auf den Boden, um Wärme abzugeben. Dabei kühlen Guss und Beton
besser als Kunststoff, und feuchter
Boden kühlt besser als trockener.
Bei Problemen mit der Thermoregulation würden Schweine deshalb zum Liegen oft die Bereiche
vor den Tränken wählen – und so
den Zugang für die Buchtengenossen blockieren. Neben dem veränderten Liegeverhalten sind laut
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Lechner auch Ohren, die hängen
statt stehen und bei denen die Venen blau hervortreten, Anzeichen
für eine Überhitzung der Schweine. Hitzestress und Wassermangel
könnten zudem die Darmwand
schädigen und den Gehalt an Endotoxinen im Blut innerhalb eines
Tages um 200 % ansteigen lassen.
„Was ein Schwein sich nicht kühl
liegen kann, muss es sich kühl
saufen“, erklärte die Schweineexpertin weiter. Bei den Projekten
zur
Risikoabschätzung
von
Schwanzbeißen seien in vielen
Fällen nicht funktionierende Wassertränken gefunden worden. Die
Bedeutung der ausreichenden
Wasserversorgung im Zusammenhang mit Schwanzbeißen werde in
der Praxis jedoch häufig noch unterschätzt.
Oft kämen Ferkel von der Abferkelbucht mit Mutter-Kind-Tränke
in eine Aufzuchtbucht, wo sie nur
Nippeltränken vorfinden. Dann
dauerte es mitunter drei Wochen,
bis alle Ferkel das unbekannte
Tränkesystem richtig benutzen
könnten. Daher plädierte Lechner
dafür, trotz höherer Ansprüche an
die Hygiene auf Beckentränken zu
setzen. Die Beraterin riet zudem,
in allen Abteilen Wasserzähler einzubauen, um so den Wasserverbrauch im Blick zu behalten.
Auf keinen Fall sollten sich die
Landwirte darauf verlassen, dass
Schweine ihren Wasserbedarf allein über das Flüssigfutter decken
können. Im Gegenteil: Gerade bei
hohen Temperaturen sinkt die
tag streut er es den Ferkeln auf das
Ferkelnest. Die CCM-Aufnahme ist
zwischen den Gruppen sehr unterschiedlich und für Hoffrogge ein
wichtiger Indikator für Schwanzbeißen. „Wenn die Aufnahme in
einer Gruppe sehr hoch ist, steigt
das Risiko für einen Ausbruch“,
hat der Praktiker beobachtet.
Torf setzt Johannes Hoffrogge etwa
einmal wöchentlich ein. Hauptgrund sind die positiven Auswirkungen auf das Verdauungssystem
der Schweine. „Die enthaltenen
Huminsäuren binden Endotoxine
und stabilisieren den Darm“, erklärt der Landwirt.
Als dritte Maßnahme bindet
Hoffrogge Staubsäcke in die Flatdeck- und Mastbuchten. Auf diesen kauen die Tiere sehr gerne herum und speicheln sie ordentlich
ein. Sind die Säcke „verbraucht“,
legt er konsequent neue nach.
„Denn wenn das Material fehlt, suchen sich die Tiere etwas anderes
zum Kauen“, ist der Landwirt sicher. Starkes Abnutzen der Staubsäcke ist für ihn deshalb ein weiteres Warnzeichen, das Schwanzbeißen ankündigt.
Klimareiz als Erfolgsfaktor
Johannes
Hoffrogge hält
72 Sauen und
verzichtet seit
2013 komplett
auf das Kupieren
der Ferkelschwänze.
Fresslust und damit auch die Wasseraufnahme mit dem Futter.
CCM, Torf und Staubsäcke
Wie die Haltung von Langschwänzen in der Praxis aussehen kann,
berichtete Sauenhalter und Mäster Johannes Hoffrogge aus dem
emsländischen Spelle. Seit 2013
verzichtet er komplett auf das Kupieren der Ferkelschwänze.
„Dabei gab es auch Rückschläge“,
räumte der Praktiker ein, der einen
Betrieb mit 72 Sauen im geschlossenen System bewirtschaftet. Doch
mit der Zeit habe er immer mehr
Erkenntnisse gewonnen, unter
welchen Voraussetzungen sich der
Kupierverzicht erfolgreich umsetzen lässt.
Dabei hat Hoffrogge für seinen Betrieb drei spezielle Erfolgsfaktoren identifiziert: Corn-Cob-Mix
(CCM), Torfpellets und Staubsäcke. CCM bietet der Landwirt allen
Schweinen „als Gaumenfreude“
zusätzlich zum eigentlichen Futter
an. Bereits ab dem ersten Lebens-
Einen großen Fortschritt brachte
aus Sicht von Hoffrogge auch die
Einführung zwei verschiedener
Klimazonen im Flatdeck. So liegt
das Platzangebot nach dem Absetzen zunächst bei 0,35 m2 pro Ferkel. Nach drei Wochen schaltet er
ein zweites, unbeheiztes Abteil
zu, sodass ein Klimareiz entsteht
und den Ferkeln dann doppelt so
viel Platz zur Verfügung steht. Seit
25 Wochen sind Beißattacken im
Flatdeck jetzt kein Thema mehr.
Aktuell erreichen über 80 % von
Hoffrogges Schweinen mit intakten Schwänzen den Schlachthof.
Diese Quote meint er noch steigern
zu können. Der Praktiker ist sich
sicher: „Die Summe der Maßnahmen führt zum Erfolg.“
Frisch getrocknetes Gras
Für Landwirt Andreas Burtscher
aus Österreich gibt es nur eine
Ursache für Schwanzbeißen: die
nicht bedarfsgerechte Versorgung
mit Rohfaser. Nur wenn diese
Versorgung nicht in Ordnung ist,
kommen Auslösefaktoren wie Haltung, Lüftung oder Genetik zum
Tragen. Der Landwirt produziert
und mästet seit 20 Jahren in kleinem Umfang Schweine. Probleme
mit Schwanzbeißen hat er nicht.
Nach Burtschers Erfahrung muss
die Rohfaser schmackhaft, strukturiert und leicht verdaulich sein.
Junges, trockenes Gras erfüllt diese
Anforderungen am besten. msch