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Forscher: Mitte der Gesellschaft radikalisiert sich | Manuskript
Forscher: Mitte der Gesellschaft radikalisiert sich
Bericht: Inga Klees, Sandro Poggendorf
Das politische Klima ist rau geworden. Ein Galgen reserviert für die Kanzlerin und ihren Vize
auf einer Pegida-Demo in Dresden. Ein Fallbeil, unverhohlene Drohung an Sigmar Gabriel auf
der Anti-TTIP-Demo in Berlin. Im Land brennende Asylbewerberunterkünfte. Das
Messerattentat auf die Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker in Köln. Die Republik
zunehmend enthemmt und gewaltbereit. Was früher gesellschaftlicher Konsens war, löst
sich mehr und mehr auf.
Prof. Andreas Zick, Sozialpsychologe, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und
Gewaltforschung, Uni Bielefeld
Die Politik hat die Radikalisierung nicht ernst genommen. Wenn ich mir angucke, dass wir
seit nunmehr 12 Jahren in einer großen Forschungsgruppe immer wieder jedes Jahr unsere
Daten veröffentlicht haben und wir gesagt haben in dieser Mitte der Gesellschaft gibt es
ein Reservoir an Ressentiments, Vorurteilen, Abwertung, Ungleichwertigkeitsideologien,
werden eigentlich zu dem Leitbild von Gesellschaft. Dann hätte Politik das sehr ernst
nehmen müssen.
Chemnitz Markersdorf Anfang Oktober: Flüchtlinge aus einer Erstaufnahmeunterkunft sollen
hier vorübergehend in einer Turnhalle untergebracht werden. Viele weigern sich dort
einzuziehen, sie haben auch Sicherheitsbedenken, denn es gibt deutliche Anzeichen, dass sie
hier nicht erwünscht sind. Als nach längeren Diskussionen zwei Familien am Abend bereit
sind in die Turnhalle zu gehen, schlägt ihnen blanker Hass entgegen:
„Haut ab, haut ab!“
Die Mehrheit der Flüchtlinge verharrt draußen in der Kälte. Kurz vor Mitternacht entschließt
sich die Pfarrerin der Bonhoeffer Gemeinde die Kirche für die Flüchtlinge zu öffnen, damit
die Menschen im Warmen übernachten können.
Hiltrud Anacker, Pfarrerin
Sie haben gesagt sie fühlen sich nicht sicher und ich denke überzeugt hat sie, weil sie
gesagt haben, das ist ein Gotteshaus und in einem Gotteshaus kann uns nichts passieren.
Dass das ein Irrtum war, haben sie da noch nicht gewusst.
Das ist er, der Gemeindesaal, in dem 18 Frauen und Kinder Schutz fanden und auf
Feldbetten übernachtet haben. Pfarrerin Hiltrud Anacker und Gemeindevorstand Klaus
Kretzschmar schildern, was sich dann abspielte:
Hiltrud Annacker
Gegen halb fünf in der Früh, saß ich im Büro, als ich einen lauten Knall gehört habe. Ich bin
vorgekommen, diesen Gang hier vor und hab gesehen das ganze Malleur mit den kaputten
Fenstern und den Steinen.
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Sechs Schottersteine flogen in den Raum. Eine Frau wurde dabei leicht verletzt:
Hiltrud Anacker
Die haben laut geschrien, haben sich zusammen getan, haben sich auch viele ins Foyer
gesetzt. Die hatten richtig Angst, die Kinder haben geweint.
Klaus Kretzschmar, Kirchenvorstand
Aus meiner Sicht war das ein Anschlag auf Leib und Leben von Frauen und Kindern in einer
Kirche. Da ist eine Grenze überschritten, wo wir alle in der Gesellschaft nachdenken
müssen. Was tun wir.
Die Polizei ermittelt, noch ist unbekannt, wer die Täter sind. Was schon feststeht, Die
Schottersteine stammen aus dem Gleisbett der Straßenbahn, wurden also mitgebracht. Der
Anschlag auf das Gotteshaus war höchstwahrscheinlich geplant. Woran liegt es, dass
offensichtlich immer mehr Demonstranten bereit sind Gewalt zu tolerieren, wenn nicht gar
zu unterstützen, zumindest durch ihre Anwesenheit? Eine Erklärung hierfür, die
gesellschaftliche Mitte wird instabiler:
Prof. Andreas Zick
Und jetzt kommt das Problem, wenn in dieser Mitte Menschenfeindlichkeit, d.h. Vorurteile
gegenüber anderen und Ungleichwertigkeit zwischen Gruppen, Höher- und
Minderwertigkeit zu etablieren, wenn das dort einzieht, dann bröckelt und spaltet sich
diese Mitte auf und das sind Bewegungen die wir jetzt im Moment sehen. Wir haben in
dieser Mitte populistische und extremistische Ränder.
Und die werden offensichtlich immer gewaltbereiter. Im Visier Politiker aus nahezu allen
Parteien. Bespiel AfD. In der sächsischen Kleinstadt Lugau wurde das Bürgerbüro des
Landtagsabgeordneten Carsten Hütter binnen weniger Wochen gleich mehrfach attackiert:
Carsten Hütter, AfD, Landtagsabgeordneter
Die ganze Situation ist ja mittlerweile sehr aggressiv. Ich kann das ja nur bestätigen, wir
gesagt, letzte Woche ist einer unserer Prospektverteiler, ein 71 Jahre alter Rentner hier in
Stollberg angegriffen worden körperlich, was ich nur verurteilen kann, mit aller
Deutlichkeit. Ich finde so was richtig schlimm, weil das auch keine Lösung ist.
Aber ist die AFD mit extrem populistischen Politikern wie Björn Höcke in Thüringen, nicht
mitverantwortlich für die zunehmend aufgeladene Stimmung im Land?
Carsten Hütter, AfD, Landtagsabgeordneter
Ich muss allerdings zugeben, dass Herr Höcke teilweise mit seinen Reden schon hart an
der roten Linie ist. Ich persönlich fahre so einen Kurs so hart an der Linie nicht, und es
kommt auch so für mich nicht in Frage.
Carsten Hütter gibt sich gemäßigt, genützt hat ihn das nichts. Wegen der Angriffe auf sein
Büro bekommt der AFD-Politiker Unterstützung ausgerechnet von einem Linken – der
Bürgermeister in Lugau ist.
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Thomas Weikert, Die Linke, Bürgermeister Lugau
Es ist ein Angriff auf die Demokratie und auf die ehrlich, faire
miteinander.
Meinungsäußerung
Flüchtlinge, Kirche, Politiker, Polizisten, Helfer - längst sind sie Zielscheibe unglaublicher
Entgleisungen geworden. Leipzigs Oberbürgermeister Burkart Jung, der selbst immer wieder
Flagge gegen Rassismus und Gewalt zeigt, wird seit Monaten massiv bedroht:
Burkhard Jung, SPD, Oberbürgermeister Leipzig
Ich hab mal einige Auszüge hier gesammelt. Aufhängen diesen Drecks Jung. OB Jung würde
Beli ganz gut stehen. Sauber und schnell. Sie werden gelöscht, versprochen.
Kundgebungen vor seinem Haus abhalten. Schick den Schmarotzer zu den Fischen. Also,
das sind so einige Auszüge. Und das ist eine Verrohung, mich erinnert das an die
Pogromstimmung des Dritten Reiches, also eindeutig.
Wegen seiner Unterstützung der Flüchtlinge, wird er seit gestern ganz offen mit dem Tod
bedroht. Warum Menschen so weit gehen kann und will er nicht verstehen.
Burkhard Jung, SPD, Oberbürgermeister Leipzig
Fragen sie mal irgendjemanden in dieser Stadt, der bis jetzt irgendeinen Nachteil davon
hat, dass schon über 15.000 Flüchtlinge in dieser Stadt sind. Sie werden kaum jemanden
finden. D.h. es ist teilweise ein Hirngespinst, was da ausgebreitet wird.
Mit diesen Hirngespinsten muss sich Jungs oberster Polizeichef seit Monaten
auseinandersetzen. Jahrelang war Bernd Merbitz an exponierten Stellen, leitete die Soko
Rex, war zuständig für den Staatsschutz, um jetzt als Polizeipräsident der Stadt Leipzig von
Bodyguards begleitet zu werden, sobald er in die Öffentlichkeit geht.
Bernd Merbitz, Polizeipräsident, Leipzig
Anfeindungen, die einen persönlich betreffen, die auch das Umfeld von Freunden
betreffen und auch die Familie. Da ist für mich irgendwo die Grenze erreicht. Und da muss
ich auch in aller Deutlichkeit sagen, dort muss der Rechtstaat auch härter durchgreifen und
wir dürfen uns das einfach nicht bieten lassen, dass auf den Straßen zunehmend mehr
Gewalt in Erscheinung tritt, ganz im Gegenteil die Gesellschaft ist gefordert, diese auch
endlich zu beenden.
In Zeiten, wie diesen, eine enorme Herausforderung.
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