Schweiz - Land der erdverbundenen Hornmänner und der Pointen? Erwin Dettling Kaum reisst ein Schweizer Schriftsteller und Dramatiker das Maul auf über sein Land, kommt ein Herausforderer, Roger Köppel, der Journalist und Neuparlamentarier. Er schreibt: „Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss irrt.“ Schon sind wir in der Geistesmitte des „Zwergenlands“, wie Bärfuss die Schweiz in seiner Mahnschrift nannte. Wer nicht mit dem Rudel heult, wird angebellt. Das war nicht immer so. Die Schweiz war schon toleranter, liberaler, geistig offener. „Bei den meisten unserer Mitbürger scheint die Existenz der Schweiz das selbstverständlichste der Welt zu sein“, erinnert uns Friedrich Dürrenmatt in seinem Aufsatz „Vom Ende der Schweiz“ vor Jahrzehnten. Wir können, wollen nicht verstehen, dass die Schweiz einst wie Troja und Karthago, nur noch ein Begriff sein könnte, hält uns Dürrenmatt vor; ein Dichter und Denker, dem die Eidgenossenschaft ein Museum, das „Centre Dürrenmatt“ in Neuenburg, widmet. Wir lieben sie nicht, die Querdenker im Land, das schon fast fünfhundert Jahre keinen Krieg mehr angezettelt, wohl aber für andere Mächte mit Söldner in Konflikte eingegriffen hat. Wir halten uns an die Theorie der Verschonung. Sie hat schon lange funktioniert. Wir hassen das Äusserste, das Schreckliche, selbst in Gedanken. Staaten sterben auf jede denkbare und undenkbare Weise, schrieb Dürrenmatt, einige gingen an der Raserei zugrunde. Andere verlieren die Orientierung, weil Bürger eines Landes wie der Schweiz ihren Hunden Zahnspangen zur Gebisskorretur oder Magenbänder für die perfekte Figur anlegen. Geistesmenschen machen Angst in der Schweiz, sie streuen Verunsicherung, zerstören das Wohlgefühl im Land. Hauptsache wir Schweizer verstehen die Schweiz. Köppel redet so: In der Wirtschaft ist der Kunde König. In der direkten Demokratie ist der Bürger der Chef. Dieses System unmittelbarer Entscheidungsgewalt bringe den Bürgern Freiheit und Macht, für Politiker sei es ein Gefängnis. In seiner Rede (1990) an Vaclav Havel sagte Dürrenmatt, wir Schweizer sähen, wie ausserhalb des Gefängnisses alles übereinander herfalle. Haben wir uns in das Gefängnis geflüchtet, von dem Dürrenmatt in seinem Referat an Havel sprach? Jahrzehnte nach der Rede des Dramatikers verdichtet sich seine Vermutung: „Weil die Schweizer nur im Gefängnis sicher sind, überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis der Neutralität". Für Köppel ist die Schweizer Neutralität etwas vom Grössten, was es im Unterbau des Landes gibt. Diese neutrale Wertefreiheit lässt auf der Weltbühne Schweizer Figuren tanzen wie Joseph Blatter von der FIFA, Joe Ackermann, den gefallenen Strategen der Deutschen Bank, Daniel Vasella, den gierigen Ex-CEO von Novartis, Emil, den universellen Komiker oder Roger Federer, den genialsten Tennis-Crack im bekannten Teil des Universums. Populisten verachten naturgemäss große Ideen, grosse Taten und großen Theorien der Dichter und Denker. Köppel wurde eben in den Kreis der nationalen Politik, in die Legislative gewählt, die – wie ein Hund? – „mit Referenden und Initiativen an der kurzen Leine gehalten wird“, wie er noch kurz vor seiner Volkswahl schrieb. Das erotische Verhältnis zu ihren Gedanken der Geistesmenschen führe zu „Ideologien und hochtrabenden Programmen“, schreibt der neugewählte Legislator. Gehören Schweizer von der Statur von Friedrich Dürrenmatt zu den erotischen Geistesmenschen? Er schrieb über die Schweiz als Gefängnis: „Jeder Gefangene beweist, in dem er sein Wärter ist, seine Freiheit. Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.“ Gedanken wie diesen hört Köppel kaum gern. Der Weg von der Erotik zur Rabulistik ist kurz, wenn sich Schweizer um den inneren Kern ihres Landes bemühen. Wir seien „visionsskeptisch“, schreibt Köppel, der Chefredaktor und Besitzer der Weltwoche. Staatliche Macht, „ihre poesiefreie Konkretheit“ müsse „direktdemokratisch gehegt, gezähmt, zertrümmert werden.“ Spricht Köppel mit dieser Aussage die richtigen Freunde an, wenn diese seine parlamentarische Losung lesen? Wehe dem „Überstaat EU“! Wehe der Großraumstruktur EU! Wehe den Selbstauflösungstendenzen der Schweiz! Wehe der schrankenlosen Aufnahme von Migranten! So tönt der neue Schweizerpsalm in der Tonart der Angst und des Selbstmitleides im „Zwergenland“. Friedrich Dürrenmatt schrieb in seinem polemischen Aufsatz „Vom Ende der Schweiz“, es seien Anzeichen vorhanden, die auf eine Vergreisung der Schweiz hindeuteten. Sie hätten jedoch nichts mit dem Geburtenrückgang zu tun. Dürrenmatt leistete sich die dunkle Frage, ob die Schweiz im neuen Europa noch notwendig sei. Dürrenmatt warnt vor Überschätzung und gibt zu bedenken, dass Neutralität eine Form der Politik, kein Glaubensbekenntnis sei. „Vor allem lehnen wir eine Neutralität ab, die den Bürgern ein bequemes Spiesserdasein gewährt.“ Die Neutralität sei ein Vorrecht, das wir uns verdienen müssten, in dem wir hülfen, schreibt Dürrenmatt. Darum sei es unsere Pflicht, die Menschen aufzunehmen, die an unsere Grenze kommen. „Nur eine Schweiz, die den Flüchtlingen jeden Schutz und jede Hilfe gewährt, die irgendwie möglich ist, hat ein Anrecht da zu sein.“ Die dumpfe Angst des „Zwergenvolks“ ist leichter mobilisierbar als auch schon. Und die beste Universität der Schweiz, die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), habe, so Köppel, herausgefunden, dass „die Schweiz bei den Schweizern nie höher im Kurs war als heute.“
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