Kultur im Land der Knechte von Stefan Zweifel Wir sind seit jeher ein Volk von Knechten. Als Kriegsknechte zogen wir nach Marignano, heute versucht uns das Grosskapital in Bauerntracht zu knechten mit der Mär der selbstgewählten Neutralität. Dabei traten wir danach immer wieder als Knechte in den Dienst anderer Herren Länder. Und wenn die wahren Knechte einmal im Kostüm von Willhelm Tell den Aufstand wagten, dann wurde ihr Körper gevierteilt, wie derjenige von Niklaus Leuenberger, als nach der Zerschlagung des Bauernaufstandes 1653 sein Leib über die vier Landstrassen vor Bern verteilt wurde. Oder sie wurden wie beim Landesstreik von den eigenen Söldnern, den Soldaten der Armee, erschossen, später dann von der Polizei bespitzelt. Die List des Knechtes wäre eigentlich raffiniert. Hegel zeigt in seinem Kapitel zu Herr und Knecht, dass der Herr nur in den Genuss der Dinge kommt, die ihm der Knecht herstellt. Bis er vertrottelt und die Knechte sich zu den neuen Herren aufschwingen. Daraus haben die Herren gelernt und versuchen, ihre Knechte zu vertrotteln, indem sie ihnen das kleine Glück des Augenblicks zugestehen: So ziehen sie wie die „letzten Menschen“ von Nietzsche an den Wochenenden und bei der Streetparade durch die Strassen und blinzeln: „Wir haben das Glück erfunden!“ Etwas Gift ab und zu, das macht angenehme Träume. Aber nicht zu viel, das schadet der Gesundheit. Und wer anders denkt, so schreibt Nietzsche, der geht freiwillig ins Irrenhaus. Und vielleicht ist die Schweiz ja nicht so sehr ein Gefängnis, sondern ein Irrenhaus. 26 Wir feiern demnächst nicht nur den 25. Todestag von Friedrich Dürrenmatt, sondern auch den 25. Geburtstag seiner Rede zu Ehren von Václav Havel. Um kurzbeinige Vergleiche nie verlegen wird mal dieser, mal jener Autor als Nachfolger des Doppelgestirns Frisch/Dürrenmatt gefeiert. Und doch: Keiner hat je eine Rede gehalten, die so scharf und unversöhnlich wäre, dass ihm ein anwesender Bundesrat den Handschlag verweigert hätte wie damals Arnold Koller. Dürrenmatt verglich die Schweiz nicht nur mit einem Gefängnis, sondern tröpfelte uns das Gift seiner Gedanken ins Ohr: Wir seien alle Gefangene, die als ihre eigenen Wärter sich selbst bewachen. Wir riegeln das Gefängnis ab, damit keine ungebetenen Gefangenen unseren schizoiden Frieden stören. Ein paar Luxusgefangene sind immer willkommen – und ein kleines Kontingent von Migranten, die unsere Zellen putzen, da wir diese Arbeit nicht selber machen wollen. Im Kerker des Kapitals sei die Überwachung so raffiniert, dass wir selbst in der Freizeit nur noch Konsum produzieren. Keine Sekunde, die sinnlos verschwendet würde. Kunst aber wäre genau dies: sinnlose Verschwendung. Die Poesie der Gegenwart ist der Börsencrash, die Abkoppelung des Frankens vom Euro – die Vernichtung der Zukunft unserer Kinder durch Futures an den Handelsplätzen, die schon lange nicht mehr gedeckt sind und nur noch dazu missbraucht werden, die politische Souveränität der Staaten im Dienst der Zentralbanken auszuhebeln. Während früher die Wirtschaftsseiten der NZZ den Subtext der politischen Artikel enthüllten, sind heute die kodierten Kurse jene radikale Poesie geworden, die man im Feuilleton vermisst – Lautgedichte der Gegenwart. Die Kultur setzt auf die Unvernunft. Sie bekämpft den gesunden Menschenverstand, der alles, was ihn nicht unterhält, als elitär bekämpft und froh ist, wenn ein elitäres Buch durch erfundene Zitate vom Schirm verbannt werden kann. So ist es nur konsequent, wenn die früheren Farbröhren der TV-Geräte im Land der kulturellen Quotenknechte endgültig durch den Flachbildschirm ersetzt werden oder durch die streichelzarte Oberfläche des Smartphones, jener Drohne, mit der wir uns selbst überwachen und die wir durch unsere Abgaben bezahlen. Wir müssen dann nicht einmal mehr Wärter sein, sondern können ganz das kurze Glück der Knechte geniessen. Die Schweiz – ein Irrenhaus. • ZWEIFELS ZWIEGESPRÄCHE MIT SUSAN NEIMAN Die amerikanische Philosophin Susan Neiman ist eine der wichtigsten linken Stimmen unserer Zeit. Stefan Zweifel diskutiert mit ihr über das Böse sowie über ihr jüngstes Buch „Why grow up?“, einer philosophischen Ermutigung gegen die Infantilisierungskultur. 22. November, Pfauen/Kammer, 20:00
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