Interpretation und Vergleich der Pflichtlektüren

Deutsch (Baden-Württemberg): Abiturprüfung 2015
Aufgabe 1: Interpretation und Vergleich der Pflichtlektüren (Werke im Kontext)
Thema:
Max Frisch (1911–1991): Homo faber
Georg Büchner (1813 –1837): Dantons Tod
Peter Stamm (*1963): Agnes
Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht (Auszug)
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The American Way of Life:
Schon ihre Häßlichkeit, verglichen mit Menschen wie hier: ihre rosige Bratwurst-Haut,
gräßlich, sie leben, weil es Penicillin gibt, das ist alles, ihr Getue dabei, als wären sie
glücklich, weil Amerikaner, weil ohne Hemmungen, dabei sind sie nur schlaksig und laut
– Kerle wie Dick, die ich mir zum Vorbild genommen habe! – wie sie herumstehen, ihre
linke Hand in der Hosentasche, ihre Schulter an die Wand gelehnt, ihr Glas in der andern
Hand, ungezwungen, die Schutzherren der Menschheit, ihr Schulterklopfen, ihr Optimismus, bis sie besoffen sind, dann Heulkrampf, Ausverkauf der weißen Rasse, ihr Vakuum
zwischen den Lenden. Mein Zorn auf mich selbst!
(Wenn man nochmals leben könnte.)
Mein Nacht-Brief an Hanna –
Am andern Tag fuhr ich hinaus an den Strand, es war wolkenlos und heiß, Mittag mit
schwacher Brandung: die auslaufenden Wellen, dann das Klirren im Kies, jeder Strand erinnert mich an Theodohori.
Ich weine.
Das klare Wasser, man sieht den Meeresgrund, ich schwimme mit dem Gesicht im Wasser, damit ich den Meeresgrund sehe; mein eigener Schatten auf dem Meeresgrund: ein
violetter Frosch.
Brief an Dick.
Was Amerika zu bieten hat: Komfort, die beste Installation der Welt, ready for use, die
Welt als amerikanisiertes Vakuum, wo sie hinkommen, alles wird Highway, die Welt als
Plakat-Wand zu beiden Seiten, ihre Städte, die keine sind, Illumination, am andern Morgen sieht man die leeren Gerüste, Klimbim, infantil, Reklame für Optimismus als NeonTapete vor der Nacht und vor dem Tod –
Später mietete ich ein Boot.
Um allein zu sein!
Noch im Badkleid sieht man ihnen an, daß sie Dollar haben; ihre Stimmen (wie an der
Via Appia), nicht auszuhalten, ihre Gummi-Stimmen überall, Wohlstand-Plebs.
Brief an Marcel.
Marcel hat recht: ihre falsche Gesundheit, ihre falsche Jugendlichkeit, ihre Weiber, die
nicht zugeben können, daß sie älter werden, ihre Kosmetik noch an der Leiche, überhaupt
ihr pornografisches Verhältnis zum Tod, ihr Präsident, der auf jeder Titelseite lachen muß
wie ein rosiges Baby, sonst wählen sie ihn nicht wieder, ihre obszöne Jugendlichkeit –
Ich ruderte weit hinaus.
Hitze auf dem Meer –
Sehr allein.
Ich las meine Briefe an Dick und an Marcel und zerriß sie, weil unsachlich; die weißen
Fetzchen auf dem Wasser; mein weißes Brusthaar –
Sehr allein.
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Später wie ein Schulbub: ich zeichne eine Frau in den heißen Sand und lege mich in diese
Frau, die nichts als Sand ist, und spreche laut zu ihr –
Wildlingin!
Ich wußte nicht, was anfangen mit diesem Tag, mit mir, ein komischer Tag, ich kannte
mich selbst nicht, keine Ahnung, wie er vergangen ist, ein Nachmittag, der geradezu wie
Ewigkeit aussah, blau, unerträglich, aber schön, aber endlos – bis ich wieder auf der
Prado-Mauer sitze (abends) mit geschlossenen Augen; ich versuche mir vorzustellen, daß
ich in Habana bin, daß ich auf der Prado-Mauer sitze. Ich kann es mir nicht vorstellen,
Schrecken.
Alle wollen meine Schuhe putzen –
Lauter schöne Menschen, ich bewundere sie wie fremde Tiere, ihr weißes Gebiß in der
Dämmerung, ihre braunen Schultern und Arme, ihre Augen – ihr Lachen, weil sie gerne
leben, weil Feierabend, weil sie schön sind.
Aus: Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995
Arbeitsanweisungen
– Interpretieren Sie die Textstelle im Kontext der vorangegangenen Handlung.
– Frischs „Homo faber“, Büchners „Dantons Tod“ und Stamms „Agnes“: Erörtern Sie in
einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit Faber, Danton und der Ich-Erzähler in Peter
Stamms „Agnes“ scheitern.
[Bitte beachten Sie, dass der Schwerpunkt der Gewichtung auf der zweiten Teilaufgabe liegt.]
Hinweise und Tipps
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Der Aufgabentyp I bezieht sich auf die Werke, die für den jeweiligen Abiturjahrgang als
Pflichtlektüren vorgeschrieben sind und im Unterricht ausführlich behandelt wurden. Für diesen Aufgabentyp sind Sie bestens gerüstet, wenn Sie die Werke mit Interesse gelesen und im
Unterricht mitgearbeitet haben. Durch eine nochmalige Lektüre und die Rekapitulation Ihrer
Unterrichtsmaterialien und -mitschriften vor dem Abitur, eventuell ergänzt durch Lektürehilfen, können Sie sich inhaltlich gezielt darauf vorbereiten.
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Teilaufgabe 1
Die Aufgabenstellung gliedert sich in zwei Teile: Im ersten wird die Interpretation eines
Textauszugs – hier aus „Homo faber“ – verlangt, im zweiten die vergleichende Betrachtung
der literarischen Werke („Sternchenthemen“). Beide Teilaufgaben sind durch Spiegelstriche
kenntlich gemacht. Sie sollen nicht, wie z. B. die nummerierten Aufgaben in Mathematikklausuren, einfach nacheinander abgehandelt werden, sondern ein stimmiges Ganzes ergeben. Die
übliche Gliederung in Einleitung, Hauptteil (hier zweiteilig, s. Aufgabenstellung) und Schluss
mit passenden Überleitungen ist also auch hier erforderlich.
Machen Sie sich in einer Themenanalyse bewusst, was genau von Ihnen erwartet wird, und beachten Sie hierzu die verwendeten Operatoren. Der Operator „interpretieren“ (erste Teilaufgabe) wird ergänzt durch den Hinweis auf den Kontext der vorangegangenen Handlung.
Es gilt also, die Textstelle in den Handlungsverlauf einzuordnen, nicht jedoch die komplette
(Roman-)Handlung wiederzugeben oder gar nachzuerzählen. Überprüfen Sie beim Schreiben
deshalb immer wieder, ob Sie ein sogenanntes besprechendes Tempus (Präsens, bei Vorzeitigkeit Perfekt) verwenden.
Wie bei allen Interpretationsaufgaben müssen Sie Ihre Erkenntnisse begründen und am Text
durch Zitate belegen. Berücksichtigen Sie in Ihrer Interpretation auch die literarische Gattung
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r des Texts (hier: Roman), seine Struktur (Aufbau des „Berichts“ von Walter Faber in zwei
r „Stationen“, Verwendung der Tagebuchform, Chronologie der Ereignisse und des Berichts)
r und seine sprachliche Gestaltung (z. B. Satzbau, Satzzeichen, Verwendung des Konjunktivs).
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Teilaufgabe 2
Die zweite Teilaufgabe nimmt alle drei Pflichtlektüren unter dem thematischen Vergleichsaspekt des Scheiterns der männlichen Protagonisten in den Blick. Denken Sie deshalb zunächst gründlich über die Bedeutung dieses Begriffs nach (evtl. mithilfe eines Wörterbuchs):
Synonyme wären etwa Missglücken, Misslingen, Versagen, Fehlschlagen; Antonyme z. B.
Gelingen, Gedeihen. Versuchen Sie sodann, die Frage möglichst differenziert für die drei Protagonisten zu beantworten und dabei auf die jeweilige Art und das Ausmaß ihres Scheiterns
einzugehen (s. Aufgabenstellung: „inwieweit“). Zu den Vorarbeiten gehört es auch, die Werke
nach relevanten Textstellen zu durchsuchen und diese mit Seitenangabe und knappen Stichworten zusammenzustellen, etwa in einer Tabelle oder Mindmap (Hinweis: Bei „Dantons
Tod“ wird im Folgenden aus der Reclam-Ausgabe zitiert).
Bei der Darstellung Ihrer Untersuchungsergebnisse im Aufsatz verlangt die Aufgabenstellung
eine erörternde Schreibhaltung. Im Unterschied zur ersten Teilaufgabe wird keine detaillierte Textarbeit erwartet, lediglich zentrale Ergebnisse müssen durch Verweise und / oder Zitate
abgesichert werden.
Konzeptionell sind bei der Vergleichsaufgabe mehrere Vorgehensweisen möglich, z. B. eine
blockweise Untersuchung der drei Werke, die mit einem pointierten Fazit abgeschlossen wird,
oder eine parallelisierende Darstellung der Vergleichsergebnisse, die nach Teilaspekten des
Scheiterns geordnet werden (z. B. beruflicher Bereich, menschliche Beziehungen, Weltanschauung usw.). Beim vorliegenden Thema bietet es sich an, auf der Grundlage der Ergebnisse aus der ersten Teilaufgabe mit Walter Faber zu beginnen.
Damit Ihr Aufsatz auch von einem Leser ohne Vorkenntnisse verstanden werden kann, ist es
unerlässlich, dass Sie auch die Vergleichswerke knapp vorstellen. Informieren Sie deshalb
über Autor, Textgattung, Zeit der Entstehung und Handlung, zentrale Figuren und Themen,
soweit dies jeweils für das Verständnis Ihres Aufsatzes nötig ist.
Lösungsvorschlag in Grundzügen
„Wenn man nochmals leben könnte.“ – Fast jeder Mensch macht in seinem Leben Erfahrungen, die ihn zu solchen Überlegungen führen. Habe
ich etwas falsch gemacht, Schuld auf mich geladen? Wie kann ich Verfehlungen wiedergutmachen? Könnte ich verpasste Chancen nicht noch einmal bekommen, die Weichen neu stellen?
Einleitung
Auch Walter Faber, der Protagonist in Max Frischs Roman „Homo faber.
Ein Bericht“ (1957), lässt kurz vor seinem Tod wichtige Stationen seines
Lebens noch einmal Revue passieren und äußert diesen unerfüllbaren
Wunsch: „Wenn man nochmals leben könnte“ (Z. 10).
Teilaufgabe 1
M. Frischs
Roman „Homo
faber“ und der
Protagonist
Walter Faber
Der Roman setzt bei Fabers Abflug vom New Yorker Flughafen La Guardia ein, von wo er im Auftrag der UNESCO zu einer dienstlichen Reise
nach Mexiko startet. Der Plan des 50-jährigen Schweizer Ingenieurs, der
in New York lebt, geht jedoch nicht auf, denn entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Statistik kommt es zu einer Notlandung in der Wüste von Tamaulipas, wo er den Bruder seines ehemaligen Studienfreundes Joachim
kennenlernt und erfährt, dass dieser Fabers Jugendliebe Hanna geheiratet
hat. In der Folge häufen sich die Zufälle, die in Fabers rational-technischem
Weltbild nicht vorgesehen sind. In der Begegnung mit der jungen Elisabeth Piper, die er auf einer Schiffsreise nach Europa kennenlernt, wird aus
Zufall Schicksal. Denn aus anfänglicher Freundschaft entwickelt sich eine
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Romanhandlung,
Motive
Liebesbeziehung und gegen alle Berechnungen stellt sich heraus, dass
Sabeth nicht nur Hannas, sondern auch sein eigenes Kind ist. Sabeth erleidet einen Unfall mit tödlichen Folgen, ohne zu erfahren, dass ihr Liebhaber ihr Vater war. Die Wiederbegegnung mit Hanna macht Faber seine
Schuld bewusst. Er begibt sich erneut auf Reisen, um schlussendlich nach
Athen zurückzukehren, wo er sich in einem Krankenhaus einer längst fälligen Magenoperation unterzieht.
Von den Ereignissen bis zu Sabeths Tod berichtet Walter Faber im Rückblick („1. Station“), wobei er die Chronologie des Geschehens immer wieder in Form von Rückblenden in seine Züricher Studienjahre unterbricht.
Der Bericht der „2. Station“, in der es im Wesentlichen um die Zeit zwischen Sabeths Tod und seiner Rückkehr nach Athen geht, wird in die handschriftlichen, im Roman am Kursivdruck erkennbaren Tagebuchnotizen
eingeschoben.
Erzählstruktur
des Romans
Die vorliegende Textstelle ist Teil der „2. Station“. Faber befindet sich in
einem Krankenhaus in Athen und berichtet von vier Tagen in Habanna, wo
er auf einen Anschlussflug warten muss: „Vier Tage nichts als Schauen – “
(S. 172). Seine Lebenseinstellung hat sich durch die Begegnung mit Sabeth
und nach deren Tod verändert. Er schließt mit seinem alten Leben ab und
entdeckt neue Lebensprinzipien, die ihm vorher suspekt waren: Schönheit,
Sinnlichkeit, Emotionalität, Spontaneität, all dies sieht er in den Kubanern,
die ihm begegnen (vgl. S. 172 ff.). Gleichzeitig rechnet er radikal und zynisch mit dem „American Way of life“ (vgl. S. 170 und Z. 1 ff., 30 ff.) ab,
der so lange sein Leben bestimmt hat. Schon die äußere Erscheinung amerikanischer Menschen, „ihre Häßlichkeit, verglichen mit Menschen wie
hier: ihre rosige Bratwurst-Haut, gräßlich“ (Z. 2 f.), stößt ihn auf einmal
ab, und von Vorbildern wie seinem amerikanischen Freund Dick distanziert
er sich (vgl. Z. 5). Das Selbstbild der Amerikaner als „Schutzherren der
Menschheit“ (Z. 7) entlarvt er als falsch und überheblich, ihr Verhalten als
widersprüchlich (vgl. Z. 7 ff.), ihren Lebensstil als steril (vgl. Z. 8 f.). Auch
die Errungenschaften amerikanischer Technik faszinieren ihn nicht mehr,
sie werden nun in ironischem Ton als oberflächlich und utilitaristisch (vgl.
Z. 20 ff.), als „Klimbim, infantil“ (Z. 23) und verlogen abgewertet: „Was
Amerika zu bieten hat: Komfort, die beste Installation der Welt, ready for
use“ (Z. 20). Zu diesem Wandel passt, dass er auf einmal Verständnis für
die vormals als „Künstlerquatsch“ abgetane Zivilisationskritik des Musikers Marcel aufbringt, den er auf seiner ersten Reise im Dschungel kennengelernt und damals für seine Maya-Forschungen verachtet hat. Jetzt erkennt er: „Marcel hat recht: ihre falsche Gesundheit, ihre falsche Jugendlichkeit, ihre Weiber, die nicht zugeben können, daß sie älter werden, ihre
Kosmetik noch an der Leiche, überhaupt ihr pornografisches Verhältnis
zum Tod, […] ihre obszöne Jugendlichkeit“ (Z. 30 ff.).
Einordnung
der vorgelegten
Textstelle
Was Faber am „American Way of Life“ auszusetzen hat, bekommt im Zuge
seines Wandels zunehmend selbstkritische Töne. War zu Beginn des Berichtsabschnitts noch von „Zorn auf Amerika“ (S. 175) die Rede, spricht
Faber nun von „Zorn auf mich selbst!“ (Z. 9), denn viele der kritisierten
Eigenschaften und Verhaltensweisen entdeckt Faber auch an sich. Dazu
gehören vor allem die Unfähigkeit zum Erleben, die Entfremdung von der
Natur und die Verdrängung von Alter, Krankheit und Tod. Erst Hanna hat
ihm dies klargemacht, auch wenn er sie immer noch nicht ganz versteht
(vgl. S. 169, „Diskussion mit Hanna“). Fabers Einsicht in seine verfehlte
Kritik wird zur
Selbstkritik
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Biografische
Situation Walter
Fabers
Kritik an Amerika
Wandel des
Weltbildes