1 Leistungskurs Deutsch (Hessen

Leistungskurs Deutsch (Hessen) – Übungsaufgabe 1:
Textinterpretation und -vergleich
Der Flug ist das Leben wert. Das Motiv des Fliegens und letzte Flüge
Arbeitsgrundlage:
Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht (M 1)
Uwe Timm: [Das Foto] (aus: Halbschatten) (M 2)
Johann Wolfgang von Goethe: Faust I; Vor dem Tor (Vers 1070 –1125) (M 3)
Hintergrundtext:
Uwe Timm, Halbschatten. Insbesondere der den Roman als These, Grabspruch und
Frage bestimmende Satz: „Der Flug ist / war das Leben wert.“
Aufgaben:
1. Fassen Sie den Bericht von Fabers letztem Flug (M 1) inhaltlich zusammen und
erarbeiten Sie, was den Protagonisten sinnlich und gedanklich während dieses
Flugs beschäftigt. (20 BE)
2. Vergleichen Sie, indem Sie das für Marga v. Etzdorf wichtige Foto (M 2) einbeziehen, Bedeutung und Erlebnis des Fliegens für sie und Faber. (25 BE)
3. Stellen Sie sich vor, Christian v. Dahlem hätte Marga in Berlin, als sie seine Hilfe
suchte, nicht nur die Adresse des Waffenschiebers Heymann genannt, sondern ihr
auch ein paar Goethe-Verse (M 3) vorgelesen. – Formulieren Sie ihre Gedanken
zu beidem in einem Tagebucheintrag. (20 BE)
4. Erörtern Sie, bezogen auf den letzten Flug der Etzdorf, die Schlussfrage des
Romans (und seines Autors): War dieser Flug das Leben wert? (35 BE)
Erlaubte Hilfsmittel:
– ein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung
– Uwe Timm: Halbschatten. München: dtv 2010
– Johann Wolfgang von Goethe: Faust I
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Material 1
Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)
Der Schweizer Walter Faber, ein technikgläubiger Ingenieur („homo faber“) und Rationalist, erzählt in diesem Roman sein Leben. Zu fliegen gehört zu Fabers Berufsalltag. Das Flugzeug ist ihm das effektivste Transportmittel. Auf zahlreichen Flugreisen war er unterwegs nach New York und zu seinen Großprojekten (er baute Staudämme in Entwicklungsländern), ohne je aus dem Fenster zu schauen. Aber nach der
Wiederbegegnung mit seiner Tochter Sabeth und nach ihrem tragischen Tod kehrt er
krank und als ein anderer in seine Heimat zurück. Er berichtet von seinem letzten
Flug über die Alpen.
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Mein letzter Flug!
Wieder eine Super-Constellation1.
[…]
Täler im Schräglicht des späteren Nachmittags, Schattenhänge, Schattenschluchten, die weißen Bäche drin, Weiden im Schräglicht, Heustadel, von der Sonne
gerötet, einmal eine Herde in einer Mulde voll Geröll über der Waldgrenze: wie
weiße Maden! (Sabeth würde es natürlich anders taufen, aber ich weiß nicht wie.)
Meine Stirne am kalten Fenster mit müßigen Gedanken –
Wunsch, Heu zu riechen!
Nie wieder fliegen!
Wunsch, auf der Erde zu gehen – dort unter den letzten Föhren, die in der Sonne stehen, ihr Harz riechen und das Wasser hören, vermutlich ein Tosen, Wasser trinken –
Alles geht vorbei wie im Film!
Wunsch, die Erde zu greifen –
Stattdessen steigen wir immer höher.
Zone des Lebens, wie dünn sie eigentlich ist, ein paar hundert Meter, dann wird die
Atmosphäre schon zu dünn, zu kalt, eine Oase eigentlich, was die Menschheit
bewohnt, die grüne Talsohle, ihre schmalen Verzweigungen, dann Ende der Oase, die
Wälder sind wie abgeschnitten (hierzulande auf 2 000 m, in Mexico auf 4 000 m),
eine Zeit lang gibt es noch Herden, weidend am Rand des möglichen Lebens, Blumen – ich sehe sie nicht, aber weiß es – bunt und würzig aber winzig, Insekten, dann
nur noch Geröll, dann Eis –
Einmal ein neuer Stausee.
Sein Wasser: wie Pernod2, grünlich und trübe, darin Spiegelweiß von einem Firn3,
ein Ruderschiff auf dem Ufer, Segment-Damm, kein Mensch.
Dann die ersten Nebel, jagend –
Die Gletscherspalten: grün wie Bierflaschenglas. Sabeth würde sagen: wie Smaragd! Wieder unser Spiel auf einundzwanzig Punkte! Die Felsen im späten Licht: wie
Gold. Ich finde: wie Bernstein, weil matt und beinahe durchsichtig, oder wie Knochen, weil bleich und spröde. Unser Flugzeugschatten über Moränen und Gletschern:
wie er in die Schlünde sackt, man meint jedesmal, er sei verloren und verlocht, und
schon klebt er an der nächsten Felswand, im ersten Augenblick: wie mit einer Pflasterkelle hingeworfen, aber er bleibt nicht wie Verputz, sondern gleitet und fällt
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wieder ins Leere jenseits des Grates. Unser Flugzeugschatten: wie eine Fledermaus!
so würde Sabeth sagen, ich finde nichts und verliere einen Punkt, ich habe anderes
im Kopf: eine Spur im Firn, Menschenspur, sie sieht aus wie eine Nieten-Naht,
Sabeth würde finden: wie eine Halskette, bläulich, in großer Schleife um eine weiße
Firn-Büste gehängt. Was ich im Kopf habe: Wenn ich jetzt noch auf jenem Gipfel
stehen würde, was tun? Zu spät, um abzusteigen; es dämmert schon in den Tälern,
und die Abendschatten strecken sich über ganze Gletscher, dann Knick in die
senkrechten Wände hinauf. Was tun? Wir fliegen vorbei; man sieht das Gipfelkreuz,
weiß, es leuchtet, aber sehr einsam, ein Licht, das man als Bergsteiger niemals trifft,
weil man vorher absteigen muß, Licht, das man mit dem Tod bezahlen müßte, aber
sehr schön, ein Augenblick, dann Wolken, Luftlöcher, die Alpensüdseite bewölkt,
wie zu erwarten war, die Wolken: wie Watte, wie Gips, wie Blumenkohl, wie Schaum
mit Seifenblasenfarben, ich weiß nicht, was Sabeth alles finden würde, es wechselt
rasch, manchmal ein Wolkenloch, in der Tiefe: ein schwarzer Wald, ein Bach, der
Wald wie ein Igel, aber nur eine Sekunde lang, die Wolken schieben sich durcheinander, Schatten der oberen Wolken auf den unteren, Schatten wie Vorhänge, wir fliegen
hindurch, Gewölk in der Sonne vor uns: als müsse unsere Maschine daran zerschellen, Gebirge aus Wasserdampf, aber prall und weiß wie griechischer Marmor, körnig –
Wir fliegen hinein.
Aus: Max Frisch: Homo faber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp TB 1977.
Anmerkungen
1 Super-Constellation: viermotoriges Verkehrsflugzeug
2 Pernod: Anis-Spirituose aus Frankreich
3 Firn: nicht schmelzender Schnee des Hochgebirges
Material 2
Uwe Timm: [Das Foto] (aus: Halbschatten)
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Und ein Foto in einer Illustrierten hat sich mir tief eingeprägt, das Foto von einem
Militärflugzeug. Man denkt beim Betrachten nicht an Kampf, an Leid und Tod. Das
Foto zeigt ein Flugzeug über den Wolken. Ein unruhiges Wolkenfeld, am Horizont
die untergehende Sonne, ich war, sagte ich, immer überzeugt, es könne nur die untergehende Sonne sein, links oben sammelt sich schon das Dunkel, unter den Wolken,
auf der Erde ist Finsternis und nach oben links, in dieses nahe Wolkendunkle des
Himmels fliegend, der Doppeldecker mit dem Eisernen Kreuz an dem Seitenruder.
Auf den Helmen des Piloten und des ein wenig höher sitzenden Beobachters liegt der
Glanz der untergehenden Sonne. Ein Bild voller Wehmut, ganz unbestimmbar. Wenn
ich es betrachtete, war mir immer, als flöge dort meine Seele mit. Hingegen waren
die Bilder von den brennenden, abstürzenden Maschinen mir zutiefst verhasst.
Ich kenne das Foto recht gut, sagte er. Ich kann es Ihnen schenken, wenn Sie
mögen.
Ich lag und hörte die Stille.
Aus: Uwe Timm: Halbschatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.
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Material 3
Johann Wolfgang von Goethe: Faust I; Vor dem Tor (V. 1070 –1125)
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Betrachte, wie in Abendsonneglut
Die grünumgebnen Hütten schimmern.
Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt,
Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.
O daß kein Flügel mich vom Boden hebt,
Ihr nach und immer nach zu streben!
Ich säh’ im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füßen,
Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal,
Den Silberbach in goldne Ströme fließen.
Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf
Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten;
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.
Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken;
Allein der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.
Ein schöner Traum, indessen sie entweicht.
Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.
Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.
[…]
O gibt es Geister in der Luft,
Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben,
So steiget nieder aus dem goldnen Duft
Und führt mich weg, zu neuem, buntem Leben!
Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein
Und trüg’ er mich in fremde Länder!
Mir sollt’ er um die köstlichsten Gewänder,
Nicht feil um einen Königsmantel sein.
Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Faust I
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Hinweise und Tipps
r Das Thema gilt Uwe Timms Roman „Halbschatten“, der auf Ihrem Lektüreplan
r steht. Voraussetzung für die erfolgreiche Lösung der Aufgaben zum Thema des Flier gens sind darum in erster Linie Kenntnisse zum Inhalt des Romans, zu seinen Hauptr figuren (Stimmen), der behandelten Problematik und der Entwicklung und Schichr tung der Handlung durch die besondere Erzählweise, die der Autor gewählt hat.
r Überlegungen zu Leistung und Funktion dieses Erzählens sollten Sie besonders bei
r der Lösung der schwerwiegenden letzten Aufgabe einbeziehen. Die historische Dir mension des Romans und das Thema des Erinnerns sollten verstanden sein, ohne
r dass etwa das vielfältige Gemurmel aus den Grüften des Invalidenfriedhofs im Einr zelnen identifiziert zu sein braucht. Nach der Rolle, die die japanische Kultur (immerr hin bis in den Titel und die „Philosophie“ des Erzählens hinein) in Timms epischer
r Komposition spielt, ist nicht gefragt, Wissen dazu kann aber sehr wohl zur Klärung
r von Sachverhalten beitragen.
r Die gegebene Übungsaufgabe übersteigt den Umfang regulärer Abitur-Aufgaben, um
r Sie auf gleich zwei naheliegende Vergleichstexte aufmerksam zu machen: auf das
r Motiv des Fliegens im Roman „Homo faber“ von Max Frisch und im „Faust“.
r Bei Aufgabe 1 wird von Ihnen erwartet, dass sie einen fremden literarischen Text
r verstehen, ihn erschließen und interpretieren können.
r Aufgabe 2 verlangt die Fähigkeit zu Transfer und Textvergleich. Der spezielle Verr gleichstext aus „Halbschatten“ ist zu Ihrer Arbeitserleichterung als M 2 beigefügt,
r aber Sie kommen nicht umhin, zusätzlich im Roman nachzuschlagen, verschiedene
r Ansichten zusammenzutragen, sich Notizen zu machen und gelegentlich auch zu zir tieren. Besonders die Teilaufgaben 2 und 4 sind komplex und fordern ein wenig
r detektivischen Spürsinn und überzeugendes Argumentieren. Sie müssen also tatr sächlich „im Text stehen“; auf der Grundlage von Sekundärwissen sind die Aufr gaben nicht zu lösen.
r Aufgabe 3 setzt voraus, dass Ihnen die Stelle aus „Faust“ nicht unbekannt ist, dass
r sie sich gut in Marga v. Etzdorf und ihre Situation einfühlen und etwas kreativ sein
r können. Die frappierende Verwandtschaft zwischen Fausts und Marga v. Etzdorfs
r Sehnsucht erlaubt Identifikation und emphatisches Sprechen. Wichtig wäre es, wenn
r Sie das hohe Risiko eines Begehrens um jeden Preis – und damit Brücke und Verbinr dung zu Teilaufgabe 4 – ausdrücken.
r Es ist ratsam, vor Schreibbeginn alle drei Materialien schon einmal gelesen zu
r haben. Bearbeiten Sie dann die Teilaufgaben möglichst in der gegebenen Reihenr folge und formulieren Sie Übergänge und Verbindungen.
r Die ausführlichen Lösungen, die Sie vorfinden, erkunden das Terrain zu Ihrer Orienr tierung. Sie können zu abweichenden Ergebnissen gelangen und entschieden weniger
r zu Papier bringen.
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Lösungshinweise
1. Der Auszug aus dem 1957 erschienenen Roman Homo faber von Max Frisch
handelt davon, wie der weltweit erfolgreiche Schweizer Ingenieur Walter Faber
am Ende seines Lebens als Passagier einer Super-Constellation über die ihm vertrauten Alpen nach Hause fliegt. Er weiß, dass es sein letzter Flug ist (vgl. Z. 1).
Von einem Fensterplatz aus (vgl. Z. 8) schaut und registriert er fast übergenau,
was von hoch oben zu sehen ist: Täler, Almen, Herden, ein Schiff am Ufer eines
Stausees, der neu für ihn ist, Wälder, die Waldgrenze, dann Steilhänge, Grate,
Gletscher, einmal eine Menschenspur im Firn, einmal ein Gipfelkreuz unter ihm.
Er fliegt durch einen sonnigen Spätnachmittag, bis die Maschine auf der Alpensüdseite in Wolken taucht. Er denkt über Leben und Tod nach und sehnt sich nach
der Erde (vgl. Z. 14). Ihn fasziniert der Schatten, den das Flugzeug auf Felsen und
Gletscher wirft. Zu seinen visuellen Eindrücken sucht er Vergleiche und überlegt,
welchen Vergleich seine verstorbene Tochter Sabeth wohl gefunden hätte. Sie
müssen sich mit diesem Vergleichsspiel nach Punkten (vgl. Z. 27 f.) herausgefordert und vergnügt haben. Die Trauer um Sabeth begleitet Faber auf diesem Flug.
Faber ist nachdenklich gestimmt. Er erkennt aus der Vogelperspektive, wie klein
der Raum in der Gebirgslandschaft und insgesamt auf der Erde ist, auf dem der
Mensch mit Pflanzen und Tieren siedeln kann. Und da das Flugzeug steigt, denkt
er daran, dass auch in der Vertikalen die Atmosphäre rasch zu dünn für Leben
wird. Weil ihm die Zone des Lebens als „Oase“ (Z. 17) im öden, leeren Raum erscheint, muss er es als etwas Gefährdetes und Kostbares und wohl als ein Wunder
begreifen, ohne dass er das ausspricht. Er assoziiert Tod mit den Felsen unter sich,
da sie ihn an bleiche, spröde Knochen erinnern (vgl. Z. 29 f.). Er denkt an den Tod,
wenn er bemerkt, wie der winzige Flugzeugschatten („wie eine Fledermaus“) unter ihm jenseits der Grate „wieder ins Leere [fällt]“ (Z. 33 f.), und ihn beschäftigt
das im Abendlicht leuchtende Gipfelkreuz, während auf der Welt darunter schon
Dunkelheit liegt. Faber stellt sich vor, als Bergsteiger selbst dort zu stehen, nicht
beizeiten abgestiegen zu sein und dieses Licht zu erleben. Es wäre ein Glück, das
mit dem Tod bezahlt werden müsste. Aber, fügt er hinzu, „sehr schön“ (Z. 44). Es
scheint, als bejahe er hier den Tod als Preis für den glücklichen und auch erhebend-erhabenen Augenblick. Sein Flugerlebnis insgesamt ist bestimmt von der
Aufmerksamkeit für Licht und Schatten, die zu Metaphern für Leben und Tod
werden. Gleich nach dem Blick auf das Gipfelkreuz hat die Maschine sich verdichtende Wolken zu passieren, dann Wolkenschatten „wie Vorhänge“, sodass Faber den Eindruck hat, sie – obgleich doch eine Super-Constellation – müsse daran
zerschellen (vgl. Z. 50 f.). Der Schlusssatz „Wir fliegen hinein“ scheint – auch
mitbestimmt vom Anfangssatz (Z. 1) – Fabers Bewusstsein davon auszudrücken,
dass er sterben wird: Er fliegt gleichsam in den ihm bevorstehenden Tod.
2. Marga v. Etzdorf, der Uwe Timms Roman Halbschatten gilt, ist keine rein fiktive Figur wie Walter Faber. Timm hat einerseits recherchiert, andererseits gedichtet. Die historische Marga v. Etzdorf hat von 1907 bis 1933 gelebt und gehört zu
den Pionieren des Langstreckenflugs. Sie war sehr jung, als sie starb, und war ge6