Altersabhängige Spätehenklauseln sind unwirksam

Rechtsprechung
Altersabhängige
Spätehenklauseln
sind unwirksam
§ 10 Satz 3 Nr. 4 AGG
Regelungen, die eine Hinterbliebenen­
versorgung nur dann zusagen, wenn die
Ehe vor Vollendung des 60. Lebensjahres
des Arbeitnehmers geschlossen wurde
(sog. Spätehenklausel), stellen eine un­
zulässige Altersdiskriminierung dar und
sind daher unwirksam.
(Leitsatz der Bearbeiterinnen)
BAG, Urteil vom 4. August 2015 –
3 AZR 137/13
Problempunkt
Das BAG hatte über die Wirksamkeit folgender
Klausel zu entscheiden:
„VII. Anspruchsvoraussetzungen für Witwen­
rente
[...] Zusätzliche Anspruchsvoraussetzungen
sind, dass der Mitarbeiter [...] die Ehe vor der
Vollendung seines 60. Lebensjahres geschlos­
sen hat und dass bereits am 1. Mai vor seinem
Tode sowohl die Wartezeit [...] abgelaufen ist,
als auch die Ehe mindestens ein Jahr bestanden
hat.“
Im konkreten Fall hatte die Witwe den ehema­
ligen Arbeitgeber ihres verstorbenen Mannes
verklagt, weil er ihr eine Hinterbliebenenversor­
gung aufgrund dieser Regelung verweigerte
(der Ehemann war bei Eheschließung bereits
61 Jahre alt gewesen).
Entscheidung
Das Gericht entschied zu Gunsten der Witwe
und verurteilte den Arbeitgeber, an sie lebens­
lang eine Hinterbliebenenrente zu leisten.
Es stellte fest, dass die Spätehenklausel gem.
§ 7 Abs. 2 AGG unwirksam ist, da sie eine un­
mittelbare Benachteiligung wegen des Alters
nach §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 AGG darstellt, die
nicht nach § 10 AGG sachlich gerechtfertigt ist.
Eine Rechtfertigung kommt grundsätzlich in
Betracht für Ungleichbehandlungen bzgl. der
Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieb­
lichen Systemen der sozialen Sicherheit (z. B.
bAV) als Voraussetzung für den Bezug von Al­
tersrente oder von Leistungen bei Invalidität,
§ 10 Satz 3 Nr. 4 AGG.
Arbeit und Arbeitsrecht · 2 / 16
Nach Auffassung des BAG knüpft diese Fall­
gruppe jedoch ausschließlich an die Risiken Al­
ter und Invalidität und gerade nicht an das Risi­
ko des Todes an, mit der Folge, dass ausschließ­
lich die Alters- und Invaliditäts-, nicht jedoch
die Hinterbliebenenversorgung erfasst sein
kann. Dies hat bereits der EuGH in einer an
ihn gestellten Vorlagefrage entsprechend ent­
schieden (EuGH, Urt. v. 26.9.2013 – C-546/11,
Dansk Jurist).
In zeitlicher Hinsicht sind vom Urteil alle Fälle
erfasst, bei denen der (ehemalige) Mitarbeiter
nicht vor dem 18.8.2006 verstorben ist. Ist der
(ehemalige) Beschäftigte ab diesem Zeitpunkt
verstorben und die Hinterbliebenenleistung
(ausschließlich) aufgrund der Spätehenklausel
nicht ausgezahlt worden, müssten die Witwen/
Witwer nachträglich ab dem 18.8.2006 ent­
sprechende Leistungen erhalten.
Auch eine Rechtfertigung gem. § 10 Satz 1 und
Satz 2 AGG kommt nicht in Betracht, da die Al­
tersgrenze von 60 Jahren in der Spätehenklau­
sel zur Erreichung eines legitimen Ziels nicht
angemessen und erforderlich ist.
Der 3. Senat hat ausdrücklich offen gelassen,
inwieweit die Ziele des Arbeitgebers, die er mit
der Klausel verfolgt, im Einzelnen legitim sind.
Klargestellt hat er aber, dass nur solche „legiti­
me Ziele“ i. S. d. AGG sein können, die den In­
teressen der Beschäftigten Rechnung tragen.
Ziele, die ausschließlich im Eigeninteresse eines
Unternehmens liegen (z. B. Risikobegrenzung
zur verlässlichen Kalkulation, Kostenreduzie­
rung oder die Verbesserung der Wettbewerbs­
fähigkeit), stellen dagegen keine legitimen Ziele
dar.
Jedenfalls aber stellt die konkrete Altersgrenze
eine übermäßige Beeinträchtigung der Interes­
sen der Arbeitnehmer dar, die aufgrund der
Klausel von der Hinterbliebenenversorgung
ausgeschlossen werden, weil sie erst nach Voll­
endung des 60. Lebensjahres geheiratet haben.
Außerdem geht die Regelung nach Auffassung
des Gerichts über das hinaus, was zur Zielerrei­
chung notwendig ist.
Praxistipp
Konsequenzen
Spätehenklauseln werden in Versorgungsord­
nungen regelmäßig eingesetzt, um den Kreis
der Leistungsempfänger zu begrenzen, da ins­
besondere bei der Hinterbliebenenversorgung
viele unüberschaubare Risiken im Hinblick auf
den Zeitpunkt und die Dauer der Leistung be­
stehen (vgl. hierzu Jura/Pfefferer, AuA 11/14,
S. 668).
Klauseln, die auf die Vollendung des 60. Le­
bensjahres abstellen, sind vom Zeitpunkt des
Inkrafttretens des AGG am 18.8.2006 an un­
wirksam. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Ar­
beitgebers dahin, dass die – ggf. vorher in Kraft
getretene – Spätehenklausel trotz der Bestim­
mungen des AGG wirksam bleibt und insbeson­
dere, dass der ursprünglich für die Hinterbliebe­
nenversorgung festgelegte Dotierungsrahmen
infolgedessen nicht überschritten wird, besteht
nicht. Solche Klauseln sind daher zukünftig
nicht mehr als Instrument zur Risikobegrenzung
zu empfehlen.
Zwingender Handlungsbedarf besteht für Un­
ternehmen, deren Versorgungsregelung eine
Spätehenklausel enthält, die auf die Altersgren­
ze 60 abstellt. Folgende Klauseln sollten im Ein­
zelfall auf möglicherweise bestehenden Hand­
lungsbedarf überprüft werden:
›› Spätehenklauseln, die eine andere Alters­
grenze enthalten,
›› Mindestehedauerklauseln: deren Wirksam­
keit ließ das BAG offen – sie hängt von der
konkreten Ausgestaltung im Einzelfall ab,
›› Altersabstandsklauseln: auch deren Wirk­
samkeit ließ das Gericht ausdrücklich offen.
Vom Urteil nicht betroffen sind Klauseln, die
sich auf das Ende des Arbeitsverhältnisses bzw.
auf den Eintritt des Versorgungsfalls beziehen.
Das BAG hat bereits in früheren Urteilen (Urt.
v. 15.10.2013 – 3 AZR 653/11 [Ende des Ar­
beitsverhältnisses], AuA 12/15, S. 732, und v.
15.10.2013 – 3 AZR 294/11 [Eintritt des Ver­
sorgungsfalls]) entschieden, dass diese Sach­
verhalte jeweils eine wesentliche Zäsur darstel­
len und als sachgerechte Anknüpfungspunkte
gelten, um die Hinterbliebenenversorgung ent­
sprechend einzuschränken. Solche Klauseln sind
nach derzeitiger Rechtslage auch weiterhin
wirksam.
Spätehenklauseln müssen also trotz dieser
Entscheidung nicht generell unwirksam sein,
insbesondere dann nicht, wenn sie unabhängig
von einer Altersgrenze ausgestaltet sind. Dage­
gen müssen Arbeitgeber bei rein altersabhängi­
gen Klauseln damit rechnen, dass u. U. hohe
Nachzahlungen auf sie zukommen können.
Kristina Rutow,
Stefanie Pfefferer,
Rechtsabteilung, Aon Hewitt GmbH,
München
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