NS-Prozess - Meine Schuld - Süddeutsche.de

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Politik
15. Juli 2015, 18:57 NS-Prozess
Meine Schuld
Oskar Gröning sagt, es tue ihm "aufrichtig leid", was er in Auschwitz getan
habe. Aber es gibt keine Worte für das Unfassbare.
Von Hans Holzhaider
Auf seltsame Weise ist die Stadt Lüneburg mit der Geschichte der strafrechtlichen
Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen verknüpft. Vom 17.
September bis zum 17. November 1945 verhandelte in einer Turnhalle in Lüneburg
ein britisches Militärgericht gegen 45 Mitglieder des Lagerpersonals im
Konzentrationslager Bergen-Belsen, darunter auch dessen letzten Kommandanten
Josef Kramer, den die Briten die "Bestie von Bergen-Belsen" nannten. Es war der
erste Prozess gegen NS-Täter auf deutschem Boden. Von Mai bis Dezember 1944
war Kramer Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Das war die
Zeit, in der 437 000 ungarische Juden nach Auschwitz verschleppt wurden, von
denen etwa 320 000 unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern starben.
Kramer wurde in Lüneburg zum Tode verurteilt; am 13. Dezember 1945 wurde er in
Hameln gehängt. Er war 39 Jahre alt.
70 Jahre später, am 21. April 2015, beginnt in Lüneburg abermals ein Prozess
gegen einen NS-Täter: Oskar Gröning. Er ist bei Prozessbeginn 93 Jahre alt. Er war
in Auschwitz, als Josef Kramer dort Kommandant war. Er ist angeklagt wegen
Beihilfe zum Mord an jenen 320 000 ungarischen Juden, die unter Kramers
Kommando in die Gaskammern getrieben wurden. Niemand käme auf die Idee,
Oskar Gröning eine Bestie zu nennen. Aber weil die Medien griffige Formulierungen
lieben, hat man ihn den "Buchhalter von Auschwitz" genannt. Oskar Gröning,
gelernter Bankkaufmann, hatte das Geld, das man den todgeweihten Juden
abgenommen hatte, zu zählen, nach Währungen zu sortieren und nach Berlin
zu schicken.
Es war wahrscheinlich der letzte Prozess gegen einen NS-Täter auf
deutschem Boden
Am Mittwoch hat das Schwurgericht am Landgericht Lüneburg unter dem Vorsitz
von Franz Kompisch Oskar Gröning zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Es war
mit einiger Wahrscheinlichkeit der letzte Strafprozess gegen einen NS-Täter auf
deutschem Boden.
Es gibt ein Foto von Oskar Gröning, aufgenommen im Juni 1942, er war 21 Jahre
alt. Ein schmales Gesicht, weiches Kinn, schön geschwungene Lippen,
nachdenkliche Augen hinter einer metallgefassten Brille. Er trägt SS-Uniform, die
Runen am Kragenspiegel; an der Mütze, in bizarrem Kontrast zu dem noch
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jugendlichen Gesicht, der Totenschädel über gekreuzten Knochen. Als dieses Foto
entstand, tat Oskar Gröning Dienst in der Besoldungsstelle des SS-Standorts
Dachau, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konzentrationslager. Er war am Ziel
seiner Wünsche.
Er hat vor Gericht keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit Leib und Seele
Nationalsozialist war. Der Vater, der im Ersten Weltkrieg ein Auge verloren hatte,
war Mitglied im Stahlhelm, der paramilitärischen Schutztruppe der
Deutschnationalen Volkspartei. Als Zwölfjähriger marschierte Oskar Gröning in der
Jugendorganisation des Stahlhelm. Uniform, Fahne, Disziplin, Gehorsam - das
waren die höchsten Werte im Hause Gröning.
September 1939: Hitlers Armee marschiert in Polen ein. Oskar Gröning ist
begeistert. "Da konnten wir mal die Polacken verhauen" - so redet er noch im Jahr
2015. Die Waffen-SS! Die zackigste Truppe! "Wir wollten dazugehören!" Im Oktober
1940 meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. Bei der Musterung sagt er: "Ich möchte
Zahlmeister bei der Waffen-SS werden."
Im September 1942 wird Oskar Gröning mit einigen Kameraden nach Berlin
beordert. Er erinnert sich an ein Konferenzzimmer, die Wände holzvertäfelt, eine
ganze Riege hoher SS-Führer. "Das war eine Zeremonie, vollkommen rätselhaft",
sagt Gröning. Man habe ihm und seinen Kameraden eröffnet, sie würden für eine
Tätigkeit gebraucht, "die sicher nicht angenehm ist, aber die gemacht werden muss,
um den Endsieg zu erreichen". Er unterschreibt eine Verpflichtungserklärung, die
ihm strengste Verschwiegenheit auferlegt. "Wussten Sie, worum es gehen würde?",
fragt der Vorsitzende Richter. "Nein", sagt Gröning, "keine Ahnung."
Am nächsten Tag fährt er mit dem Zug nach Auschwitz. Er erfährt sehr schnell,
worum es in Auschwitz geht. "Seit meinem ersten Abend in Auschwitz wusste ich
aus Erzählungen anderer SS-Männer, was mit den nach Auschwitz deportierten
Menschen geschah, nämlich dass die meisten unmittelbar nach ihrer Ankunft in den
Gaskammern ermordet und ihre Leichen anschließend verbrannt wurden."
"Entsorgt", heißt das im SS-Jargon. Oskar Gröning nimmt daran keinen Anstoß.
Wenn der Führer sagt, dass die Juden der Untergang des deutschen Volkes sind,
dann wird das alles schon seine Richtigkeit haben. "Der Gedanke, im falschen Boot
zu sitzen, ist mir nicht gekommen." Außerdem gibt es in Auschwitz einige
Annehmlichkeiten für das SS-Personal. Ölsardinen, Speck. Und Wodka, Wodka,
Wodka. "Ich weiß heute noch, wie die Versiegelung aufging." Oskar Gröning greift
zu einer kleinen Wasserflasche. "Mache ich so wie mit dem Wodka in Auschwitz",
sagt er, legt den Kopf in den Nacken und trinkt das halbe Fläschchen leer.
Dann geschieht etwas, was in Oskar Gröning eine zumindest zeitweilige
Erschütterung auslöst. November 1942, er ist seit zwei Monaten in Auschwitz, zum
ersten Mal wird er an der Rampe eingesetzt, wo die zu Tode erschöpften, halb
verdursteten Menschen aus den Viehwaggons ausgeladen und zur Selektion
aufgestellt werden. Die Kolonnen sind abmarschiert, die einen direkt in die
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Gaskammer, die anderen zum Arbeitseinsatz ins Lager. Zwischen den
zurückgelassenen Habseligkeiten der Juden schreit ein Baby. Gröning sieht, wie ein
SS-Mann das Baby aufnimmt. "Er schlug es gegen einen Lkw, und das Schreien
hörte auf. Da blieb mir das Herz stehen. Ich ging zu dem Mann und sagte: ,Das geht
doch nicht.' Am nächsten Morgen bat ich um meine Versetzung." Sein Vorgesetzter,
sagt Gröning, habe ihn jedoch nur "lautstark" an die Verpflichtungserklärung
erinnert, die er unterschrieben habe. "Dem habe ich mich gefügt."
Einige Wochen später gibt es eine zweite Erschütterung. Ein nächtlicher Alarm:
"Juden sind ausgebrochen." Die SS-Männer durchkämmen einen Wald. Sie
kommen zu einem Bauernhof. Sie sehen Leichen, sehen, wie nackte Menschen in
das Gebäude getrieben werden, wie sich ein SS-Mann eine Gasmaske über den
Kopf zieht und den Inhalt einer Dose in eine Luke kippt. Der Bauernhof wurde zu
einer provisorischen Gaskammer umfunktioniert. Gröning hört Schreie, die zuerst
lauter werden, dann leiser, dann verstummen. Auf dem Weg zurück ins Lager
kommt er an einer Grube vorbei, in der Leichen auf einem Scheiterhaufen
verbrannt werden.
Nach diesem Erlebnis, sagt Gröning, habe er erneut ein Versetzungsgesuch gestellt.
Wieder ohne Erfolg. Er findet sich widerspruchslos damit ab. Tut weiter seinen
Dienst, sortiert das Geld der toten Juden, trinkt Wodka, spielt Karten mit den
Kameraden. Ende 1943 heiratet er die Verlobte seines Bruders, der in Stalingrad
gefallen ist. Im August 1944 wird sein erster Sohn geboren. Im September stellt er
wieder ein Versetzungsgesuch. Diesmal wird ihm stattgegeben. Gröning kommt an
die Westfront, er kämpft in der Ardennen-Offensive, gerät in britische
Gefangenschaft. 1948 wird er entlassen. Er kehrt heim zu seiner Familie, er
bekommt eine Stelle als Lohnbuchhalter in einer kleinen Fabrik, er sammelt
Briefmarken. Er redet nicht über Auschwitz. 30 Jahre lang.
Schon 1984 muss er vor Gericht, als Zeuge. Der Richter lobt ihn für
seine vorbildlichen Aussagen
Am 5. Januar 1978 wird Oskar Gröning nach Nienburg an der Weser zu einer
Vernehmung einbestellt. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hat Ermittlungen gegen
62 Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung in Auschwitz aufgenommen.
Gröning erzählt bereitwillig von seiner Dienstzeit in Auschwitz. Er beschreibt die
Strukturen der SS-Lagerverwaltung, er nennt Namen seiner Vorgesetzten und
Kameraden. Er hört nie wieder etwas von dem Ermittlungsverfahren. Er erfährt
nicht, dass es 1985 eingestellt wird. Aber schon vorher, im November 1984, erhält er
erneut eine Ladung, diesmal zu einer Vernehmung als Zeuge. Die
Staatsanwaltschaft Wuppertal ermittelt gegen Gottfried Weise, den sie den "Wilhelm
Tell von Auschwitz" nannten. Er wird beschuldigt, zwei Kinder ermordet zu haben. Er
stellte ihnen Konservendosen auf den Kopf und die Schultern, die er dann
herunterschoss. Danach tötete er die Kinder mit Kopfschüssen. Weise hatte die
Taten hartnäckig geleugnet. Er könne es nicht gewesen sein, weil er ausschließlich
Dienst in der Häftlingsgeldverwaltung getan habe - eben dort, wo auch Gröning
arbeitete. Gröning macht sein Alibi zunichte. Er kenne Weise nicht, sagt er, er habe
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ihn nie gesehen. Weise wird zu lebenslanger Haft verurteilt. In der
Urteilsbegründung wird die Rolle des Zeugen Gröning gewürdigt: Er habe sich als
einziger ehemaliger SS-Mann nicht "in die Mauer des Schweigens" eingereiht,
sondern nach bestem Wissen Auskunft gegeben, obwohl er die Aussage hätte
verweigern können.
Das Urteil gegen Oskar
Gröning lautet vier
Jahre Haft. Er ist 94,
das kann leicht
lebenslang bedeuten.
(Foto: Ronny
Hartmann/dpa)
Es muss sich, durch diese Konfrontationen mit seiner Vergangenheit, etwas bewegt
haben in Oskar Gröning. Er hat sein Schweigen gebrochen, etwas arbeitet in ihm.
1985, bei einer Versammlung seines Briefmarkenvereins, spricht ihn einer seiner
Vereinsfreunde an: Wie unmöglich er es finde, dass in Deutschland Leute bestraft
würden, nur weil sie den Holocaust leugneten, der doch in Wirklichkeit nie
stattgefunden habe. Der Mann schickt Gröning das Buch "Die Auschwitzlüge" des
Nazi-Apologeten Thies Christophersen. Gröning schickt es ihm zurück, mit einigen
Anmerkungen: Er wisse, was stattgefunden habe. Er war dabei. Er hat es gesehen.
2005. Wieder sind 20 Jahre vergangen. Die BBC war bei Oskar Gröning, die
englischen Fernsehleute arbeiten an einer Dokumentation über Auschwitz. Neun
Stunden lang hat Gröning vor der Kamera Rede und Antwort gestanden. Der
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Spiegel-Reporter Matthias Geyer wird auf Gröning aufmerksam. Er besucht ihn in
seinem Haus in der Lüneburger Heide. Gröning redet und redet, Stunde um Stunde.
Er erzählt von Änne Selig, der Tochter des jüdischen Eisenwarenhändlers, mit der er
als Kind spielte. Von den SA-Männern, die eines Tages mit einem Schild kamen:
"Deutsche, kauft nicht bei Juden". Dass es doch immer geheißen habe, die Juden
hauen die Christen übers Ohr. Geyer beschreibt, wie Oskar Gröning unvermittelt
anfängt zu singen, "erst leise, dann lauter: ,Und wenn das Judenblut vom Messer
spritzt, dann geht's noch mal so gut.'" "Für einen Moment", schreibt der Reporter,
"verschwimmen die Grenzen zwischen dem Mann von heute und dem Mann von
damals, dann kehrt er zurück, ins Heute, und sagt: ,Da haben wir doch nicht drüber
nachgedacht, was wir da singen.'" Geyers Reportage ist ein großes Stück
Journalismus. "Haben Sie Schuld?", fragt er Gröning. "Oskar Gröning denkt lange
nach. Es geht darum, die richtigen Worte zu finden. Dann sagt er: ,Schuld hängt
eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger
gewesen zu sein, meine ich auch, nicht schuldig zu sein." "Seit 60 Jahren" fasst der
Reporter sein Gespräch mit dem mittlerweile 83-Jährigen zusammen, "sucht
Gröning nach einem anderen Wort für Schuld."
Er sucht noch immer danach. Er ist jetzt 94 Jahre alt, er ist nicht hinfällig, aber
gesundheitlich doch so labil, dass er problemlos einen Arzt finden könnte, der ihn für
verhandlungsunfähig erklärt. Er tut es nicht. Er stellt sich der Konfrontation mit den
Menschen, für die er vor 71 Jahren den entsetzlichsten nur vorstellbaren Schrecken
verkörperte, allein durch seine Anwesenheit, durch seine Uniform. Sie kommen aus
Israel, aus Ungarn, aus Kanada, aus den USA. Der Anwalt Thomas Walther, der
viele von ihnen als Nebenkläger vertritt, hat dem Gericht die unaussprechliche Angst
geschildert, die auch nach 70 Jahren noch in den Köpfen und den Herzen dieser
Überlebenden steckt, die Angst, in das Land der Täter zurückzukehren und einem
von denen, die damals mit einer Handbewegung zum Tod verurteilen konnten,
leibhaftig gegenüberzutreten.
Die Nebenkläger hatten sich einen Dialog mit ihm gewünscht. Aber
ein Gericht ist der falsche Ort dazu
rene Weis zum Beispiel, die 13 Jahre alt war, als sie auf der Rampe in Auschwitz
von ihrer Mutter und ihren kleinen Geschwistern getrennt wurde. "Er sagt, er
betrachte sich nicht als Täter, sondern nur als ein kleines Rädchen im Getriebe",
sagt sie. "Aber wenn er heute in seiner SS-Uniform hier säße, würde ich zittern, und
der ganze Horror, den ich als 13-Jährige erlebt habe, käme zurück. Für diese
13-Jährige stand jeder, der diese Uniform trug, für den Terror und den Abgrund, in
den Menschen sinken können, ganz gleich in welcher Funktion sie auftraten. Und
heute, mit 84 Jahren, empfinde ich das noch genauso."
Was hätte Oskar Gröning sagen können, um diesen Schrecken zu lindern? Thomas
Walther machte sich zum Sprachrohr seiner Mandanten. Er spricht mit ihrer Stimme:
"Wir haben gehofft, dass Sie, Herr Gröning, unsere Klage so begreifen, wie sie eben
nur einer der Täter begreifen kann. Nur Sie sind uns in der Stunde des Todes
unserer Familien so hautnah begegnet. Wir hatten die Hoffnung entwickelt, im
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besten Falle könne zwischen uns und Ihnen eine Art Dialog entstehen."
Aber ein Gerichtssaal ist kein Ort für einen Dialog. Der Strafrichter ist kein Mediator.
Was also könnte Oskar Gröning sagen? Um Entschuldigung bitten? Wie könnte
jemand entschuldigen, was in Auschwitz geschah? Um Verzeihung bitten? Das,
sagte Gröning, stehe ihm wohl nicht zu. "Darum kann ich nur meinen
Herrgott bitten."
Thomas Walther sagt in seinem Plädoyer, was fehle, sei "die offene Beschreibung
der wirklichen Tatbeteiligung". Dass Gröning "seine eigene Traumwelt der
Verharmlosung und die Wortkargheit bei der Erinnerung des Massenmordes
verlässt". Dass er seine Erschütterung nicht nur am zerschmetterten Kopf eines
Babys festmacht, während gleichzeitig Tausende und Abertausende fabrikmäßig zu
Asche gemacht werden. "War er", fragt der Rechtsanwalt Walther, "zu dieser Zeit an
Tod und Vernichtung schon so gewöhnt, dass nur jene eine frühe Begegnung mit
einem einzigen Baby erinnerlich und erwähnenswert blieb?"
Dann unternimmt er einen zweiten Anlauf, sich zu erklären. Aber
auch das gelingt nicht
Oskar Gröning unternimmt einen zweiten Anlauf, sich zu erklären. Er spricht nicht
selbst, seine Verteidigerin Susanne Frangenberg liest den Text vor. "Während
meiner Zeit in Auschwitz habe ich versucht, mich rauszuhalten und mich auf meine
Tätigkeit in der HGV (der Häftlingsgeldverwaltung) beschränkt. Es fand bei mir eine
Verdrängung statt, die mir heute unerklärlich ist. Vielleicht war es die Gewohnheit,
Tatsachen so zu akzeptieren, wie sie auftraten. Vielleicht war es aber auch die
Bequemlichkeit des Gehorsams, zu dem wir erzogen waren, und der Widersprüche
nicht zuließ. Dieser uns anerzogene Gehorsam verhinderte, die tagtäglichen
Ungeheuerlichkeiten als solche zu registrieren und dagegen zu rebellieren. Es ist
nach heutigen Maßstäben nicht zu fassen." Er sagt, die Schilderungen der
Überlebenden hätten ihn "außerordentlich stark beeindruckt". Das Leiden der
Deportierten in den Zügen, die Selektion und die Vernichtung der Menschen seien
ihm hierdurch "nochmals in aller Deutlichkeit bewusst geworden". Es sei ihm auch
bewusst geworden, dass er sich am Holocaust mitschuldig gemacht habe, "mag
mein Anteil auch klein gewesen sein".
War das jetzt besser? Thomas Walther findet: Nein. Die Bequemlichkeit des
Gehorsams: "Ist der Mann Gröning nicht wenigstens verantwortlich für seinen
eigenen Gehorsam?" Und was soll das heißen: "Nach heutigen Maßstäben nicht zu
fassen"? War das, was in Auschwitz geschah, denn etwa nach damaligen
Maßstäben zu fassen?
Nein, der Mann Gröning steht auf verlorenem Posten, wenn von ihm gefordert wird,
er solle Worte finden, die den Schrecken lindern können. Zuletzt nimmt er Zuflucht
zu einer Formulierung, die ihm der Nebenklägeranwalt Cornelius Nestler
vorgegeben hat: "Auschwitz ist ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte." Dass
er das nicht früher erkannt habe, "das tut mir aufrichtig leid".
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Nun hat der Vorsitzende Richter Franz Kompisch das Urteil verkündet: vier Jahre
Haft, das ist ein halbes Jahr mehr, als der Staatsanwalt beantragt hat, und es soll
auch keinen Strafnachlass dafür geben, dass dieses Verfahren erst 70 Jahre nach
der Tat stattgefunden hat, und nicht schon viel früher, als die Justiz mit Tätern wie
Oskar Gröning noch sehr viel nachsichtiger umging. Vier Jahre - das kann für einen
94 Jahre alten Mann leicht lebenslang bedeuten. Natürlich wird die Verteidigung
Revision einlegen. Natürlich wird zu prüfen sein, ob Oskar Gröning noch haftfähig
ist. Und möglicherweise bedeutet dieses Urteil auch eine Art Erlösung, Erlösung von
der ewigen und vergeblichen Suche nach einem anderen Wort für Schuld.
"Vielleicht", sagt Richter Kompisch, "nimmt diese Strafe für Sie etwas vorweg, was
Sie eigentlich nur von Ihrem Herrgott erfahren wollten."
Oskar Gröning schaut den Richter an und nickt.
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