Liebe Familie Mutters, liebe Trauergäste, heute begleiten wir Tom Mutters auf seinem letzten Weg. Wenn wir hier sind um Ihnen, liebe Frau Mutters und Ihnen, liebe Familienangehörige, unser tiefes Mitempfinden auszudrücken, dann begleiten uns dabei zwei Gefühle – Trauer aber auch unendliche Dankbarkeit. Es hat uns sehr berührt, als Sie uns am 2. Februar mitgeteilt haben, dass Herr Mutters nachdem er immer schwächer geworden war, zuhause in Frieden gestorben ist. Wie wahrscheinlich vielen aus seinem engen Familien- oder Freundeskreis, war es genau diese Nachricht, die uns geholfen hat, in der Stunde der Trauer. An dieser Stelle möchte ich auch das tiefe Mitempfinden und die Trauer und große Dankbarkeit unseres Ehrenvorsitzenden, dem Träger der Tom-Mutters Medaille Robert Antretter überbringen. Er empfindet es sehr schmerzhaft aufgrund einer eigenen Erkrankung heute nicht dabei sein zu können. Tom Mutters war ein Visionär. Er war ein Freund behinderter Menschen. Seit der Begegnung mit den Kindern mit Behinderung in Goddelau hatte sein Leben eine Richtung, wie er dies oft selbst beschrieben hat: „In ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit haben diese Kinder mir ermöglicht, den wirklichen Sinn des Lebens zu erkennen, und zwar in der Hinwendung zum Nächsten.“ Zum 50. Geburtstag der Bundesvereinigung Lebenshilfe – im Jahr 2008 – habe ich Herrn Mutters persönlich kennengelernt. Mit wachem, freundlichem Blick und charmantem Lächeln kam Tom Mutters – damals schon im 92. Lebensjahr – auf mich zu. Und ich konnte mich seiner Aura nicht entziehen. Während der Feierlichkeiten zum Lebenshilfe-Jubiläum habe ich dann gemerkt, dass es sehr vielen der Anwesenden ähnlich ging. Es war irgendetwas, was sie ganz tief verbunden hat. Es war eine emotionale Bindung und wenn man heute sieht, dass viele Vertreter der ganzen Bundesrepublik, aus den Ortsvereinigungen und den Landesverbänden heute hier sind, dann ist ihr Kommen tiefe Dankbarkeit und Ausdruck dieser tiefen Verbundenheit. Tom Mutters war als Gründer der Lebenshilfe überaus präsent und wurde von allen - man kann es so sagen –richtiggehend verehrt. Es war spürbar, wie sehr sein Wirken für Menschen mit Behinderung und ihre Familien Geschichte geschrieben hat. Nach der Tätigkeit als Leiter des Schulfilminstitutes in Amsterdam kam er 1949 als UN-Vertreter nach Deutschland. Zunächst als Beauftragter im Kindersuchdienst, seit 1952 als Verbindungsoffizier für Flüchtlinge. So kam er auch nach Goddelau, wo er auf behinderte Kinder traf, die über alle Maßen vernachlässigt waren. Jemand wie er konnte das nicht einfach hinnehmen. Er gründete zunächst ein Internationales Hilfswerk für Flüchtlingskinder, die aufgrund ihrer Behinderung von ihren Eltern zurückgelassen werden mussten, als diese aus Deutschland auswanderten. Kurze Zeit später baute er in Marburg ein Heim für behinderte Kinder. Das Kerstinheim gibt es heute noch. Tom Mutters dachte im besten Sinne des Wortes immer „groß“. Und handelte danach. Für ihn war klar, dass es in Deutschland – nach der Nazi-Diktatur mit der Ermordung hunderttausender behinderter Menschen – einer nationalen Kraftanstrengung bedarf, um gerade auch Menschen mit geistiger Behinderung aus der Isolation, aus dem „Versteckt werden“ in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Er war überzeugt, dass es für diese Mammutaufgabe eines starken und unabhängigen Bundesverbandes bedarf. Darüber schrieb er selbst: „Denn einiges war uns durch unsere bisherigen Erfahrungen klar geworden: Das was wir erreichen wollten – eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen – ließ sich nur realisieren über eine breit angelegte Selbsthilfe- und Bürgerinitiative, in der Eltern, Fachleute und Freunde behinderter Menschen zusammenarbeiten; und zwar in einer selbstständigen, unabhängigen Organisation…“ Und er machte sich an die Arbeit. Und er war überaus erfolgreich, wie wir heute wissen. Es begann mit der Gründung der Bundesvereinigung 1958 in Marburg, gemeinsam mit Eltern und Fachleuten, die er mit seiner überzeugenden und charismatischen Art schnell gewann und ermutigte. Er war unermüdlich im ganzen Land unterwegs, erst ehrenamtlich, und seit 1960 als Geschäftsführer. Nach 10 Jahren hatte er schon mehr als 300 Lebenshilfe-Orts- und Kreisvereinigungen mitgegründet. Jedes Mal ermutigte er Eltern, sich zu ihren Kindern zu bekennen, für sie einzutreten und gemeinsam zu streiten. Und legte damit den Grundstein, um Hilfen aller Art zu schaffen. „Tom, der Gründer“ wurde zum geflügelten Wort. Noch heute begegnen mir bei meinen Besuchen örtlicher LebenshilfeVereinigungen immer wieder seine Spuren. Begeistert wird von Tom Mutters und Begegnungen mit ihm erzählt, sehr liebevoll und mit Dankbarkeit: Viele Einrichtungen tragen seinen Namen. Unermüdlich hat er gemeinsam mit allen in der Lebenshilfe dafür gesorgt, dass ein neues Bewusstsein entstand: Dass klar wurde, Menschen mit geistiger Behinderung können und möchten etwas lernen. Sie können und wollen arbeiten. Dieses Denken war die Voraussetzung, um zahlreiche Förder- und Hilfsangebote für behinderte Menschen zu schaffen. Ein Meilenstein war die von der Lebenshilfe erkämpfte Schulpflicht auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Es hört sich heute aus unserer Sicht sehr einfach an, aber es war ein langer und steiniger Weg. Wer Tom Mutters allerdings kannte weiß, dass es gar keine Hürde gab, die so groß war, dass man nicht darüber gehen konnte und sie niederreißen sollte: Es ging damals darum, dass man nach dem Nationalsozialismus zwar nicht mehr von lebensunwertem Leben sprach, aber von Bildungsunfähigkeit. Und deshalb Kinder mit geistiger Behinderung nirgendwo einen Platz der Förderung hatten. Er war unermüdlich unterwegs, um dies zu ändern. Er hat vielfältige Initiativen in der Fachwelt und der Politik unternommen und keine Auseinandersetzung gescheut. Erst ging es um den Nachweis, dass Kinder mit geistiger Behinderung bildungsfähig sind: Und schließlich zu einer Reform der Schulgesetze der Länder kam, mit der die Schulpflicht für alle Kinder, auch für die mit geistiger Behinderung eingeführt wird: Dieses Beispiel zeigt, wie visionär, strategisch und mit einem ungeheuren Gestaltungswillen - eben groß denkend Tom Mutters diese Entwicklung vorangetrieben hat. Mit seiner Ansteckungskraft und seinem Glauben an die Menschen wuchs die Lebenshilfe-Familie. Sie bewahrte – auch ein Credo Mutters – immer ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Sie beteiligte Eltern, Fachleute und Menschen mit geistiger Behinderung selbst. Und sie arbeitete eng mit verschiedenen Mitstreitern zusammen. 1964 war Tom Mutters an der Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, heute BAGS beteiligt. Mit anderen rief er die Konferenz der Fachverbände ins Leben und gab den Anstoß für die Aktion Sorgenkind, die heutige Aktion Mensch, die größte Soziallotterie in Deutschland. Bei Aktion Mensch gehörte er fast 30 Jahre dem Vorstand an und wurde danach ihr Ehrenmitglied. Auch hierbei war ihm immer Beides wichtig: Die Aufklärung zum Leben von Menschen mit Behinderung, erst aufrüttelnd über furchtbare Lebensbedingungen, später zu ihren Fähigkeiten. Und die praktische Unterstützung beim Aufbau von Einrichtungen und Diensten über die finanzielle Förderung aus Lotteriemitteln. Tom Mutters beschränkte sich nicht nur auf Deutschland, sondern dachte von Anfang an international: 1960 war er Mit-Gründer der „Europäischen Liga von Vereinigungen für geistig Behinderte“, arbeitete später in Ausschüssen der Weltorganisation mit, heute Inclusion International, gehörte in den 80ern dem Vorstand an, wie später auch beim europäischen Dachverband. Er nutzte dies, um sich immer wieder Anregungen zu holen, wie es in anderen Ländern war, die weiter waren als wir in Deutschland. Zum Beispiel als er das Prinzip der Normalisierung, entwickelt in Dänemark in den 50er Jahren als Modell nahm, um Hilfen für Menschen mit Behinderung zu schaffen: Sie sollten „ganz normal“ so leben wie alle anderen auch, gemeindenah, mit Kindergärten, Schulen und Arbeitsmöglichkeiten. Zum internationalen Blick gehörte auch die Solidarität mit Ländern wie Indien, Uganda und in Osteuropa, für die er sich ganz persönlich einsetzte. Und wir wissen, dass bis heute in vielen Ländern bis zu 90 % der Kinder mit geistiger Behinderung nie eine Schule gesehen haben. Der aus den Niederlanden stammende Pädagoge Mutters war immer spürbar ein Europäer und ein Weltbürger. Menschen wie ihn bräuchten wir heute mehr. Für sein beeindruckendes Lebenswerk erhielt Tom Mutters zahlreiche Auszeichnungen: 1987 wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen, der Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät der PhilippsUniversität in Marburg im gleichen Jahr. In seiner Heimat wurde er in den Rang eines Offiziers im Orden von Oranje-Nassau erhoben. 2013 bekam der Niederländer den Preis für „Dialog und Toleranz“ des Paritätischen Gesamtverbandes. 1996 wurde ihm zu Ehren die Lebenshilfe-Stiftung „Tom Mutters“ ins Leben gerufen, und bundesweit tragen zahlreiche Lebenshilfe-Einrichtungen seinen Namen. Ende 1988 beendete er nach 30 Jahren mit beinah 72 Jahren seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Bundesvereinigung. In einem Rückblick zitierte er damals Albert Schweitzer: „Jeder hat in tiefem Dank derer zu gedenken, die Flammen in ihm entzündet haben.“, um damit den Kindern von Goddelau zu danken, die ihm seinen Weg gewiesen haben, der – wie er auch selber sich eingestand, ein überaus erfolgreicher Weg war. Auch wir sind überaus dankbar, dass wir ihn hatten. Er hat Menschen mit Behinderung und ihren Familien zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen und sie feierten ihn immer wieder, weil sie spürten, welchen Unterschied sein Leben gemacht hat – wie respektvoll er ihnen begegnet ist. Als sich die Menschen mit geistiger Behinderung aufmachten, ihre Interessen verstärkt selbst zu vertreten und die Arbeit der Lebenshilfe mitzugestalten, besuchte Tom Mutters auch weit im Ruhestand den neu gegründeten Lebenshilfe-Rat und unterstützte die Mitwirkung behinderter Menschen in der Lebenshilfe. Tom Mutters war von Anfang an Vorbereiter und Mitgestalter dessen, was wir heute umfassende Teilhabe für Menschen mit Behinderung – Inklusion – nennen und was in der Behindertenrechtskonvention endlich als unveräußerliches Menschenrecht verankert wurde. So wünsche ich mir bei manchen zaghaften Diskussionen, die wir heute über das Thema Inklusion, inklusive Schule führen, mehr von dem Engagement, dem Pioniergeist und Gestaltungswillen eines Tom Mutters und auch der Gründungsväter und Gründungsmütter. Denn sie haben aus dem Nichts angefangen, und das, was wir heute sehen, ist der unglaubliche Erfolg. Er hat an die Menschen geglaubt. Er hat ihnen etwas zugetraut. Liebe Trauergemeinde, die Visionen und der Pioniergeist eines Tom Mutters waren und sind das Lebenselixier der Lebenshilfe. Wir übernehmen jetzt sein Erbe und wir fühlen uns verpflichtet, es weiterzuleben, zu immer neuen Ufern. Eine große Aufgabe, die gelingen kann, wenn wir uns – auch in unseren alltäglichen Auseinandersetzungen – an unseren Gründer erinnern und wie er groß denken, pragmatisch handeln und unerschütterlich an den Erfolg glauben. Tom Mutters war von Anfang an davon überzeugt, dass es nicht ausreicht, Hilfs- und Förderangebote für behinderte Menschen zu schaffen. Nein, es bedarf mehr: Ständig – und immer wieder aufs Neue – müssen die Menschen dafür gewonnen werden, die Menschen mit geistiger Behinderung nicht von außen dazu zu holen, sondern sie in ihre Mitte zu nehmen, von Anfang an und wie selbstverständlich, ihnen mit Achtung und Respekt auf Augenhöhe zu begegnen. Das hat uns Tom Mutters vorgelebt. Danke, dieser großen Persönlichkeit! Und danke Ihnen, liebe Frau Mutters, dass Sie dieses Engagement Ihres Gatten immer unterstützt haben. Wir als Lebenshilfe verlieren im Rückblick gesehen mit Tom Mutters einen Helden, der sozusagen aus dem Nichts nicht nur den Grundstein gelegt hat, für das was heute Lebenshilfe ausmacht, sondern auch die Säulen und Mauern mitgebaut. Liebe Familie, Sie haben den Ehemann, den Vater, Großvater verloren. Das ist schmerzhaft. Vielleicht tröstet es Sie, dass er zuhause, in ihrer Mitte einschlafen durfte, vielleicht das schönste Geschenk, das Sie ihm zum Schluss machen konnten. Lassen Sie mich schließen, mit dem Beileidsschreiben der Bundeskanzlerin. Ulla Schmidt, MdB, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe
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