Rede von Herbert Burger

Trauerfeier für Dr. hc. Tom Mutters am 16.Februar 2016 in Marburg
„Alles was lebt, sich bewegt,
hinterlässt eine Spur.
Wo immer Du gehst,
eine Spur bleibt zurück,
keine Tat wird ausgelöscht
kein Gedanke fällt ins Nichts.“
(Meinold Krauss)
Mit diesen Worten von Meinold Krauss will ich mich für mich und für viele tausend Lebenshilfeleute,
für die der Name Tom Mutters und sein Wirken Anstoß, Ansporn und wegweisend war und noch
immer ist, von Dr. hc. Tom Mutters nach einem überaus reichen und erfüllten Leben verabschieden.
Wenn das Bild von den Spuren, die ein Leben hinterlässt, je zutrifft, dann auf ihn, denn er hat die
Spur gezogen, auf der wir alle mehr als ein halbes Jahrhundert lang unseren Weg gehen. Man könnte
ihn den Tom-Mutters-Weg nennen und alles, was bis heute am Rande dieses Weges steht, trägt im
Grunde seine Handschrift, ist aus seiner Idee entstanden und aufgebaut worden.
Ich bin Tom Mutters erstmals im Jahre 1968 in seinem Büro am Barfüßertor in Marburg begegnet.
Damals hatte er acht Mitarbeiter. Es war schon zehn Jahre her, dass ein Niederländer den Deutschen
sagen musste, dass ein geistig behinderter Mensch auch ein Mensch ist. Weiß Gott spät genug und
beschämend genug, wie ich finde, denn dreizehn Jahre nach der schrecklichen Naziherrschaft blühte
in diesem Land bereits das Wirtschaftswunder. Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung war
es am 23.November 1958, dem Gründungstag unserer Lebenshilfe, noch nicht angekommen.
Ich kenne die ersten zehn Lebenshilfe-Jahre nur aus Erzählungen. Da gab es als Schlüsselerlebnis für
Tom Mutters die Kinder von Goddelau und seine schrecklichen Erfahrungen. Es gab den historischen
Briefwechsel zwischen zwei betroffenen Familien. Es gab einige andere, die zur selben Zeit auch auf
dem Weg waren, etwas für die bisher vernachlässigten Kinder zu tun, und mehr zufällig Tom Mutters
in England trafen und dann gab es schließlich die Gründung der Bundesvereinigung in einer
Bibliothek an der Marburger Universität.
Prof. Mittermeier war der erste Vorsitzende, gerne erinnere ich mich an Vorsitzende wie Prof.
Schomburg, an von Manger-König, an Annemarie Griesinger, aber immer war Tom, der Gründer, der
Motor, von seiner Idee getrieben, von der Vision besessen, die Lebensbedingungen geistig
behinderter Menschen in diesem Lande entscheidend zu verbessern und dabei möglichst Viele
mitzunehmen. Einem Handlungsreisenden gleich zog er in den ersten Jahren durch die Republik,
werbend für seine Idee, ja er bekniete Eltern und einige aufgeschlossene, die zu begreifen schienen,
dass es so nicht weitergehen durfte.
Vor ein paar Tagen war ich bei einer Lebenshilfe im Saarland bei einem 80. Geburtstag. Dort erzählt
man sich noch heute die Geschichte, dass sich Tom Mutters mit dem Schulrektor Georg Orth
verabredet hatte und ihn vor seiner Schule traf. Der hielt ihn zunächst für einen Vertreter, der ihm
etwas verkaufen wolle. Nach dem Gespräch mit Mutters gründete Georg Orth am nächsten Tag eine
Lebenshilfe-Ortsvereinigung und war später einer der ganz engagierten Mitstreiter, langjähriger
Bundeskammervorsitzender und mein Vorgänger. Mutters hatte auch ihn begeistert.
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Der Aufbau dieser neuen Vereinigung verlief in verschiedenen Phasen und ganz unterschiedlichen
Perioden. Nach dem Aufbau der Kindergärten, Tagesstätten und Schulen hatte Mutters schnell die
Frühen Hilfen als die wirksamsten Hilfen für die Allerkleinsten ausgerufen. Der Schaffung und dem
Ausbau der Werkstätten für Ausbildung und Beschäftigung Jugendlicher und Erwachsener folgte
schnell die Erkenntnis, dass Lebenshilfe auch für Heimat zu sorgen hätte, wenn Familien, wenn Eltern
ausfallen würden. So entwickelte sich die Idee zu einem flächendeckenden Netz an Hilfen,
Einrichtungen und Diensten immer dichter. Tom Mutters konnte überall erleben, wie sich seine Idee
über das ganze Land verbreitete und viele tausend haupt-und ehrenamtliche Lebenshilfeleute auf
seinen Spuren aktive Lebenshilfe in die Tat umsetzten. Nach den Werbevorträgen und
Gründungsversammlungen hielt er nun Vorträge bei Einweihungen und schon bei den ersten jungen
Jubiläen.
Es lief, würden die Ökonomen heute sagen, und doch hatten alle in dem Aufbruchsboom einen
wichtigen Teil vergessen. Ein internationaler Kongress musste her, um darüber nachzudenken,
warum uns bis dahin noch so wenig für die sog. schwerstbehinderten Menschen eingefallen war.
Unter dem Motto „ Hilfen für schwer geistig Behinderte - Eingliederung statt Isolation" hatte Mutters
1977 in Hamburg die internationale Fachwelt zusammengetrommelt, um endlich auch für diesen
Personenkreis ernsthaft über wirksame Hilfen nachdenken zu lassen. Was von den dort gewonnenen
Erkenntnissen tatsächlich in der Praxis wirksam wurde, darüber hatte auch Tom Mutters selbst noch
zwanzig Jahre später ganz erhebliche Zweifel, wie er mir mit einer gewissen Resignation am Rande
einer Feier freimütig gestand.
Als ein wichtiges Ergebnis dieses Hamburger Kongresses waren künftig die sog. Kontaktgespräche die
Plattform, auf der die vier, später fünf Fachverbände gemeinsam Positionen erarbeiten,
verabschieden und gemeinsam in die Politik einspeisen konnten. Wir mussten ihn damals schon sehr
dazu drängen, dass es endlich zu Gesprächen mit den Trägern der großen Anstalten, wie sie damals
hießen, kommen konnte, zu besseren Kontakten eben. Denn Tom Mutters hatte von jeher nicht
gerade einen enthusiastischen Zugang zu den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Viel
lieber hätte er seine Lebenshilfe selbst als die größte Vereinigung von Eltern geistig behinderter
Menschen in die Riege der Spitzenverbände eingeordnet.
Das Fachgespräch, wie es heute nach fast vierzig Jahren heißt, ist inzwischen das kompetente
Sprachrohr aller fünf Fachverbände, die sich für die Interessen geistig behinderter Menschen
einsetzen, welches mit seinen Stellungnahmen wesentlich Einfluss auf die Sozialpolitik in diesem
Lande nimmt. Eine bis heute wirksame und wichtige Initiative, die Tom Mutters auf den Weg
gebracht hatte.
Nicht zu vergessen, dass auch die Aktion Sorgenkind, unsere heutige Aktion Mensch, als Initiative von
Mutters und Hans Mohl unter dem ZDF-Intendanten Holzammer ins Leben kam. Ein bis heute
wirksames Instrument, um zum Beispiel für all die Mutter’schen Ideen überall im Lande die nötigen
Mittel aus einer spendenfreudigen und Lotterie begeisterten Bevölkerung herauszulocken. Eine
grandiose Idee und ein weiterer Beweis für Ideenvielfalt und Organisationstalent unseres
Lebenshilfegründers.
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Eher untypisch für den Aufbau einer Organisation , wo sonst an verschiedenen Orten kleine Gruppen
entstehen, die sich irgendwann zu einem Verband zusammenschließen, gründete Mutters die
Lebenshilfe zentral als Bundesvereinigung , betrieb erst danach überall im Lande die Gründung von
Ortsvereinigungen und schließlich auch die elf, später sechszehn Landesverbände, um auf diese
Weise seine Idee wie ein Flächenbrand über das ganze Land zu entfachen.
Es war eine kluge Entscheidung, den Föderalismus der Bundesrepublik aufzugreifen und seiner
Lebenshilfe auch eine solche Struktur zugeben und die Länder in der Bundeskammer zu bündeln. Wie
ich finde, eine bis heute sinnvolle und notwendige Form, um auf der Grundlage einer gemeinsamen
Lebenshilfe - Idee Kreativität und Gedankenvielfalt vieler tausend Menschen in diesem Lande für
denselben Zweck wirksam werden zu lassen. Das Ergebnis dieser Mutter’schen Grundidee kommt
heute vielen tausend Menschen mit einer geistigen Behinderung zugute in 540 lebendigen Orts-und
Kreisvereinigungen, die in sechzehn Landesverbänden und mit der Bundesvereinigung gemeinsam
das weitertragen und immer weiterentwickeln, wofür der kleine quirlige Mann aus den Niederlanden
1958, also vor 58 Jahren auszog, um in Deutschland, später in der ganzen Welt, Menschen mit einer
geistigen Behinderung ihre Würde zurückzugeben.
Dies alles konnte ihm nur gelingen mit seiner unglaublichen Begeisterungsfähigkeit, mit seiner schier
grenzenlosen Begabung, andere zu überzeugen und mitzureißen. In vielen Reden habe ich Tom
Mutters mit einem von ihm gern gebrauchten Eichendorf-Wort zitiert: „Wo ein Begeisterter steht, ist
der Gipfel der Welt.“ Er war es, der uns und viele andere begeisterte. Er war für uns der Gipfel der
Welt.
Ich verneige mich mit Respekt und allergrößter Anerkennung vor seiner ganz außergewöhnlichen
Lebensleistung stellvertretend für alle, die heute und ich Zukunft davon Nutzen haben und in seinem
Sinne weiter arbeiten werden, für alle Orts-und Kreisvereinigungen, für die Landesverbände und die
Bundeskammer und ich verneige mich in großer Dankbarkeit für mich, meine Frau und unseren Sohn
Uwe, auch dies stellvertretend für viele tausend Menschen mit einer geistigen Behinderung, ihre
Eltern und Angehörigen. Unsere Anteilnahme gilt seiner Frau Ursula und der ganzen Familie Mutters.
„Wo immer Du gehst, eine Spur bleibt zurück, keine Tat wird ausgelöscht, kein Gedanke fällt ins
Nichts.“ Es bleibt uns nur das Versprechen an Tom Mutters und an die Menschen, denen er sein
Leben gewidmet hat: Wir bleiben in Deiner Spur!
Marburg, 16.Februar 2016
(Herbert Burger)