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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 4 4
Konventionen
D
arf man das oder darf man das nicht? Zweifelsfragen der so genannten
Etikette sind relativ selten geworden, weil das Thema „Gutes
Benehmen“ insgesamt gerade nicht besonders en vogue ist. Es ist zum
Beispiel nicht mehr unbedingt verpönt, die Füße auf dem Esstisch
abzulegen. Jedenfalls nicht bei meinem Sohn. Er konnte sich neulich
überhaupt nicht vorstellen, dass man das nicht macht und fragte mich,
wer denn dieser „man“ überhaupt sei. Ich antwortete: „Man ist alle.
Also die Gesellschaft an sich.“ Er wackelte mit den Zehen und sagte:
„Okay. Dann gehöre ich eben nicht zur Gesellschaft.“ Mit dieser Antwort befindet er sich voll
im Trend. Er ist einfach ein sehr moderner Mensch. Dennoch bestand ich auf spießige
Konventionen und sagte: „Füße vom Tisch oder es knallt.“ Manchmal bin ich sehr
altmodisch, was Nick auch findet und mich einen alten Knacker nennt.
Ich lege auch Wert auf Pünktlichkeit. Wobei ich beim Zuspätkommen durchaus eine
gewisse Flexibilität zulasse. Auf einer Party muss man nicht zwanghaft als erster auftauchen,
aber auch nicht unbedingt als Letzter. Wenn man hingegen ein Zug ist, sollte man durchaus
auf Pünktlichkeit achten oder zumindest mitteilen, wann man einzutreffen gedenkt. Kürzlich
stand ich in München am Bahnhof und erst hieß es, dass mein Anschluss eine halbe Stunde
Verspätung habe. Daraus wurde eine Stunde. Dann wurde durchgesagt, dass der Zug gänzlich
ausfiele, wenig später wechselte er überraschenderweise das Gleis und sollte doch noch
eintreffen. Wie es weiterging, kann ich nicht sagen, weil ich dann mit dem Auto gefahren bin.
Jedenfalls hätte ich mich über eine verlässliche Auskunft gefreut.
Zu den Konventionen, an denen mir ebenfalls etwas liegt, gehört die Geduld oder
meinetwegen die Leidensfähigkeit, Andere ausreden zu lassen. Auch wenn man schon weiß
was noch kommt, sowieso alles daran doof findet oder etwas noch Schlaueres sagen will. Ich
findet, man wartet trotzdem erst einmal ab. Das ist aber leider total aus der Mode gekommen.
Die Höflichkeitsgeste, anderen nicht dauernd übers Maul zu fahren, wird meistens
dahingehend missverstanden, dass man offenbar nichts sagen will oder sich unterordnet.
Wer diesbezüglich ein gewisses Feingefühl besitzt, sollte es auf keinen Fall dem Literarischen
Quartett aussetzen, denn diese Sendung handelt im Wesentlichen davon, wie zwei Männer
zwei Frauen eine Dreiviertelstunde lang mit unerbittlichem Eifer das Wort abschneiden.
Ich mag außerdem, wenn Menschen einander freundlich grüßen und wenn Kellner beim
Abdecken eines Tisches nicht die Reste sämtlicher Gäste in pragmatischer Eile auf einen
Teller häufen. Man hat ja nicht gelernt, mit Messer und Gabel zu essen, um hinterher das
Gefühl zu bekommen, die eigenen Manieren seien völlig egal.
Diese ganze Aufzählung klingt nun sehr streng und zugegebenermaßen old school, aber
es existieren auch Konventionen, die mir ziemlich wumpe sind, über die ich tatsächlich kaum
jemals nachgedacht habe. Von mir aus kann man zum Beispiel sehr gerne Hüte in
geschlossenen Räumen tragen, das ist mir ganz egal. Für meine Vorgängergeneration
hingegen ist alleine die Vorstellung, jemand könnte drinnen einen Hut tragen, vollkommen
unerträglich. Das weiß ich so genau, weil ich mit meinem Schwiegervater Antonio Marcipane
dazu eine ausführliche Diskussion absolvierte.
Wir sahen gemeinsam im Fernsehen einen Film, in dessen Verlauf eine Hochzeit gefeiert
wurde. Und auf dieser Hochzeit trug jemand einen modernen kleinen Hut. Antonio rief: „Dä
Bursch mit die Ute ist vollig unmogelik.“ Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, was er
meinte, weil in dem Film gar keine Ute zu sehen war, wohl aber ein Hut. Antonio setzte mir
auseinander, dass man im Haus keinen Hut zu tragen habe. Das sei gegen jede Etikette,
einfach vollkommen unmöglich. Ich argumentierte, dass der Hut in diesem Fall kein Hut im
eigentlichen Sinne sei, sondern eher ein Accessoire wie ein Schal oder ein Einstecktuch, aber
Antonio sah mich nur unverständig an und sagte: „Eine Schal iste ein Schal und eine Ute ist
eine Ute.“ Da war nichts zu machen. Völlig verknöchert in seinen Ansichten, der Mann. Im
Grunde genau wie ich. Und die Füße gehören nicht auf den Tisch. •
12. OKTOBER 2015