Grundkurs Deutsch (Sachsen): Abiturprüfung 2015 Aufgabe 1: Interpretation literarischer Texte Thema: Sigrid R. Ammer (*1936): Sei auf der Hut! (o. J.) Sigrid R. Ammer: Sei auf der Hut! 5 10 15 20 25 Du bist umstellt Etwas will deine Augen geradeaus richten deine Füße lenken dein Denken aus dem Lot bringen dich zu essen zwingen oder zu fasten deine Erfahrungen stehlen Du bist umzingelt Einer hat die Kabel gelegt die Bildschirme aufgespannt die Phonstärke bestimmt das Netz gewoben Gib acht! All das geschieht unmerklich Verbirg dich! Steig schnell in den Brunnen den sie vergessen haben auf einen Berg den sie nicht kennen Am besten aber sattle das Einhorn such die Weite einer zauberhaften Landschaft Aber: Bleib auf der Hut In: Deutsches Jahrbuch für Lyrik, Bd. 1, hrsg. von Manfred S. Fischer. Aachen: Deutscher Lyrik Verlag 2009, S. 16 GK 2015-1 Juli Zeh: Corpus Delicti Figurenverzeichnis Mia Holl Moritz Holl Die ideale Geliebte Dr. Lutz Rosentreter Heinrich Kramer Würmer Sophie Stock Bell Lizzi, Driss, Pollsche Biologin Mias verstorbener Bruder Virtuelle Mitbewohnerin Mias Rechtsanwalt Publizist und Ideologe Moderator der Talkshow WAS ALLE DENKEN Richterin Staatsanwalt Bewohnerinnen des Wächterhauses Arbeitsanweisung: Interpretieren Sie den Text. Stellen Sie dabei auch thematische Bezüge zum Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh her. GK 2015-2 Lösungsvorschlag r r r r r r r r r Um diese Aufgabe lösen zu können, benötigen Sie sichere Kenntnisse in der Analyse moderner Lyrik. Gemäß dem Arbeitsauftrag interpretieren Sie zunächst das Gedicht „Sei auf der Hut!“. Als Einstieg bietet es sich dabei an, eine Art Basissatz zu formulieren, der neben Autor, Titel und Textart das Thema des Gedichts benennt. Dann deuten Sie den Inhalt und die sprachliche Gestaltung des Textes im Zusammenhang. Anschließend stellen Sie Bezüge zum Roman „Corpus Delicti“ her. Dazu müssen Sie selbstverständlich den Inhalt dieses Werks gut kennen. Wählen Sie einige konkrete Romaninhalte aus, die Sie in Beziehung zum Gedicht setzen. Zum Schluss können Sie überlegen, warum es in beiden Werken zu einer unterschiedlichen Darstellung des gleichen Themas kommt, oder einen Aktualitätsbezug herstellen. Einleitung Sigrid R. Ammer thematisiert in dem Gedicht „Sei auf der Hut!“, welches 2009 veröffentlicht wurde, den Zustand einer psychischen und physischen Bedrohung eines Individuums. Das lyrische Ich sieht das angesprochene „Du“ einer umfassenden Manipulation ausgesetzt und macht Vorschläge, wie es dieser entkommen kann. Inhalt des Gedichts Schon im Titel des Gedichts warnt ein lyrisches Ich sein Gegenüber (oder sich selbst) vor einer Bedrohung. Diese erscheint anfangs eher wenig konkret und nicht greifbar. Es wird ein „Etwas“ (V. 2) benannt, das eine völlige Lenkung körperlicher und geistiger Aktivitäten zum Ziel hat. Die Manipulation zielt darauf, eine Marsch- und Blickrichtung vorzugeben (vgl. V. 2 ff.) sowie die Nahrungsaufnahme zu regulieren (vgl. V. 6). Auch geht es darum, „Erfahrungen [zu] stehlen“ (V. 7) und damit auf eine Grundlage persönlichen Handelns Einfluss zu nehmen. In der zweiten Strophe erfährt die Situationsschilderung eine Steigerung sowie eine Konkretisierung, denn es wird behauptet, dass schon „die Kabel gelegt“ (V. 9) und „die Bildschirme aufgespannt“ (V. 10) sind. Die Umzingelung (vgl. V. 8) findet hier also mithilfe moderner Technologien statt. Die zweite Strophe macht außerdem deutlich, dass die Bedrohung von Menschen ausgeht, da „Einer“ (V. 9) das Szenario aufgebaut hat. Dieser Zugriff ist allerdings nicht leicht wahrnehmbar, denn er „geschieht unmerklich“ (V. 14). Das lyrische Ich fordert deshalb immer wieder zur Achtsamkeit (vgl. V. 13) und zum Handeln auf. Es empfiehlt dem Du, sich in Sicherheit zu bringen, indem es an unbekannte Orte, wie „Brunnen“ (V. 16) und „einen Berg“ (V. 18), flieht. Diese seien den Überwachern, die hier nur durch das Personalpronomen „sie“ (V. 17, 19) in Erscheinung treten, noch unbekannt. Als beste Fluchtmöglichkeit empfiehlt das lyrische Ich Fantasiewelten, die mit den Begriffen „Einhorn“ (V. 21) oder „Weite / einer zauberhaften Landschaft“ (V. 22 f.) umschrieben werden. Der Rückzug in die eigene, positive und freie Gedankenwelt wird vom lyrischen Ich also am wirkungsvollsten eingeschätzt. Allerdings kann auch diese keine vollständige Sicherheit gewährleisten. Deshalb drängt das lyrische Ich mit dem Appell „Bleib auf der Hut“ (V. 25) abschließend nochmals intensiv darauf, über der Flucht in eine Parallelwelt die Wachsamkeit nicht zu vernachlässigen. Sprachlich-stilistische Gestaltung des Gedichts Das moderne Gedicht besteht aus vier Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl. Außerdem fehlen traditionelle Formmerkmale wie Reim und Metrum und die Sprache erinnert an Prosa. Sehr klar und knapp wird in den ersten beiden Strophen die Gefahr benannt und vor ihr gewarnt. In den letzten beiden Strophen werden dann Möglichkeiten aufgezeigt, der GeGK 2015-3
© Copyright 2024 ExpyDoc