Evangelium Lukas, Kapitel 15, Verse 11 - 32 3. So n. Tr. Liebe Gemeinde! Der Predigttext, der uns für den heutigen Sonntag zum Nachdenken aufgegeben ist, erzählt das bekannte Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“. Dieses so bekannte Gleichnis hat viele Spuren hinterlassen. Etwa in der Literatur: unzählige Dichter und Schriftsteller haben den Stoff dieses Gleichnisses aufgenommen, nachgedichtet, ergänzt, ganz verschiedene „Fortsetzungen“ sich erdacht – und damit das Gleichnis auf ihre Art interpretiert. Das berühmte Drama „Die Räuber“ von Friedrich Schiller ist ja eine Transposition des Gleichnisses vom „Verlorenen Sohn“ in einer veränderten Handlung auf die Bühne. A. Gide fügt seiner Version des Gleichnisses noch einen dritten, noch jüngeren Sohn hinzu. Dieser zieht von zu Hause weg, als der weggegangene Sohn zurückkehrt. Der Zurückgekehrte gibt dem jüngsten Bruder mit auf den Weg: mach‘ es besser als ich; du darfst nicht scheitern wie ich. Bei R. M. Rilke, bei Charles Péguy und vielen anderen finden wir den offenbar faszinierenden Stoff des „Verlorenen Sohnes“ aufgenommen und variiert. In der bildenden Kunst ist dieser Stoff ein beliebtes Motiv: eindrücklich sind die Zeichnungen und Bilder zB von A. Dürer, Rembrandt von den zentralen Personen: Vater – Sohn – Bruder. In der Theologie und Liturgie hat dieses hoch bedeutsame Gleichnis natürlich auch sehr viele und ganz unterschiedliche Interpretationen erfahren, zum Teil aber auch verhängnisvolle Deutungen. So wurde zB der ältere Sohn mit dem Volk Israel gleich gesetzt, das neidisch sei auf die Versöhnung und herzliche Willkommensfeier zwischen dem jüngeren Sohn und seinem Vater. Der jüngere Sohn wurde mit der Kirche, den Christen gleichgesetzt. Das haben Christen in dieses Gleichnis hineingelesen. So anschaulich und scheinbar evident Gleichnisse auch sind, die Gleichnisse Jesu sind „Rätseltexte“, sie enthalten überraschende Aspekte, Unerwartetes – so wie ja auch unsere eigenen Biographien oft Rätseltexte sind, die sich erst in einer Arbeit des Verstehens öffnen. Was ist es eigentlich, das die Menschen durch Jahrhunderte hindurch und auch in ganz verschiedenen Kulturen so unmittelbar anspricht? Warum hat gerade dieses Gleichnis eine so breite wie auch tiefgehende Wirkung? Wenn uns eine Geschichte oder ihre Handlung bzw. ihre Personen berühren, so geschieht dies durch die sog. Identifikation. Mit wem oder was identifizieren wir uns in diesem Gleichnis? Sind es die allgemein menschlichen Lebensthemen wie Aufbruch – Scheitern – Versöhnung? Um was geht es denn in diesem Gleichnis? Das scheint zunächst ziemlich klar zu sein und dann doch auch wieder nicht. Man kann das an den Titeln erkennen, die in unseren Bibelausgaben über die Kapitel oder längeren Abschnitte der Bibeltexte gesetzt sind. Diese Titel wurden erst im 16. Jahrhundert eingefügt und sind nicht Teil des Biblischen Textes. Sie wollen bloss eine Übersicht und Strukturierungshilfe geben, sind aber dadurch auch eine Weichenstellung für das Verständnis des dem Titel folgenden Textes. Während in den deutschen Bibeln dieses Gleichnis (richtiger Weise) mit „Verlorenem Sohn“ betitelt ist, lauten die Titelüberschriften dieses Gleichnisses in den französischen oder englischen Bibeln „l’enfant prodigue“ – „The prodiged son“; also: nicht das „verlorene“ Kind oder Sohn, sondern das „verschwenderische Kind“, der „verschwenderische Sohn“. Dadurch bekommt dieses Gleichnis einen moralisierenden Ton, einen patriarchalisch-bürgerlichen Akzent: Vermögen müssen vermehrt werden, nicht verschwendet – das Gedeihen der Familie(nunternehmung) geht vor der Suche nach dem persönlichen Glück und freier Entfaltung! Es fällt über1 dies auch auf, dass dieses Gleichnis eine reine Männergeschichte ist. Als handelnde Figuren tauchen auf: der Vater – die beiden Söhne – ein vage genannter Bürger im Ausland. Frauen als Ehefrauen, Töchter, Schwestern, Mägde kommen überhaupt nicht vor. Existieren sie denn gar nicht? Die einzige Erwähnung von Frauen in dieser Geschichte ist ein Stereotyp, eine Männerphantasie des älteren Bruders: „… das Vermögen wurde mit Huren durchgebracht!“ How can he know? Er war ja nicht dabei. Es wäre sicher sehr aufschlussreich, wenn dieses Gleichnis von Frauen kommentiert würde. Nicht nur von den Frauen der damaligen Zeit, sondern auch und gerade von den Frauen heute. Was wären ihre Beobachtungen, Eindrücke, Kommentare? Es gibt Methoden und Formen der Bibelarbeit, der Predigt, die dies ermöglichen würden. Das Bibliodrama, die Dialogpredigt zum Beispiel. Das ist uns im Rahmen unserer Gottesdienste in Horgen aber nicht so vertraut. Hören wir aber nun den Text dieses so bekannten Gleichnisses: Der verlorene und wiedergefundene Sohn 11 Jesus fuhr fort: »Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Der jüngere sagte zu ihm: ›Vater, gib mir den Anteil am Erbe, der mir zusteht!‹ Da teilte der Vater das Vermögen unter die beiden auf. 13 Wenige Tage später hatte der jüngere Sohn seinen ganzen Anteil verkauft und zog mit dem Erlös in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und brachte sein Vermögen durch. 14 Als er alles aufgebraucht hatte, wurde jenes Land von einer großen Hungersnot heimgesucht. Da geriet auch er in Schwierigkeiten. 15 In seiner Not wandte er sich an einen Bürger des Landes, und dieser schickte ihn zum Schweinehüten auf seine Felder. 16 Er wäre froh gewesen, wenn er seinen Hunger mit den Schoten, die die Schweine fraßen, hätte stillen dürfen, doch selbst davon wollte ihm keiner etwas geben. 17 Jetzt kam er zur Besinnung. Er sagte sich: ›Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, und alle haben mehr als genug zu essen! Ich dagegen komme hier vor Hunger um. 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; 19 ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Mach mich zu einem deiner Tagelöhner!‹ 20 So machte er sich auf den Weg zu seinem Vater. Dieser sah ihn schon von weitem kommen; voller Mitleid lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 ›Vater‹, sagte der Sohn zu ihm, ›ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.‹ 22 Doch der Vater befahl seinen Dienern: ›Schnell, holt das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm ein Paar Sandalen! 23 Holt das Mastkalb und schlachtet es; wir wollen ein Fest feiern und fröhlich sein. 24 Denn mein Sohn war tot, und nun lebt er wieder; er war verloren, und nun ist er wiedergefunden.‹ Und sie begannen zu feiern. 25 Der ältere Sohn war auf dem Feld gewesen. Als er jetzt zurückkam, hörte er schon von weitem den Lärm von Musik und Tanz. 26 Er rief einen Knecht und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe. 27 ›Dein Bruder ist zurückgekommen‹, lautete die Antwort, ›und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn wohlbehalten wiederhat.‹ 28 Der ältere Bruder wurde zornig und wollte nicht ins Haus hineingehen. Da kam sein Vater heraus und redete ihm gut zu. 29 Aber er hielt seinem Vater vor: ›So viele Jahre diene ich dir jetzt schon und habe mich nie deinen Anordnungen widersetzt. Und doch hast du mir nie auch nur einen Ziegenbock gegeben, sodass ich mit meinen Freunden hätte feiern können! 30 Und nun kommt dieser Mensch da zurück, dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren durchgebracht hat, und du lässt das Mastkalb 2 für ihn schlachten!‹ – 31 ›Kind‹, sagte der Vater zu ihm, ›du bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir. 32 Aber jetzt mussten wir doch feiern und uns freuen; denn dieser hier, dein Bruder, war tot, und nun lebt er wieder; er war verloren, und nun ist er wiedergefunden.‹« (Übersetzung: Neue Genfer Übersetzung) Für das Verständnis des Gleichnisses ist es ganz wichtig, den unmittelbaren textlichen Kontext zu beachten! Das 15. Kapitel des Lukas-Evangeliums erzählt drei Gleichnisse: vom verlorenen Schaf – verlorenen Drachmen (Silbermünze) verlorenen Sohn. Diese drei Gleichniserzählungen waren die Antwort Jesu auf die Kommentare und Reaktionen der damaligen religiösen Elite. Wir lesen sie in den Versen 1 + 2 des 15. Kapitels: „Jesus war ständig umgeben von Zolleinnehmern und anderen Leuten, die als Sünder galten; sie wollten ihn alle hören. 2 Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren darüber empört. »Dieser Mensch gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen!«, sagten sie.“ So unterschiedlich die drei Gleichnisse auch sind – ein zentrales Thema verbindet sie! Dieses Kernthema könnte als ein Vierklang bezeichnet werden: Verlust (etwas ging verloren) – Suchen – Wiederfinden – Freude. Freude aber nicht nur als verständliche Zufriedenheit, etwas Verlorenes, Vermisstes, Gesuchtes wiedergefunden zu haben. Erzählt wird in den drei Gleichnissen von der Freude als einer Extravaganz. Nicht nur persönliche Freude und stille Zufriedenheit, sondern ein Fest wird veranstaltet! Andere Menschen einladen, mit ihnen die Freude und den Ausnahmecharakter teilen. Ökonomisch und rational gesehen scheint das Festen etwas übertrieben zu sein – eben extravagant. Extravagant heisst ja „über-denRahmen-hinaus“ – „ausschweifend“. Hatte der jüngere Sohn im Gleichnis nicht auch extravagant gelebt? Es gibt offenbar eine Extravaganz der Freude, die das Vermögen vermindert und eine Extravaganz der Freude, die mehrt, weitere Kreise zieht. Ein grosser Ausleger unseres Gleichnisses (Fr. Bovon) schreibt: „In Lukas 15,11-32 geht es um nichts weniger als um das Wesen des Christentums…“ (EKK III/3, p 41). Wie das? Das Gleichnis erzählt von verschiedenen Verlusterfahrungen. Zunächst verlieren alle Personen des Gleichnisses, alle erleiden einen schmerzlichen Verlust. Der Vater verliert einen Sohn! Diesen Sohn müssen wir uns – im sozialgeschichtlichen Kontext – vorstellen als einen Arbeitsemigranten, einen Wirtschaftsflüchtling. Der elterliche Landwirtschaftsbetrieb bzw. das Vermögen war nicht so gross, dass man daraus eine wirtschaftliche Existenzgrundlage für beide Brüder hätte machen können. Der jüngere Sohn musste also „daheim“ bleiben als Angestellter seines Vaters, später Bruders oder er musste sich anderweitig eine Existenz aufzubauen versuchen. Die erbrechtlichen Bestimmungen des damaligen Palästina haben dem auch Rechnung getragen. Es war vorgesehen, dass jüngere Söhne noch zu Lebzeiten des Vaters einen (kleineren) Anteil am Vermögen verlangen konnten, sozusagen als Startkapital für eine eigene Existenzgründung. „Abschichtung“ war der rechtstechnische Ausdruck dafür – „Pflichtteil“ würden wir heute wohl sagen. Nicht der Weggang des Sohnes aus dem elterlichen Zuhause in das nahe Ausland, sein Bestehen auf der Auszahlung seines ihm zustehenden Anteils war der Verlust, den der Vater erlitten hat. Sondern: der Sohn ging weg - wo3 hin? – seither gab es keine Nachricht mehr! Wir sagen manchmal „no news is good news“ und meinen “wahrscheinlich läuft alles rund“, „es wird wohl nichts passiert sein“. Das ist ziemlich oberflächlich gedacht (oder gesprochen). Immer wieder kommt es vor, dass Menschen (Partner/In, Familienmitglieder) nicht nur weggehen, sondern „verschwinden“. Einfach weg! Ohne „triftigen“ Grund, ohne Nachricht, „ohne „Lebenszeichen“. Über dieses gar nicht so seltene, aber auch tabuisierte Ereignis gibt es auch wissenschaftliche Studien. Trennungen sind immer schmerzlich, aber ein Abbruch und „totale Funkstille“ ist eine Katastrophe. Mit gravierenden Folgen für die Zurückgebliebenen. Wie gehen sie mit dieser Plötzlichkeit, dieser Lücke und Leere um? Der bekannte Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965) erzählt in seinen „Autobiographischen Fragmenten“ von der lebenslangen Wunde, die bei ihm entstand, als er vierjährig war und seine Mutter sich von seinem Vater trennte und über Jahrzehnte kein Kontakt mehr zwischen dem Kind und der Mutter möglich war. Beziehungsabbrüche dieser Art sind katastrophal und beschäftigen ungut die Phantasien, die nie durch die Realität überprüft werden können. Der jüngste Sohn verliert. Er verliert sein Zuhause, seine Herkunftsfamilie, seine eventuell bescheidene, aber gesicherte Existenz. Jetzt bedrohen ihn Armut und Hunger. Seine eigentliche Katastrophe bestand jedoch darin, dass er seine persönliche, soziale und v.a. seine religiöse Identität verlor. Schweine hüten war in der Antike wie heute keine angesehene Tätigkeit. Aber für einen Juden ist es das absolute no-go! Bei einem nicht-jüdischen Arbeitgeber sich zu verdingen und Schweine hüten bedeutete, die Zugehörigkeit zum Volk Israel zu verlieren. Ein Buch des Talmud enthält den Fluch: „Verflucht sei der Mensch, der Schweine züchtet“ (b. Baba qama 82 b). Dieser Sohn war wohl – wie so oft im Leben – beides zugleich: Täter und Opfer. Sicher war er auch naiv, leichtsinnig, hat sich vielleicht selbst überschätzt, hat unklug gehandelt. Aber er musste sich tatsächlich „woanders“ eine eigene wirtschaftliche Existenz aufbauen, wenn er nicht „Knecht“ bleiben wollte. Und für die „grosse Hungersnot“ war er ja nicht verantwortlich. Als Arbeitsemigrant, Wirtschaftsflüchtling war er rechtlos und wurde ausgebeutet. Von solchen Schicksalen und Zuständen können wir heutzutage regelmässig hören und lesen. Auch der ältere Bruder verliert. Er verliert den jüngeren Bruder. Natürlich gibt es die Geschwisterrivalität und gegen Ende des Gleichnisses schlägt sie auch voll durch. Es gibt aber ebenso die Geschwistersolidarität und die Zugehörigkeit zur eigenen gleichen Generation zB gegenüber der Eltern- bzw. Erwachsenengeneration. Das ist ganz wichtig, um ein „eigener Mensch“ zu werden. Verlieren, Verluste – wo man hinschaut! Wichtiges verloren zu haben, verändert nicht nur die Sachlage, sondern das macht etwas mit uns selbst. Wie reagieren wir persönlich auf Verlust? Aus seiner reichen therapeutischen Erfahrung antwortet S. Freud: „Trauer ist regelmässig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ (STA, Bd 3, S. 107). Die Welt sieht für uns anders aus nach einem Verlust! Unsere Trauer kann sich ausdrücken in einer längeren Verstimmung – die Lebensmelodie wird dissonant. Wir sind energielos oder können depressiv werden. Auch wenn der Verlust verarbeitet werden kann, bleibt oft eine lebenslange Wunde, die schmerzt, wenn sie berührt wird. Es ist diese Erfahrung einer tiefen Trauer, welche die „Extravaganz“ der Freude, des Festes nach dem Wiederfinden, von der uns im Gleichnis erzählt wird, 4 erst verständlich macht. Wie tief muss die Trauer über den Verlust gewesen sein, dass nun eine solche überschäumende Lebensfreude aufbricht? (Vers 24) Das Gleichnis entwickelt seine Dynamik an verschiedenen Wendepunkten. Der Aufbruch von zuhause – die Hungersnot – der „freie Fall“ in das Elend – die Rückkehr und die Wiederaufnahme in das väterliche Haus sind in dem Gleichnis solche Wendepunkte der Geschichte. Ein „Wendepunkt“ interessiert mich ganz besonders; er wird zu Beginn des Verses 17 eingeführt. Ganz undramatisch, aber von grösster Bedeutung und Wirkung: „(Jetzt) kam er zu sich“ oder etwas anders übersetzt: „(Jetzt) ging er in sich“. Der jüngere Sohn kam zu sich. So sagen wir ja auch, wenn ein Mensch in eine Ohnmacht fällt und dann „wieder zu sich kommt“, d.h. das Bewusstsein wieder erlangt. Liebe Brüder und Schwestern, das ist der Wendepunkt zu allen anderen Wendepunkten! Der jüngere Sohn konnte jetzt klar und illusionslos wahrnehmen, was aus ihm geworden ist und was geschehen wird, wenn „nichts geschieht“, d.h. wenn es einfach so weitergeht. In seinem Fall: der Hungertod im fernen Land, abgeschnitten von den tragenden Beziehungen, die Zugehörigkeit zum Volk Gottes verloren. „Verscharrt im Sand – wer weiss wo?“ (R. Dehmel) Solches „zu-sich-kommen“, der Realität sich stellen ist ein sehr, sehr schmerzlicher Prozess. Aber auch die andere Erfahrung ist möglich: wenn wir wieder in Kontakt treten mit dem Vergessenen, tief Versunkenen, Verdrängten kann – bildlich gesprochen – ein Licht aufleuchten. Eine lebensdienliche Alternative zeigt sich, ein Weg aus der Sackgasse, dem dead end öffnet sich. Das ist nicht nur eine sehr berührende Erfahrung, die in der Seelsorge und Psychotherapie gemacht werden kann. Ich denke, liebe Brüder und Schwestern, das ist sicher auch eine Erfahrung, die Sie in Ihrer Biographie machen konnten. Individuum, Familien, Gruppen, Institutionen, ja die ganze Gesellschaft können „vor die Hunde gehen“ (unser Text spricht von Schweinen), wenn sie nie oder zu selten zu sich kommen, sich bewusst werden, „was da läuft“. Oft verhindern wir uns selbst daran oder andere haben ein Interesse daran, dass wir uns nicht bewusst werden, hindern uns aktiv und/oder verführerisch daran, zu uns zu kommen, klar zu sehen. Wir kennen die Fortsetzung der Geschichte des Gleichnisses mit ihren unverhofften Wendepunkten. Eine Geschichte mit happy end? Nicht ganz! Im Gleichnis bleibt einiges offen; Gleichnisse sind auch Rätseltexte, sie haben Leerstellen. ZB: lässt sich der ältere Sohn dann doch noch auf das Fest ein, wird er schlussendlich mitfeiern können und wollen? Noch etwas fällt in der Geschichte auf. Der Vater im Gleichnis ist gegenüber dem rückkehrenden Sohn wortlos, er schweigt. Der Vater gab ihm den Pflichtteil und schweigt. Als der jüngere Sohn auf dem Weg zurück ist, geht der Vater ihm entgegen, küsst und umarmt ihn und schweigt. Der Vater spricht mit den Knechten, mit dem älteren Sohn, aber er schweigt gegenüber dem Jüngeren. Was das Schweigen wohl bedeuten mag? Die Gesten des Empfangs, die Handlungen der Wiedereinsetzung als Sohn sind herzlich und vielsagend. Trotzdem: Schweigen ist schwierig zu deuten und lässt der Phantasie viel Raum. Ich habe in meiner Phantasie zwei Wünsche bezüglich der Fortsetzung der Geschichte dieses Gleichnisses: der ältere Sohn und Bruder möge doch auch ans Fest kommen! Vielleicht am Anfang noch etwas verstimmt, steif, aber dann doch immer selbstverständlicher und fröhlicher. Erst dann haben sich die Brüder wirklich wieder; 5 dass ein Gespräch zwischen Vater und jüngerem Sohn stattfindet! Vielleicht braucht es sogar mehrere Gespräche. Befreiende Gespräche – keine Vorhaltungen und „Schuldgefühle machen“. Vielleicht reden sie nicht über den Weggang und den weiteren Verlauf, sondern erzählen sich einfach, was das alles mit ihnen machte. In den Versuchen einer Versöhnungsarbeit nach Kriegen und Terror wurden in Südafrika, dem Balkan, in Israel und den besetzten Gebieten Gesprächsgruppen gebildet. Keine Untersuchungskommissionen. Gesprächsgruppen. Dort haben die Menschen, Täter wie Opfer, einander erzählt. Nur erzählt. Erzählt, was sie erlebten und wie es für sie war. Das hat auch zur Relativierung der eindeutigen Zuordnung Täter – Opfer geführt. Das Brechen des Schweigens, das Erzählen führt zu einer anderen Wahrheit, als es eine juristische Wahrheit wäre. Aber erst dann, wenn der Vater sein Schweigen bricht und das Gespräch stattfinden kann, ist der Sohn wirklich wieder zuhause angekommen. Ich sagte einleitend, das Gleichnis vom verlorenen Sohn habe viele Spuren hinterlassen. Auch in dem wohl bekanntesten Kinder- und Jugendbuch „Heidi“. Die „Heidi-Geschichte“ ist eine Variation der „Verlorene-Sohn-Geschichte“. Der AlpÖhi, der Grossvater, ist ja auch ein verlorener Sohn. Ging weg aus der Heimat in ein fernes Land (Madagaskar); hat viel Ungutes erlebt und vielleicht auch getan und kam verbittert zurück, brach die Kontakte zu seiner Familie und der Dorfgemeinschaft ab. Wie Sie wissen, veränderte sich das aber schlussendlich. Und die Heidi-Geschichte endet mit der freudigen Feststellung der Grossmutter: „… und so vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die Grossmutter zuletzt sagte: «Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb ist.»“ Amen. C.D. Eck / 21.06.2015 6
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