Europäische Währungsunion: Jenseits von Griechenland

Europäische Währungsunion:
Jenseits von Griechenland
Düsseldorf, 26. Juni 2015
Dirk Heilmann
Zum wiederholten – und leider wohl nicht zum letzten Male – dominiert über Wochen und Monate hinweg das
wirtschaftlich vergleichsweise unbedeutende Griechenland die europäische Debatte. Im Athener Drama ging sogar der
bemerkenswerte Vorschlag der „fünf Präsidenten“ zur langfristigen Stabilisierung der Europäischen Währungsunion
unter, den die die EZB, die EU-Kommission, der Europäische Rat, die Euro-Gruppe und das Europäische Parlament in
dieser Woche vorgelegt haben. Zu Unrecht, wie nach näherer Lektüre des Papiers gesagt werden muss. Denn es ist
höchste Zeit, dass die Euro-Gruppe über die unmittelbare Krisenbekämpfung hinausdenkt, zu einer langfristigen
Strategie findet und den Fortbestand der Währungsunion wieder mit einer positiven Botschaft verbindet. Und zwar
unabhängig davon, ob Griechenland letztlich im Euro bleibt oder sich verabschiedet.
Die „fünf Präsidenten“ schlagen den Aufbau neuer und die Stärkung vorhandener Institutionen vor, die bis zum Jahr
2025 die wirtschafts- und fiskalpolitische Integration der Währungsunion nachhaltig vertiefen sollen. Ihre
Überlegungen sind von den Grundgedanken bestimmt, dass eine solche tiefere Integration kein Wert an sich ist, sondern
nur zu rechtfertigen ist, wenn sie den 330 Millionen Bürgern der Währungsunion bessere Lebensverhältnisse bringt und
zu einer besseren Wirtschafts- und Finanzpolitik führt. Sie plädieren daher unter anderem für eine Wirtschaftsunion, die
die Konvergenz der Lebensverhältnisse innerhalb der Mitgliedsstaaten der Währungsunion und zwischen den
Mitgliedsstaaten fördert.
Das sind löbliche und wichtige Ziele, doch vorangehen muss eine Analyse der bisherigen Folgen der Währungsunion
für die angestrebte Konvergenz der ökonomischen Lebensverhältnisse. Denn die bisherige Bilanz des Euro sieht in
dieser Hinsicht düster aus, da die letzten Jahre von einer ausgeprägten Divergenz charakterisiert waren. Vergleicht man
die wirtschaftliche Situation der Euro-Staaten im Jahr 2000 mit der des Jahres 2014, dann ist auf den ersten Blick
erkennbar, dass die Schuldenkrise die Konvergenzfortschritte der ersten Jahre der Währungsunion nicht nur zunichte
gemacht hat, sondern die Mitgliedstaaten sogar stärker auseinandergetrieben hat. Die Staatsverschuldung ist überall
gestiegen, die Haushaltsdefizite haben sich fast überall vergrößert und die Arbeitslosigkeit liegt nur in Deutschland und
Finnland unter dem Stand der Jahrtausendwende. Das BIP-Wachstum hingegen war in allen maßgeblichen Euro-Staaten
seit dem Jahr 2000 im jährlichen Durchschnitt niedriger als in den 1990er-Jahren, in Italien und Griechenland sogar
negativ.
Eine aktuelle Studie des DIW zeigt, dass die Finanz- und Schuldenkrise in der Euro-Zone zwischen 2004 und 2011 die
soziale Ungleichheit verstärkt hat – allerdings nicht innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten, sondern zwischen den
Mitgliedstaaten. Während wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland, Österreich und Luxemburg ihren Wohlstand
auch in dieser Zeit steigerten, fielen Krisenländer wie Griechenland und Spanien zurück. Die Bemühungen, eine
stärkere Konvergenz zwischen den Euro-Staaten zu erreichen, müssten aus dieser Sicht also intensiviert werden.
Dabei sind jedoch ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu beachten, wie der französische Ökonom Patrick Artus in einer
aktuellen Analyse zeigt. Eine Konvergenz der Wohlstandsniveaus in einer Währungsunion sei nur dann nachhaltig,
wenn sich der Anstieg der Kaufkraft der Arbeitnehmer im Einklang mit der Produktivitätsentwicklung befinde. Die um
die Inflationsrate bereinigten Löhne und Gehälter dürfen also im Trend nicht schneller steigen als die Produktivität.
Zwischen 1999 und 2008 sind aber die Realeinkommen in Frankreich, Italien und Griechenland stärker gestiegen als die
Produktivität, während sie (bis 2010) in Spanien und Portugal im Gleichschritt mit der Produktivitätsentwicklung
stiegen – und in Deutschland langsamer als die Produktivität. Da ist sie wieder: die deutsche Lohnzurückhaltung des
vergangenen Jahrzehnts. Sie hat zwar die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft gesteigert, aber
im Zusammenspiel mit exzessiven Lohnsteigerungen in anderen Euro-Staaten einen Keim für die Krise gelegt.
Aus ökonomischer Sicht kann deshalb die Konvergenz der Lebensverhältnisse nicht schneller vonstattengehen als die
Konvergenz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte in der Euro-Zone. Das wird recht langsam sein,
denn die Produktivität entwickelt sich insgesamt schwach und ist in vielen Krisenländern sogar weiter hinter den
europäischen Durchschnitt zurückgefallen.
Aus politischer Sicht können Transferzahlungen der reicheren an die ärmeren Staaten die Konvergenz vorantreiben. Das
ist für die Deutschen – auch aufgrund der Erfahrungen mit dem Länderfinanzausgleich – ein rotes Tuch. Sie übersehen
dabei jedoch oft, dass die EU schon heute ein Transfersystem ist, bei dem unter anderem Deutschland, Frankreich und
Großbritannien Nettozahler sind und die Süd- und Osteuropäer netto Geld aus der Brüsseler Umverteilungsmaschinerie
erhalten.
Erfreulicherweise sprechen sich die „fünf Präsidenten“ in ihrem Papier gegen ein festes, regelmäßiges Transfersystem
zur Angleichung der Lebensverhältnisse nach dem Muster des deutschen Länderfinanzausgleichs aus. Die Erfahrungen
mit dem vom Volumen her recht geringen Länderfinanzausgleich zeigen, dass ein solches System den Wettbewerb
lähmt und die Anreize zu eigenen fiskalischen Anstrengungen mindert.
Wirksamer als mehr Geld umzuverteilen dürfte es ohnehin sein, den Wettbewerb innerhalb der EU anzukurbeln. Eine
Komplettierung des Europäischen Binnenmarktes wäre das Beste, was die Politik tun kann, um mehr Wachstum zu
erzeugen und die Integration der europäischen Volkswirtschaften zu vertiefen. Auch Deutschland sollte hier mehr
Initiative entfalten. Zusätzlich könnte der Europäischen Kommission das Recht eingeräumt werden, eine eigene Steuer
zu erheben, um über Mittel für eigene Wachstumsinitiativen zu verfügen, zum Beispiel für einen EU-weiten Ausbau der
Breitbandnetze.
Die Lehre aus der zunehmenden Divergenz zwischen den Volkswirtschaften der Euro-Zone darf keinesfalls sein, den
Wettbewerb zwischen den Mitgliedern einzuschränken und die Transferzahlungen auszuweiten. Eine Währungsunion
mit einheitlichen Lebensverhältnissen in allen Regionen kann und wird es nicht geben – es gibt sie auch in den USA
nicht und nicht einmal in Deutschland.
Die Lehre muss sein, wirtschaftspolitisch enger zusammenzuarbeiten, um die Wettbewerbsfähigkeit der ganzen EuroZone vor allem gegenüber den Wachstumspolen Nordamerika und Südostasien steigern.
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