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Sandra Fuchs
3400, Kapitel 4
WS 13/14
Sigmund Freud – Psychoanalyse
Freuds Psychoanalyse enthält sowohl allgemeinpsychologische als auch
persönlichkeitstheoretische, psychotherapeutische und kulturpsychologische Anteile.
⇒
allgemeinpsychologische Teile der Psychoanalyse, d. h. denjenigen Komponenten,
von denen angenommen wird, dass sie auf alle Menschen anwendbar sind
Das strukturelle Modell des psychischen Apparats (Instanzenmodell)
Umfasst in Freuds „Abriss der Psychoanalyse“ auch die Trieblehre, sein Energiemodell und
das topografische Modell (unbewusst, vorbewusst, bewusst)
Energiemodell des Menschen (3 Wege zum Spannungsaufbau)
1. Für Freud ist der Mensch ein Energiesystem, das darauf abzielt,
Spannungen zu reduzieren und einen Gleichgewichtszustand herzustellen.
Spannungen entstehen, wenn libidinöse oder destruktive Impulse
Motivenergien nach Realisation streben.
2. Da die libidinösen & destruktiven Impulse entweder gar nicht oder nicht sofort
umgesetzt werden können, da sie im Widerspruch zu den Bedingungen der Realität
und den Ansprüchen des Über-Ich stehen, kommt es zu zusätzlichen Spannungen.
3. Eine weitere Quelle von Spannungen sind die ins ES verdrängten
Bewusstseinsinhalte.
Trieblehre
Freud hat zwei Motive auf der ES-Ebene,
d. h. der Ebene der genetisch bedingten Triebe bzw. Motive,
angenommen.
1. Eros: zielt auf Bindung ab
Die Energie des Eros ist die Libido
Ursprünglich nur Sexuelle Energie, später allgemeiner
Bindungs-/Lebensenergie
2. Thanatos:
Todestrieb, Destruktionstrieb
Strebt nach Auflösung
Keine gesonderte Bezeichnung für die Energie des Thanatos
(Destrudo?)
⇒ Eros & Thanatos können gegeneinander oder in Kombination wirken
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Das topografische Modell (Eisbergmodell)
Seelische Vorgänge im Menschen,
die er bemerkt und zu denen er
unmittelbar Zugang hat
Das Bewusste
Seelische Vorgänge, die wir nicht
spontan wissen, die jedoch dem
Das Vorbewusste
Bewusstsein wieder relativ voll
zugänglich gemacht werden können.
Seelische Vorgänge, um die nicht
(mehr) wissen, aber unser Erleben und Das Unbewusste
Verhalten mitbestimmen. Es ist nicht
oder nur mit großer Mühe
(Psychoanalyse) möglich, diese wieder
bewusst zu machen.
z. B. verdrängte Konflikte, Triebe, …
Das Instanzenmodell
Nach Freud umfasst der psychische Apparat drei Instanzen: das ES, das ICH und das ÜBERICH.
Repräsentiert den Einfluss der Eltern bzw.
die Werte und Normen, die ein
Individuum im Laufe seiner/ihrer
Sozialisation erwirbt.
„Das Gewissen“
Moralische Instanz Werte & Normen
Realität
ÜBER-ICH
Interaktion
ICH
Reize
genetisch bedingte Triebe & Motive
Eros → Libido
Thanatos → Destrudo;
Unbewusste Prozesse
Primärprozesshaftes (=impulsives, alogisches) Denken;
Kennt kein Gut/Böse, Moral/Ethik
Strebt nach unmittelbarer Befriedigung seiner Triebe;
Fordernd, impulsiv, blind, irrational, asozial, egoistisch,
lustorientiert
Aus dem ICH verdrängte Konflikte (Tendenz: bewusst
werden wollen)
ES
2
Aufgabe: Selbsterhaltung
Entsteht aus der Rindenschicht des ES
durch Kontakt mit der Realität
Am Realitätsprinzip orientiert;
Sekundärprozesshaftes, logisches Denken
Bewusste oder vorbewusste Prozesse
Selbsterhaltung ist schwierige Aufgabe,
da das ICH zwischen den
Triebansprüchen des ES, den aktuellen
Bedingungen der Realität und den
normativen & moralischen Ansprüchen
des ÜBER-ICH vermitteln muss
Das „arme ICH“ muss nach Freud gleich 3
Herren zugleich dienen: dem ES, dem
ÜBER-ICH und der Realität
Pferd (ES) liefert die Energie, der Reiter (ICH)
versucht es zu lenken, kann aber auch die Macht
über das Pferd verlieren, so dass es dann selbst
bestimmt, wohin es galoppiert.
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Die dritte Kränkung für die Menschheit
Freuds Hauptinteresse galt dem Unbewussten und seine These lautete: Unser Denken,
Fühlen und Handeln wird in 1. Linie durch unbewusste Prozesse beeinflusst, nicht so sehr
durch bewusstes Planen oder Denken.
Freud selbst charakterisierte diese These selbst als „dritte Kränkung für die Menschheit“,
reihte sich somit ein neben Galileo („Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums,
sondern die Sonne“) und Darwin („Der Mensch stammt vom Affen ab und nicht von Gott“).
Das Ich und die Abwehrmechanismen
Abwehrmechanismus
Definition
Wichtigster Abwehrmechanismus, den das ICH einsetzen kann, um die
Verdrängung
Reaktionsbildung
Projektion
Regression
Rationalisierung
Sublimierung
Angst zu regulieren, die bei Konflikten zwischen ES, ÜBER-Ich und
Realität entstehen.
Unerwünschte oder gefährliche Treibimpulse werden aus dem
Bewusstsein ins Unbewusste abgeschoben bzw. daran gehindert, wieder
in Bewusstsein zu treten.
Verdrängte Inhalte sind zwar nicht mehr bewusst, aber nicht
verschwunden, sondern „gären“ im ES unbewusst weiter und müssen
auch in Zukunft daran gehindert werden, wieder bewusst oder sogar
handlungsleitend zu werden.
Nicht akzeptable Impulse werden durch Betonung des Gegenteils in
Gedanken oder im Handeln abgewehrt.
Eigene, nicht akzeptable Impulse werden anderen zugeschrieben,
Eine Person fällt auf eine frühere Entwicklungsstufe mit primitiveren
Reaktionen zurück.
Ein problematisches Verhalten wird dadurch gerechtfertigt, dass
scheinbar vernünftige, aber nicht zutreffende „fadenscheinige“ Gründe
dafür angegeben werden.
Triebenergie wird in sozial & kulturell hochbewertete Handlungen
umgewandelt.
Laut Freud ist Sublimierung der einzig akzeptable Abwehrmechanismus.
Alle anderen wirken, insbesondere bei chronischem Gebrauch, pathogen, d. h. sie erzeugen
psychische Störungen (Neurosen)
In der zeitgenössischen akademischen Psychologie sind einige Abwehrmechanismen als
intrapsychische Abwehrmechanismen in die Stressforschung eingegangen und werden nicht
per se als dysfunktional charakterisiert, sondern z. B. kann das Abziehen der Aufmerksamkeit
von einem bevorstehenden Stressor innerhalb eines bestimmten Bewältigungsprozesses
funktional sein, z. B. am Abend vor einer schweren OP, sodass die betroffene Person nicht
am Schlaf gehindert wird.
Freuds Modell des psychischen Apparates sowie die Abwehrmechanismen können bei der
Interpretation alltäglicher Begebenheiten eingesetzt werden. (→ vergl. 3 Szenen im SB)
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Freuds Modell der Entwicklung der Sexualfunktion (=Libidoentwicklung)
Orale Phase
0-1 Jahre
Der Mund fungiert als erogene Zone.
Das Saugen und Lutschen des Babys bei der Nahrungsaufnahme
sei deutlich mit Lustgewinn verbunden.
Der Mund ist zum Überleben die primäre Lustquelle, das Baby saugt
instinktiv. Durch die orale Befriedigung entwickelt das Baby Vertrauen &
eine optimistische Persönlichkeit.
Ein Stagnieren auf dieser Phase nennt man orale Fixierung.
Gibt es einen Mangel an oraler Stimulation (zu frühes Abstillen), dann kann die Persönlichkeit pessimistisch,
misstrauisch oder aggressiv geraten.
Anale Phase
1-3 Jahre
Lustgewinn durch das Zurückhalten und Loslassen der
Exkremente.
Der Mittelpunkt des Vergnügens wechselt zum Anus.
Zwang kann zu analer Fixierung führen, übermäßige Sorge zu zwanghafter Pünktlichkeit/rebellisches
Zuspätkommen.
Phallische Phase
3-6 Jahre
Lustgewinn durch Stimulation der Genitalien.
Die Kinder werden sich ihrer Geschlechtsteile bewusst („spielen mit sich“)
und somit der sexuellen Unterschiede. Daraus folgen unterschiedliche
Entwicklungen für Jungen und Mädchen.
Endet mit dem Ödipuskomplex
Laut Freud sind die ersten drei Phasen von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der
Persönlichkeit.
Latenzphase/-zeit
Nach Identifikation mit dem Vater, d. h. den durch den Vater
6-11 Jahre
repräsentierten Werten & Normen, setzt die Entwicklung des
ÜBER-ICH ein.
Latenzzeit für die Entwicklung der Sexualfunktion
Sexualtriebe werden verdrängt, es gibt keine neuen erogenen Zonen.
Genitalphase
Ab 11 Jahre
In der Pubertät wird die Entwicklung der Sexualfunktion wieder
aufgenommen und abgeschlossen.
(Adoleszenz)
Die in der Latenzzeit verdrängten Impulse kommen wieder zum
Vorschein, richten sich nun aber auf die gegengeschlechtliche
Person.
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Ödipuskomplex
Der Ödipuskomplex ist nach Freud das Ende der frühkindlichen Sexualentwicklung und
beschreibt die Gesamtheit der ambivalenten (Liebes- und feindseligen) Wünsche, die das
Kind während der phallischen bzw. ödipalen Phase seiner psychosexuellen Entwicklung
seinen Eltern gegenüber empfindet. Unbewusst richten sich die sexuellen Wünsche des
Kindes auf den Elternteil entgegengesetzten Geschlechts und parallel wird gegenüber dem
gleichgeschlechtlichen Elternteil, den das Kind als Rivalen betrachtet, Eifersucht und Hass
empfunden.
Nach Freud tritt das ödipale Begehren zum ersten Mal im dritten bis fünften Lebensjahr auf,
der von Freud sogenannten „phallischen“ oder „ödipalen“ Phase.
Der kleine Knabe begehrt seine Mutter und erlebt den Vater als Rivalen, den es aus dem
Weg zu räumen gilt, d. h. im Unbewussten des Jungen findet sich ein sexuelles Begehren
gegenüber der eigenen Mutter und der unbewusste Wunsch, den Vater als Rivalen zu
töten.
Infolge des Begehrens nach der Mutter entwickelt der Junge Schuldgefühle dem Vater
gegenüber sowie eine schleichende Angst vor Bestrafung durch den Vater.
⇒ Kastrationsangst:
Das Kind hat Angst, für seinen Wunsch und sein Aufbegehren gegenüber dem Vater mit der
Kastration bestraft zu werden.
Außerdem drohe die Mutter dem Kind, dass sein Glied abgeschnitten werde, wenn es weiter
damit spiele.
An dieser Stelle ist der Junge in größter Not und sucht verzweifelt nach einer Lösung.
Der Junge löst diesen Komplex (Konflikt) und die damit verbundene Kastrationsangst/drohung durch Identifikation mit dem Vater, d. h. den durch den Vater repräsentierten
Normen & Werten.
Durch diese Identifikation setzt die Entwicklung des ÜBER-ICH sowie eine Latenzzeit für die
Entwicklung der Sexualfunktion ein, die erst in der Pubertät, in der genitalen Phase, wieder
aufgenommen und abgeschlossen wird.
Das Kind verzichtet auf den Inzestwunsch und hört auf, den Vater als Rivalen zu bekämpfen.
Aus dem Feind wird ein Vorbild, das Kind versucht dem Vater nachzueifern und der reifere
Wunsch, einer Frau wie die eigene Mutter zu besitzen, aber außerhalb der eigenen Familie.
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Beim Ödipuskomplex durchwandert jeder Junge unbewusst eine Reihe von Zwischenphasen:
1.
2.
3.
4.
Er entwickelt ein starkes Verlagen nach seiner Mutter
Er bemerkt das enge Band zwischen seinen Eltern (sie schlafen miteinander).
Er wird eifersüchtig auf seinen Vater und hasst ihn.
Er ängstigt sich, dass sei Vater seine wahren Gefühle (sein Verlangen, seine
Eifersucht, seinen Hass) entdecken könnte.
5. Er fürchtet die schlimmste Bestrafung für einen Jungen – Kastration!
Elektrakomplex
Das Mädchen wird sich in der ödipalen Phase des Geschlechtsunterschiedes bewusst.
⇒ Penisneid
Unbewusst macht das Mädchen die Mutter für das „Fehlen“ des Penis verantwortlich.
Dadurch richten sich die Interessen und Wünsche des Mädchens nun an den Vater, den das
Mädchen besitzen möchte, und rivalisiert unbewusst mit der Mutter.
Die auftretenden Konflikte löste das Mädchen durch Identifikation mit der Mutter, wobei die
Identifikation lange nicht so ausgeprägt sei wie des Jungen mit dem Vater, so dass nach
Freud die Frauen auch kein derart ausgeprägtes Über-Ich entwickeln wie Männer.
Während die Kastrationsangst für den Jungen das Ende der ödipalen Phase markiert,
bestimmt die imaginierte Kastration für das Mädchen (weil es diese als bereits vollzogen
betrachtet, den Anfang der ödipalen Phase.
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Karen Horney , eine Psychoanalytikerin, die nach Freud insb. in
Chicago gewirkt hat, wies darauf hin, dass die weiblichen
Minderwertigkeitskomplexe nicht auf einen fehlenden Penis
zurückzuführen sind, sondern auf tatsächliche Benachteiligung der
Frauen im sozialen & gesellschaftlichen Leben.
„Der kleine Hans“ (Fallbeispiel)
Der Fall des kleinen Hans gilt als wichtiger „Beleg“ für die Ödipus-Theorie.
Hans entwickelte eine Pferdephobie, nachdem er Zeuge eines Unfalls geworden war, bei
dem ein Pferd, das einen Wagen zog, hinfiel.
Hans´ Vater, der bei Hans eine psychoanalytische Therapie durchführte, erklärte dem
Jungen, die Angst habe mit seiner Masturbation, sexuellen Phantasien gegenüber der Mutter
sowie Hass und Angst gegenüber dem Vater zu tun, und Pferde stünden nur symbolhaft für
die Angst.
Hans hingegen behauptete, seine Pferdangst rühre von dem Unfall her. Auch die Mutter
bestätigte den Unfallhergang und dass sich Hans´ Angst erst danach gezeigt hatte.
Einige Entwicklungen der Psychoanalyse nach Sigmund Freud
Zwei seiner engsten Schüler, Carl Gustav Jung & Alfred Adler, trennten sich von Freud und
entwickelten eigene Ansätze. Beide kritisierten die Überbetonung der Sexualität bei Freud
und berücksichtigten in ihren eigenen Theorien soziale Bedingungen der
Persönlichkeitsentwicklung.
Individualpsychologie (Alfred Adler)
Bereits in den frühesten Interaktionen eines Kindes entwickelt sich ein Gemeinschaftsgefühl,
ein Gefühl des Aufgehobenseins mit & bei Anderen, welches auch im späteren Leben mit
psychischer Gesundheit einhergeht.
Ich-Psychologie (Heinz Hartmann)
Statt Freuds „ES-Psychologie“, die sich in erster Linie für das Unbewusste interessierte
→ das Interesse verschob sich vom ES auf die Funktionen und Entwicklungen des ICH
Statt ICH, das aus Rindenschicht des ES entsteht
→ ICH von Anfang an als eigene Instanz mit eigenen Fähigkeiten (z.B.
wahrnehmungsbezogene)
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Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung (Erik Erikson)
→ besonders interessant für die Entwicklungspsychologie
-
Umfasst die gesamte Lebensspanne von Geburt bis Tod
-
Entwicklung der ICH-Identität in 8 Phasen mit jeweils spezifischen Konflikten/Krisen
zw. Bedürfnissen des Individuums & Anforderungen der Gesellschaft
z.B. Generativität (Kinderversorgung) vs. Stagnation (nur um sich kümmern)
⇒ Entwicklung der Fähigkeit, für andere zu sorgen, ohne eigene Bedürfnisse aus Augen zu
verlieren
Objektbeziehungstheorien (Melanie Klein, Otto Kernberg, Heinz Kohut)
Freud: intrasystemischer Antagonismus zw. ES, ICH und ÜBER-ICH
vs. (!!!)
PA als Behandlungsmethode, die von Anfang an Psychologie der Objektbezogenheit, d. h.
interpsychischer Ansatz
Freud:
Zentral für psychoanalytische Theorie der Therapie sind die Konzepte Übertragung und
Gegenübertragung
Übertragung = früh erworbene Interaktionsmuster werden in späteren Beziehungen
wiederholt (z. B. liebevolle Gefühle/Hass gegenüber Mutter/Vater auf Therapeuten
übertragen)
→ Übertragungsbeziehung wichtig, da Chance frühere & verdrängte Konflikte
durchzuarbeiten/reflektieren
Gegenübertragung = unbewusst & unbeabsichtigt, ist unerwünscht!!
→ Therapeut projeziert Gefühle auf seinen Patienten
⇒ Lehranalyse
Die konzeptuelle Lücke zwischen dem intrapsychischen Ansatz des Modells des psychischen
Apparates und dem interpsychischen Ansatz der psychoanalytischen Behandlungsmethode
versuchen die Objektbeziehungstheorien zu schließen.
Stellen das Bedürfnis des Subjekts , sich auf Objekte zu beziehen in den Mittelpunkt (statt
Triebspannungen reduzieren als Bedürfnis)
Zunehmend Persönlichkeitsstörungen in PA (Westen & Gabbard, 1999)
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Bindungstheorie (John Bowlby)
Kleine Kinder suchen in bedrohlichen Situationen die Nähe zu einer engen Bezugsperson.
Bindungsverhalten sowohl bei Menschen als auch höheren Säugetieren.
→ evolutionsbiologisch verankert
⇒ Entstehung eines inneren Arbeitsmodells, das auch im späteren Leben enge Beziehungen
beeinflusst
⇒ die Psychoanalyse hat sich unterschiedlich entwickelt
Die Psychoanalyse ist kein einheitliches Paradigma, sondern es lassen sich viele
verschiedene „Sub-Paradigmen“ identifizieren, welche teilweise auch unter den
Bezeichnungen „psychodynamisch“ oder „tiefenpsychologisch“ firmieren (Westen &
Gabbard, 1999)
→
Liste von Annahmen, Postulaten, Merkmalen und Konzepte der psychoanalytischen
bzw. psychodynamischen Theorien, d. h. die in verschiedenen psychoanalytischen
Ansätzen mehr oder weniger deutlich zu finden sind.
Kleinster gemeinsamer Nenner:
1.
Viele kognitive, affektive und motivationale Prozesse sind unbewusst und können das
Verhalten jenseits bewusster Intentionen und Handlungspläne beeinflussen.
2.
Psychische (z.B. affektive & motivationale) Prozesse laufen parallel ab und können in
widerstreitenden, konfligierenden Tendenzen resultieren, die dann durch
Kompromissbildungen gelöst werden.
3.
Abwehr- und Selbsttäuschung
4.
Einfluss vergangener Erfahrungen auf das gegenwärtige Funktionsniveau.
5.
Chronische Wirkungen von Interpretationsmustern, die in der Kindheit erworben
wurden.
6.
Der bewusste oder unbewusste Einfluss sexueller, aggressiver und anderer Wünsche
bzw. Ängste (z.B. auch das Bedürfnis nach Selbstwertschätzung und Bindung) auf das
Erleben und Verhalten.
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Methodik & empirische Befunde
Methodik:
Freie Assoziation
Patient auf Sofa → Regression in die frühe Kindheit durch entspannte Position →
Erinnerungen → Freud (Therapeut) nicht sichtbar hinter der Couch → liefert zu geeigneten
Zeitpunkten aus seiner Theorie abgeleitete Deutungen, die Patient annehmen kann oder
nicht.
Traumdeutung
Träume für Freud die via regia zum Unbewussten (nicht unmittelbarer Ausdruck der
Erfüllung von unbewussten, insb. sexuellen Triebwünschen.
Manifester Trauminhalt: was erinnert werden kann vom Patienten
= Ergebnis der Traumarbeit
Traumarbeit: Umwandlung des latenten Trauminhalt in einen manifesten Trauminhalt
umzuwandeln
Würde triebbedingte Wunscherfüllung im Traum unmittelbar/unverschleiert erfolgen, dann
wäre die zu bedrohlich und Patient würde aufwachen, um Traum abzubrechen (wie bei
Alptraum)
Traumdeutung: Analytiker erschließt den latenten Trauminhalt aus dem manifesten
Trauminhalt, der durch Symbole verschleiert (z. B. Schwerter/Schlangen = Penis, Objekte mit
Öffnungen/Höhlen/Kästen = Vagina)
= Verschiebung: durch Symbole verschiebt sich der latente Trauminhalt in den manifesten
Trauminhalt.
Veröffentlichung einiger Einzelfallstudien mit prägnanten Titeln:
„Der Wolfsmann“
„Der kleine Hans“
⇒ markante Betitelung (nicht Freuds Methode) wurde in Fallbüchern des DSM übernommen
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Kritik:
Keine Falsifizierbarkeit (aus wissenschaftstheoretischer Perspektive)
Immunisierung = wird Deutung vom Patienten akzeptiert, so handelt es sich um eine
Bestätigung für das Zutreffen der Deutung vs. Widerstand interpretiert, der auf unbewusste
Prozesse zurückgeht
Suggestive Wirkung = durch Expertenstatus des Analytiker, so dass im Sinne einer selffullfilling-prophecy Bestätigung der Theorie
Keine empirische Belegbarkeit
→ psychosexuelle Stufenlehre
→ Verschiebung (Traumarbeit)
Studien zum verbalen Konditionieren
Verstärkung durch Analytiker, wenn Patient über sexuelle Erfahrungen & Kindheitserlebnisse
sprechen, sobald die freien Assoziationen in Richtung gehen, die zur psychoanalytischen
Theorie passen.
Belege
Neuropsychologische Befunde zur Hirnaktivität beim Träumen: ist Stirnhirn durchtrennt,
dann träumen Patienten nicht mehr, d.h. Träume nicht arbiträr, das diese Verbindung auch
mit Arealen des Frontalcortex verknüpft, die für Verhaltenssteuerung zuständig.
Empirische Psychologie konnte die Fruchtbarkeit vieler Grundideen & Hypothesen der PA
mit empirischen Methoden belegen.
⇒ Drew Westens zahlreiche empirischen Befunde zu 5 Postulaten, die nach seiner
Auffassung aktuelle psychodynamische Theorien kennzeichnen.
1. Das Unbewusste spielt eine große Rolle im Leben.
2. Man kann das Verhalten als Kompromiss verstehen, der aus Konflikten zwischen
mentalen Prozessen entsteht.
3. In der Persönlichkeitsentwicklung spielt die Kindheit eine große Rolle, insb.
hinsichtlich der Formung reifer Prozesse.
4. Interaktionen mit anderen werden durch eigene mentale Prozesse sowie mentale
Prozesse anderer geleitet.
5. Um zu einem reifen & unabhängigen Beziehungsstil zu gelangen, bezieht die
Persönlichkeitsentwicklung nicht nur regulative aggressive & sexuelle Gefühle mit
ein, sondern auch die Reifung eines kindlichen & unreifen Zustandes
gesellschaftlicher Abhängigkeit inkl. des Bezugs auf andere Menschen.
In diesen Postulaten auch Freuds „Dritte Kränkung der Menschheit“ (=viele kognitive,
affektive & motivationale Prozesse sind unbewusst)
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Prozedurales Wissen: ohne bewusste Kontrolle wird Wissen in Verhalten umgesetzt
→ Autofahren (rekonstruierbares Wissen)
→ Chicken-Sexing (Wissen nicht rekonstruierbar)
→ Torschützenkönig
Neurologische Befunde belegen unbewusste emotionale Prozesse (Epilepsiepatient, vages
Gefühl trotz Erinnerungslücke)
Studien zum affektiven Konditionieren ⇒ weiterer Beleg für unbewusste affektive Prozesse
Sinnlose Silben & Elektroschocks (Lazarus & McCleary, 1951)
⇒ physiologische Reaktionen auch ohne Elektroschocks bei Silben-Darbietung
Gerd Gigerenzer „Bauchentscheidungen“ ⇒ Bedeutsamkeit unbewusster Motive
Methode zur Erfassung unbewusster Motive: Implicit Association Test
Fazit: Die unbewussten emotionalen, motivationalen und kognitiven
Prozesse, welche in kognitions- & neurowissenschaftlich orientierten Studien
nachgewiesen werden konnten, sind zwar keine unmittelbare Überprüfungen
des Unbewussten im Sinne Freuds (unbewusste sexuelle Triebe), zeigen aber,
dass Freud mit seiner Grundidee (unbewusste Prozesse beeinflussen unser
Verhalten) richtig lag
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Kritik und Würdigung
Würdigung
Kritik
Fehler & Irrtümer Sigmund Freuds
Viele Kritikpunkte richten sich ausschließlich
gegen die Freud´sche Variante der
Psychoanalyse, sind mittlerweile durch
psychodynamische Weiterentwicklungen
überholt
Es wäre falsch, wissenschaftlich nicht korrekt
& nicht fair, das psychoanalytische
Paradigma deswegen abzulehnen
Viele Konzepte & Ideen der Psychoanalyse
sind in die „normale“ psychologische
Wissenschaft aufgenommen, dort mit den
üblichen wissenschaftlichen Methoden
empirisch untersucht worden & konnten
gestützt werden
Psychodynamische Weiterentwicklungen
„So neu war das alles nicht!“
(wissenschaftshistorischer Einwand)
- Die meisten Ideen der PA waren zu
Lebzeiten Freuds bereits verbreitet:
 Das Unbewusste war
Modethema des ausgehenden
19. Jh. Von Leibniz,
Schopenhauer, Nietzsche & Carl
Philipp Moritz bereits ausführlich
thematisiert
 These einer infantilen Sexualität
bereits vor Freud von damaligen
Sexologen vertreten.
- Falsch/überzogen wäre aber die
Einschätzung des PsychologieHistorikers Leahey (1992): „Wäre
Freud schon als Kind gestorben, dann
wäre die PA dennoch in irgendeiner
Weise erfunden worden.“
Auch wenn viele Ideen der PA zu Lebzeiten
Freuds schon verbreitet waren, so musste
doch erst ein Sigmund Freud kommen und
diese Ideen in ein einheitliches System
bringen & Begriffe erfinden, so dass
Sprechen & Reflektieren über psychische
Phänomene erst möglich wurde.
Pansexualismus
In der heutigen psychoanalytischen
Behandlung wird nicht nur über Sex geredet,
sondern über die Themen, die ein Patient
zur Sprache bringt.
-
Überbetonung des Sexuellen in
seinen Werken
Tendenz, hinter nahezu jeder
menschlichen Regung versteckte
sexuelle Impulse zu vermuten
(romantische Liebe = sublimierte
Sexualität)
⇒ früh von engsten Schülern um
nicht-sexuelle, v. a. soziale Motive
ergänzt
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Frauenfeindlichkeit & sexistische
Anteile
-
Wurde z. B. in seiner psychosexuellen
Phasenlehre deutlich
Freuds Annahmen waren für die sich
etablierenden Frauenbewegungen
alles andere als hilfreich
Dogmatismus
-
-
Dogmatisches Verhalten gegenüber
Andersdenkenden
Freud & „Kronprinz“ C. G. Jung &
Alfred Adler trennten sich im Streit
voneinander
Anfeindungen durch orthodoxe
Psychoanalytiker gegenüber Heinz
Kohut – einer der zentralen
Narzissmus-Theoretiker nach Freud –
als er eigenständige
psychoanalytische Selbstpsychologie
vorlegte, bei Trennung von einigen
zentralen triebtheoretischen
Annahmen
(„Objektbeziehungstheorie“)
⇒ Eindruck: PA=dogmatische, quasi-religiöse
Bewegung
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„Ist die Psychoanalyse eine empirische Wissenschaft?“
Pro
-
PA genügt nicht dem Kriterium der
Falsifizierbarkeit
Neigt zur Immunisierung seiner
theoretischen Annahmen
Vage Formulierung einiger
psychoanalytischer Konstrukte (keine
Operationalisierung/Messbarkeit
möglich), z. B. komplexe Prozesse im
ES
Contra
- Das Unbewusste konnte einer
empirischen Untersuchung
zugeführt werden
- Versuche der neuropsychologischen
Fundierung in jüngster Zeit
⇒ Erfüllung Freuds Wunsches, seine
psychoanalytische Methode
naturwissenschaftlich zu betreiben
-
-
Juli 2000, London: „International
Neuropsychoanalysis Society”
⇒ PA & Neurowissenschaften
zusammmenbringen (Ziel)
Viele interessante & z. T.
provozierende Hypothesen &
Modelle
z. T. sehr fruchtbar & zutreffend
z. T. falsch/falsifiziert
- Die wissenschaftliche Psychologie hat Freuds Methode nicht wissenschaftlich
Freud viele gute Ideen & Einsichten
gemäß der allg. akzeptierten Kriterien
zu verdanken
⇒ Freuds PA hat die Kultur des 20. Jh.
entscheidend geprägt (Schriftsteller,
Kulturwissenschaften: Philosophie,
Germanistik, Medienwissenschaften als
Interpretationsmethode)
-
Wer die PA nicht kennt, kann weite
Bereiche der Kultur des 20. Jh. Nicht
verstehen.
⇒ Wir alle sprechen Freuds Sprache, ob wir es wissen oder nicht, Freud
verehren oder verachten! Die/der psychoanalytische Lehre/Jargon ist
Bestandteil unserer Welt geworden!“ (Peter Gay, 2006)
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