I. „Alles fließt“ sagt Heraklit, auch die Zeit. Diese Vorstellung hat sich

Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge
Ansprache Buß- und Bettag
Altvilligster auf Schwanenwerder
18. November 2015
I.
„Alles fließt“ sagt Heraklit, auch die Zeit. Diese Vorstellung hat sich unserer
Kultur eingeprägt und mit ihr die Erfahrung, dass das Leben in der Zeit etwas
Unwiederholbares ist. Die Zeit läuft. Sie läuft ab. Das prägt unser Denken und
Fühlen. Wir können das, was war, nicht zurückholen. Es ist vergangen. Und je
älter ein Mensch wird, desto öfter fragt er sich, was jetzt noch vor ihm liegt, wie
viel Zeit ihm bleibt.
Buße – das heißt Umkehr. Aber wie kann das gehen, wenn alles fließt und
immer weiter fließt? Was gesagt ist, ist gesagt. Was wir getan haben, haben wir
getan; und lässt sich nicht mehr umkehren. Umkehr, das geht nur in der Zeit und
nicht vor der Zeit: also kein Neuanfang, aber zumindest auch nicht ein „immer
weiter so“. Umkehr behält also das, von dem sich abgewandt wird, im Rücken,
es bleibt unser Gepäck; und wird doch anders: kann sich verwandeln. Weil alles
fließt.
II.
Aristoteles war es, der als Erster exakt die Zeit als Veränderung und messbar beschrieb und alle Dinge auf ein Ziel hin, ein Telos ausgerichtet sah. Diese Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs verbindet sich mit den Traditionen des hebräischen Denkens, die uns geprägt haben. Demnach ist die Zeit eingespannt
nach hinten in die Erinnerung an die Befreiung und Errettung aus der Sklavenherrschaft in Ägypten und nach vorne auf die Verheißungen Gottes. Eine solche
auf die verheißene Zukunft ausgerichtete Sicht des frühen Judentums war es, die
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zum Kern für die apokalyptische Zeitvorstellung wird. Die Erwartung einer endgültigen Errettung aus den Leiden und Ungerechtigkeiten der Gegenwart, die
Hoffnung auf ein neues Jerusalem. Vorher aber begleitet von den Zeichen der
Zeit – Abbrüche, Zerstörung, Zweifel und Angst. In alledem liegt das Heil noch
voraus, es liegt gleichsam als Negativfolie vor, als Sehnsucht; als Hoffnung auf
die Zukunft, dass Gott alle Tränen abwischen wird. Wir sind Teil dieser Zeit,
dieser Wirren, Teil aber auch des Heils, in das die Welt am Ende eingehen wird.
Nach diesem apokalyptischen Zeitverständnis sind wir Teil der Zeit, aber wir
bleiben passiv in ihr. Wir gestalten die Zeit nicht aktiv, sondern sind
hineinverwoben in eine Welt, die durch das Chaos auf das Heil zugeht. Mit oder
ohne uns.
Dieses apokalyptische Zeitgefühl ist uns nicht unbekannt. Wir finden uns in
einer Zeit mit ihren Mustern und Gegebenheiten vor; uns werden die Grenzen
dessen bewusst, was wir – weltweit gesehen – tatsächlich ändern oder bewegen
können. Und wir ahnen: Das ist wenig.
III.
Es ist der Evangelist Lukas, der in besonderer Weise eine Änderung dieser Zeitvorstellung im Blick hat. Die Welt steuert heilsgeschichtlich gesehen nicht nur
auf ihre Vollendung zu, sondern schon jetzt – in der Mitte der Zeit – ereignet
sich das Reich Gottes. Jetzt ist die Zeit, die „Mitte der Zeit“, die bereits in Jesu
Wort und Geschichte begonnen hat.
Ein solches hoffnungsvolleres Zeitverständnis begegnet uns auch im Gleichnis
vom Feigenbaum, das wir als Evangelium gehört haben. Linear und apokalyptisch verstanden läge nichts näher als den Baum abzuholzen, der keine Frucht
bringt. Und so hören wir es auch von der Verkündigung Johannes des Täufers:
„Die Axt ist schon an die Wurzel gelegt; und jeder Baum, der nicht gute
Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“
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Anders bei Jesus und beim Evangelisten Lukas: Ein Raum der Umkehr öffnet
sich – Buße wird möglich – ein geweitetes Zeitverständnis, ein Raum der Gnade
kommt uns entgegen.
Buße, in dieser Weise verstanden, wird somit zu einem Raum neuer Möglichkeiten, zu einem Freiheitsraum in der Zeit. Ein Raum, in dem nicht alles immer
so weitergeht, in dem nicht nur nach Kosten und Nutzen entschieden und sofort
abgeholzt wird, was nichts mehr bringt.
Ein solcher Raum ist keineswegs nur ein Wohlfühlraum. Es ist vielmehr ein
Raum, in dem ich meine Wirklichkeit so zulasse, wie sie ist. Und in dem ich mir
Zeit nehme, genau das anzuschauen. Das, was nicht mehr wachsen will und abzusterben droht. Ich kann das anschauen, ohne gleich die Axt zur Hand zu nehmen und alles abzuhauen, was mir nicht gefällt. Buße ist ein Zeitraum, in dem
ich zu mir umkehren kann. Auch zu meinen Katastrophen. Wenn Menschen ihr
Unglück erzählen können, dann staunen sie oft, dass sie sich nachher besser, oft
sogar erleichtert fühlen. Das „macht“ kein Seelsorger oder Therapeut. Es stellt
sich ein, ist geradezu ein Wunder. Interessant ist, dass Menschen, die das
erfahren, von sich aus aufhören, sich und ihre Welt schönzureden. Sie wollen
das Schlimme als schlimm und das Schuldige als Schuld beschreiben. Tröstung,
die vertröstet, verletzt noch mehr. Aber ein Raum, in dem wir sagen können,
was ist, bringt echten Trost.
IV.
Buße heißt also nicht kurzer Prozess, sondern Weitung, Vertiefung, Dehnung
der Zeit. Ein Innehalten. Diese Buße sollten wir uns öfters gönnen. Man nennt es
heute nicht mehr Buße – eher Auszeit.
Gerade wenn wir meinen, alles sofort und schnell entscheiden zu müssen,
brauchen wir eine solche Auszeit. Im Angesicht der Anschläge von Paris
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brauchen wir ein solches Innehalten. Das Gefühl, der Trauer und der Wut sofort
etwas entgegensetzen zu wollen, ist menschlich nur allzu verständlich. Aber wir
dürfen uns jetzt nicht von diesen Gefühlen leiten lassen. Wir brauchen Zeit zum
Innehalten. Damit wir uns nicht zu schnell mit Worten wie „Der Feind“, „Krieg“
und „Gegenschlag“ in eine Spirale der Gewalt verwickeln lassen. Damit wir
nicht vorschnell den hasserfüllten Terror mit dem Islam gleichsetzen. Damit wir
nicht die Menschen, die aus Kriegsgebieten zu uns flüchten und Schutz suchen,
unter Generalverdacht stellen. Stattdessen innehalten. Und damit der besonnen
Meinungs- und Entscheidungsfindung Raum geben, die uns als freiheitliche und
demokratische Gesellschaft auszeichnet.
V.
Auch der Zeitraum der Buße ist nicht ewig. Denn ewig hieße, den Baum nicht
mehr Feigenbaum sein zu lassen. Feigenbäume sollen leben. Sie sollen Feigen
tragen. Nicht ewig also – aber eine echte Chance. Und zwar deshalb, weil der
Feigenbaum sich nicht selbst retten muss, sondern weil ein Gärtner interveniert.
Er karrt Dünger heran, schaut nach der Bewässerung, pflegt, nimmt ein Risiko
auf sich, wettet um das Leben des Baumes.
Hier liegt für mich die Pointe dieses offenen Gleichnisbildes:
Mein Leben, meine Zeit, meine Schuld entfaltet sich in der Begegnung mit dem
seltsamen, um Ideen nicht verlegenen Weingärtner und Baumkundler: dem
Menschenkundler Jesus Christus. In seiner Gegenwart wird mir neue Zeit
geschenkt.
Schon hier und jetzt. Mitten im Leben. Damit Nues wachsen kann.
In der Mitte der Zeit hat das Heil schon begonnen!
Amen.
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