Nepal Tagebuch der Psychotherapeutin Barbara Preitler Die

Nepal Tagebuch der Psychotherapeutin Barbara Preitler
Die Nachmittagsgruppe war klein, aber sehr engagiert. Die TeilnehmerInnen haben viel über ihre
Situation erzählt. In einem Fall ging es um eine Strategie für die Familie: Seit dem Erdbeben sind die
Eltern extrem ängstlich geworden. Vieles was wir besprechen, macht die Situation verständlicher –
und damit auch besser handzuhaben.
Ein nächtliches Nachbeben spüre ich sehr deutlich. Vormittags fahren wir dann los Richtung
Melamchi, dem CARE- Büro im Distrikt Sindupalchowk. Kurz nachdem wir beim Flughafen vorbei
gefahren sind, werden für mich erstmals die Erdbebenschäden sichtbar: Gebäude sind eingestürzt
oder haben riesige Sprünge im Mauerwerk. Die sehr gute vierspurige Straße sackt auf einmal um
etwa einen Meter ab – und ist nur provisorisch so ausgeglichen, dass der Verkehr zumindest langsam
vorangeht.
„Je weiter wir fahren, desto mehr eingestürzte Häuser sehen wir“
Umso weiter wir vorankommen, umso häufiger sieht man halb oder ganz eingestürzte Häuser und
gleichzeitig nimmt die Anzahl der Zelte zu, auch von CARE zur Verfügung gestellt. Auf der anderen
Flussseite sieht man ein Dorf und unterhalb des Dorfes steht ein zweites Dorf aus Zelten.
In Melamchi sind alle sehr beschäftigt. Die erste Bitte ist, ob wir das für den Nachmittag geplante
Programm zeitlich in den Abend verschieben können (können wir natürlich). Viele der
MitarbeiterInnen sind noch in den Dörfern unterwegs.
Nachmittags treffen langsam die einzelnen Teams ein. Einige berichten von ihren Besuchen. Hier in
Melamchi gibt es zwar auch viele zerstörte Häuser, aber in den flussaufwärts gelegenen Dörfern sei
es noch wesentlich schlimmer. Einige der Dörfer sind vollkommen zerstört worden, kein einziges
Haus ist heilgeblieben. Einiges an Wiederaufbauarbeit ist inzwischen passiert: Fast überall gibt es
zumindest einige neue Gebäude.
Mehr Frauen als Männer unter den Toten des Erdbebens
Es gab in diesen Dörfern auch viele Todesfälle. Wieder einmal sind mehr Frauen als Männer
gestorben. Das lag wahrscheinlich daran, dass mehr Frauen in den Häusern waren und versucht
haben, sich um alle zu kümmern und vielleicht noch einen Teil der Habe zu retten. Selbst Frauen, die
außerhalb der Häuser waren, sind oft zurückgelaufen, um die Kinder und Alten herauszuholen. Oft
haben sie diese Hilfsbereitschaft mit dem Leben bezahlt.
Auch unter den toten Kindern sind mehr Mädchen als Burschen. Bei den Verletzten wiederum ist es
umgekehrt, hier überwiegt der Anteil der Männer. Rehabilitationsprogramme für die
schwerverletzten und behinderten Menschen laufen in der nächsten Programmphase an.
Beim Gang durch den Ort fällt auch auf, dass viele Männer und Burschen verbundene Hände oder
Füße haben, einige Männer sitzen in oft recht abenteuerlich zusammengebastelten Rollstühlen. Die
Verbände sehen teilweise professionell angelegt aus, andere bestehen aus Lumpen und
Plastiksäcken.
Alte Menschen schleppen stundenlang Hilfsgüter
In einem der Gespräche am Sonntag thematisiert eine Mitarbeiterin, wie sehr sie die Überforderung
der alten Menschen belastet. Wenn eine Familie eine Ration bekommt, werden oft die Alten
geschickt in der Meinung, damit Mitleid und mehr Zuwendungen zu bekommen. Ersteres funktioniert
auch, zweiteres natürlich nicht. Aber die Belastung bleibt, wenn die MitarbeiterInnen sehen, wie
diese alten Menschen sich mit den Hilfsgütern auf einen oft stundenlangen, mühseligen Weg
machen.
Am frühen Abend beginnt schließlich doch unser Workshop. 19 Leute versammeln sich im Büro des
Projektleiters - wir sitzen eng gedrängt am Boden auf Matten, die Stimmung ist dennoch gut. Nach
einer Vorstellrunde ist der Wunsch nach Entspannung groß. Wir beginnen mit einem Spiel und einer
ersten Runde. Der Teamgeist scheint hier sehr stark zu sein, auch wenn es laufend Wechsel im
Personal gibt. Einige sind schon seit Anfang Mai hier, andere erst seit gestern.
„Eine extrem sinnvolle und bereichernde Erfahrung“
Das gemeinsame Arbeiten und Leben auf engstem Raum scheint das Team sehr
zusammengeschweißt zu haben. Es werde sehr viel gelacht, wird berichtet und dass trotz der vielen
schwierigen Arbeit. Alle Teammitglieder wohnen in einer Wohnung zusammen: die vier Frauen in
einem kleinen Zimmer, die Männer in einem kleinen und in einem größeren – Matratze an Matratze,
ein Badezimmer für alle. Jemand meint, dass es schon erstaunlich ist, dass es bisher keine
Streitereien gegeben hat. Viele erleben die Zeit hier als eine extrem sinnvolle und bereichernde
Erfahrung.
Bebi beendet diesen Abend mit einer längeren Entspannungsübung, die trotz des eigentlich viel zu
kleinen Raums erstaunlich gut angenommen wird. Und dann gibt es für alle von Natascha, der
Projektkoordinatorin, organisierte Momos (gedämpfte Teigtaschen mit Hühnerfleisch und Gemüse
gefüllt und sehr lecker!).
Übernachtung im Büro
Wir, die beiden Gäste, richten uns am Boden eines Bürozimmers ein – die Alternative wäre ein Zelt
etwas außerhalb des Ortes gewesen. Wir sind also richtig froh über unsere doch wesentlich bessere
Unterkunft. Gute Nacht!
Nächste Tag. Wir starten mit einer von Bebis Yogasessions um 6.30 in den Tag. Unter Yoga hatte ich
mir eigentlich was anderes vorgestellt… es ist ein von lautstarker Musik begleitetes, kräfteraubendes
Turnprogramm mit indischer Anweisung. Aber dafür sind wir dann alle wach. Bebi wünscht sich von
mir, dass ich nun meine Entspannungsübungen anbiete – eine ziemliche Herausforderung. Aber die
Gruppe ist gut gewillt und bereit, sich darauf einzulassen.
Mittlerweile ist es Nachmittag und ich habe bereits sechs Einzelgespräche mit verschiedenen
Mitgliedern des Teams geführt. Die Themen sind verschieden, oft nur am Rande mit dem Erdbeben
verbunden.
Jetzt hat es richtig zu regnen begonnen, zwar nicht allzu heftig, aber dafür wirkt es so, als ob es jetzt
lange nicht mehr aufhören würde. Nach der unangenehmen Schwüle des Tages ist es jetzt
überraschend kalt geworden. Ich bin froh, dass wir nicht im Zelt schlafen müssen.