- Boris Grundl

Authentizität ist das Allheilmittel der Gegenwart. Führungsgeheimnis,
Erziehungsleitstern und Lebenswegweiser in einem. Mit Authentizität
lassen sich Glück, Erfolg und Zufriedenheit garantieren. Realität oder
Mythos? Es folgt ein Praxis-Check.
In diesen Tagen feiern Narren das, was die Kölner so freudvoll die fünfte Jahreszeit nennen. Karneval,
Fastnacht, Fasching, wie immer der Name auch lautet: Für viele Menschen beginnen Tage der
Ausgelassenheit und des Über-die-Stränge-Schlagens. Menschen schlüpfen in eine andere Rolle. Das ist
auch die Symbolik des Verkleidens. Eine, die den Alltag vergessen lassen soll. Eine Rolle, in der es vor allem
um Lust und Freude geht. Eine andere Identität nimmt vom Menschen Besitz.
Wie viele Rollen kann ein Mensch sinnvoll leben? Verhaltenspsychologen sprechen von maximal sechs
Rollen. Mir scheint sogar das zu viel: Ehepartner (Ehepartnerin ), Mutter (Vater) – mit Vorbildcharakter,
ehrgeizig im Beruf, bescheiden im Auftreten, erwachsen im Handeln (Kind bleiben im Geiste),
Elternkümmerer (sofern sie noch leben), sozial Engagierter (voller Dankbarkeit und Demut), Mäzen,
Freundeskreiserhalter, um sich selbst Kümmernder (Sport, Ernährung, Weiterbildung), ... Hilfe! Ich weiß
nicht, wie es Ihnen geht. Dieser Charakter-Overkill klingt nach einem Wegweiser mit Burn-out-Garantie.
Zwingt dieses Gefangensein in Rollen und ihren Funktionen dazu, einmal im Jahr ausbrechen zu müssen?
Ich weiß es nicht.
Manche Psychologen vermuten, der verkleidete Mensch an den „tollen Tagen“ sei der, der sie oder er
insgeheim immer sein möchte. Schwer zu glauben, wenn man sich manche Kostümierung so ansieht. Fakt
aber ist, dass die lustvolle Enthemmung zeigt, wie sehr sich Menschen im Alltag, in ihren Rollen, gefangen
fühlen. Haben diese Seelenforscher Recht? Ist der Mensch erst dann richtig echt, also authentisch, wenn
alle Schranken fallen? Mir scheint die fünfte Jahreszeit kein Blick in das, was der Mensch gerne sein würde.
Es kommt mir wie eine Seite vor, die sich kurz mal zeigt. Kompensiert. Ein Gegenpol zur Dominanz des
Funktionalismus. Und dann ist es wieder gut. Also mehr als verständlich. Nicht mehr und nicht weniger. Die
Frage bleibt: Was ist denn überhaupt: Authentizität?
Seit einigen Jahren ist Authentizität ein großes Thema. Sei ganz du selbst und lass dich nicht verbiegen!
Folge Deinem Herzen. So hallte gleich zu Beginn das große Credo durch die Medien. Doch was soll das
heißen? Vielleicht, und bitter für viele, wenn man genau hinsieht: Was, wenn es zum Traumjob nicht langt?
Was, wenn der Traumpartner weiter entfernt ist als der Pluto? Was hier hilft, ist eine Klarheit, die Authentizität
in ihre Schranken weist. Diese Klarheit bedeutet: Freiheit ist, zu tun, was man will. Glück ist, zu wollen,
was man tut.
Die Rolling Stones sagten es allgemein: „You can’t always get, what you want. But if you try sometime, you
just might find, you get what you need.“ – Du bekommst nicht immer, was du willst. Aber wenn du es lange
genug versuchst, wirst du sehen, du bekommst, was du brauchst.“ Der Songwriter Stephen Stills und andere
drückten es praktischer aus: „If you can’t be with the one you love, love the one you’re with. – Wenn du nicht
mit dem zusammen sein kannst, den du liebst, liebe den, mit dem Du zusammen bist.“
Fakt ist: „Authentizität“ heißt eine Sau, die seit geraumer Zeit durchs Dorf der Führungstrainings getrieben
wird. Auf ihren Flanken steht gepinselt: Immer Mensch bleiben. Sei ganz du, und alle werden dir folgen! Sei
ungefiltert, sei stimmig, mach aus deinem Herzen keine Mördergrube! Das klingt so wunderbar befreiend.
Praxis-Check: Stellen Sie sich einmal vor, Sie wachen auf. Ihr Körper fühlt sich wie ein schwerer,
antriebsloser Sack an. Zuerst ins Bad. Routinehandlungen, Turbofrühstück, ab ins Büro. Auf dem Gang
begegnet Ihnen ein unverschämt gut gelaunter Mitarbeiter: „Hallo Chef, wie geht es Ihnen an diesem tollen
Tag?“ Sie ganz authentisch: „Miserabel. Keine Lust. Ich wäre am liebsten im Bett geblieben. Die Reaktion
des Mitarbeiters: „Chef, Sie sind so wunderbar authentisch!“
Sie schmunzeln? Natürlich sind die Zeiten lange vorbei, in denen Sie morgens so drauf sind. Vielleicht aber
kennen Sie jemanden anderen, der hier noch nicht so weit ist wie Sie? Ein weiteres Beispiel, ein
Szenenwechsel: Sie beim Kunden. Ein Millionendeal. Doch es gibt ein Problem. Die Vorstellung, sich künftig
intensiv mit diesem Menschen, dem Entscheider für diese Unterschrift, auseinanderzusetzen, dreht Ihnen
den Magen um. Sagen Sie jetzt auch total authentisch: „Tut mir leid. Ich mag Sie nicht. Wir sollten das
beenden, bevor es begonnen hat.“
So ist das mit Modeworten und Modewellen. Berater, Trainer, Coachs und Vortragsredner beglücken vom
Alltag gelangweilte Führungskräfte. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, sagte Hermann Hesse zu Recht.
Ist doch das Neue, Frische, Moderne ach so animierend. Hesse verschweigt, dass dem Neuen NICHT
AUTOMATISCH Substanz, Tiefe und erstklassige Ergebnisse innewohnen. Also erfindet ein
marketingstarker Mensch eine geistige Maus und macht einen Elefanten daraus. Er benennt einen Workshop
danach, macht den Mini-Nager zum Vortragsthema und druckt ihn fett auf ein Buchcover. Weitere Bücher
anderer Autoren folgen.
Die Welle nährt sich selbst. Und weil immer mehr darüber reden, glauben alle, der Stein der Weisen sei
ihnen vor die Füße gefallen. Doch da die Welle niemals Probleme an der Wurzel löst, geht die Suche weiter.
Und schon bald galoppiert eine neue Sau durchs Dorf – Nachhaltigkeit, Resilienz? Auch die haben das
Ortsausgangsschild schon längst wieder passiert. Heute vielleicht „Führen ohne Hierarchie“ und „Agile
Revolution“? Das Muster wiederholt sich: Unser Gehirn möchte eine einfache Antwort auf die ständig
zunehmende Komplexität. Und verfällt der nächsten angebotenen Illusion.
Dabei ist Authentizität überhaupt kein Mode-Gag, sondern die tiefe Stimmigkeit von innerem Erleben und
äußerer Wirkung. Sie ahnen es. Hier wartet eine Lebensaufgabe, ein Lebenswegweiser! Ein sehr ernstes
Thema. Authentizität lernt man nicht nebenbei, weder im 45-Minuten-Vortrag noch im Tagesseminar. Sie tief
zu verstehen und durch Ergebnisse und Leistungen das Recht zu erwerben, sie zeigen zu dürfen, ist ein
Privileg. Das erreichen nur wenige. Tiefes Verstehen heißt, zu wissen, dass Authentizität nicht bedeutet, jede
Laune auszuleben und jedes Leid und jede Freude in die Welt zu posaunen. Es geht eher um eine
„professionelle Stimmigkeit“. Sie hat ihre Zeit, ihren Ort und ihre Art und Weise. Immer stimmiger werden
und diese Stimmigkeit auch leben dürfen. Was für eine Gnade.
Und was ist das Gegenangebot zur Authentizität? Aus meiner Sicht ist es Professionalität. Werden Sie in
allem, das Sie tun, immer professioneller. Führen Sie professioneller, nicht authentischer. Das hilft allen und
am meisten Ihnen selbst. Und ja, das gilt für den Beruf, nicht für das Private. Doch Professionalität bringt
Lernen, Strecken, Wachsen und Anstrengung mit sich. Das hört sich halt nicht so einfach an, wie es das
Gehirn es will. Mein Vorschlag: Werden Sie immer professioneller, bis Sie es sich leisten können, immer
authentischer zu sein.
Konzentrieren Sie sich also nicht auf Modethemen, sondern auf das, was nach der Mode bleibt – das
Substanzielle, meist Basics. Grundlegendes. Es war schon immer so: Wer Grundlegendes außergewöhnlich
konsequent lebt, liegt weit vorne. Nur wer sich selbst immer besser erkennt und anerkennt, kann der
Stimmigkeit mutig folgen. Schritt für Schritt. Wenn Sie so leben, spüren Sie, wie Ihre Wirkung auf andere
immer stärker wird. So lange, bis Sie ganz bei sich angekommen sind und genau das verkörpern. Mehr geht
nicht. Und wenn Sie einen Unterstützer möchten, der Sie professionell auf diesem Weg begleitet, dann finden
Sie in unserer Akademie einen starken Partner.
Dass Sie dieses große Ziel „der inneren und äußeren Stimmigkeit“ irgendwann leben dürfen, das wünsche
ich Ihnen von ganzem Herzen. Und wenn Sie sich maskieren, um eine andere Identität auszuleben, so tun
sie das bitte bewusst und mit aller Klarheit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. „Am Aschermittwoch ist
alles vorbei!“ So schmettert der Kölner. Schade? Vielleicht. Doch sicher hat auch das seinen Sinn.
Ihr Boris Grundl
» Authentizität ist nur eines der Lebensthemen, die man weder wegdelegieren kann, noch sollte. Mehr
davon finden Sie in meinem aktuellen Buch Mach mich glücklich — Wie Sie das bekommen, was jeder
haben will.
» Besonders stolz bin ich auf unseren neuen Grundl Akademie-Blog, der sich konzentriert wichtigen
Führungsthemen widmet. Sie finden dort spannende Beiträge nicht nur von mir, sondern auch von den
Trainern unserer Akademie: Führen und Wirken, der Blog
» Chefsache Führung: So heißt eine spannende Rubrik bei der ZEIT, die mich zum Thema Leading
Simple© befragt hat. Lesen Sie hier, warum Führen immer auch scheitern heißt.
» Wie so häufig ist unser offenes Seminar Leading Simple. Erfolgreich Führen - Mit System Teil 1 im
Februar ausgebucht. Die nächste Gelegenheit bietet sich vom 22. Bis 24. September. Bis dahin gibt es
aber reichlich Gelegenheit für spannende Alternativen Wie wäre es etwa mit Steh auf ! Das Geschenk des
freien Willens vom 17. Bis 19. März 2016?
» Eine starke Allianz für unsere Kunden ist die neubegründete Kooperation zwischen der Grundl-
Leadership-Akademie und der Festool Enginieering GmbH. In einem einmaligen Joint Venture bündeln wir
das Prozess- und Struktur-Know-how von Festool mit der Führungskompetemz unserer Akademie. Lesen
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» Sie möchten mich live erleben und mit mir gemeinsam Gutes tun? Die Gelegenheit bietet sich am 3. März
2016 bei einer Benefizveranstaltung der Volksbank Nagold für krebskranke Kinder. Gegen eine Spende
anstelle eines Eintritts sehen wir uns dort. Sind Sie dabei?