Schriftliche Abiturprüfung Geschichte (Baden-Württemberg) 2015 Aufgabe 1 M 1: 5 10 15 20 25 30 35 Aus dem Manifest1 des deutschen Arbeiterkongresses2 vom 2. September 1848 Hohe National-Versammlung! […] Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit und mit hingebender Erwartung haben die Arbeiter, nachdem die politische Bewegung Europas auch sie in Anspruch genommen, sie zur Mitwirkung und, nach langer Zeit wieder, zum Hoffen erweckt hat, die Maßregeln, welche die deutschen Staaten zur Begründung besserer Staatseinrichtungen ergriffen haben, namentlich den Entwurf betreffend die Grundrechte des deutschen Volks und die davon ausgehenden Beratungen der hohen deutschen NationalVersammlung, verfolgt. Sie haben nunmehr leider die Überzeugung erlangt, dass auch in der Verfassungsurkunde für Deutschland die soziale Frage ebenso wenig wie in andern Verfassungsarbeiten eine Stelle finden könne. […] Der Staat verfährt […] gewissermaßen richtig; denn solange der Arbeiter nur als eine zerstreute Menschenmenge zu betrachten ist, lässt sich auch nichts gesetzlich Bestimmtes für ihn als Ganzes […] zur Beschützung von Rechten begründen. Es ist also vor allem erforderlich, dass die Arbeiter, um ihr Arbeiten als einen bestimmten Besitz in das Grundgesetz des Staats einzuführen, sich selbst als lebendige Gemeinschaften, gleichsam als politisch-beseelte Körperschaften, unter die übrigen Bürger hinstellen und den Staatsmännern bemerklich machen. Dieses konnte nur von den Arbeitern selbst ausgehen. Es war bisher versäumt worden, ist aber von uns, soweit es der Augenblick zulässt, nachgeholt worden, und die Organisation der Arbeiter Deutschlands, wie sie jetzt im Leben steht, liegt in den Grundzügen ihres Verfassungs-Statuts einer hohen National-Versammlung vor Augen. […] So organisiert […] treten wir jetzt […] vor den gesetzgebenden Körper unserer Wahl mit der Bitte: in der künftigen Gesetzgebung auch uns, als Besitzer der Arbeit, anzuerkennen und solche gesetzlichen Bestimmungen eintreten zu lassen, durch welche die Existenz und Fortdauer unserer Organisation und Assoziation für alle Zeiten geschützt und ihre weitere gedeihliche Ausbildung von Seiten des Staats begünstigt werden möge. […] Wir, die Arbeiter, sind von Natur die Stützen der Ruhe und der Ordnung, denn wir wissen sehr wohl, dass wir zum Leben vor allem der Ruhe und Ordnung bedürfen. Wir reichen unseren Mitbürgern und unseren Gesetzgebern die Hand […]. Ja! Wir wollen die Ruhe und Ordnung der Staaten aufrechterhalten – wir können es verheißen, denn wir haben die Kraft dazu und sind uns unserer politischen Bedeutung bewusst. Nur notgedrungen würden wir, wenn […] unserer Rechte auch fernerhin, wie früher, von keinem der Machthaber auf humane Weise gedacht würde, […] unter der Macht der finstern Not aus den wärmsten Freunden der bestehenden Ordnung zu den bittersten Feinden derselben werden müssen. Berlin, den 2. September 1848. Der Arbeiter-Kongress Karl Obermann (Hrsg.): Flugblätter der Revolution 1848 / 49. München 1972, S. 109 –112. Anmerkungen 1 Manifest: öffentliche Erklärung 2 Vom 23. August bis 3. September 1848 trafen sich in Berlin Vertreter zahlreicher Arbeitervereine zu einem Arbeiter-Kongress und schlossen sich zu einer Organisation, der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“, zusammen. 2015-1 M 2: Statistiken zur Industrialisierung in Deutschland a) Entwicklung der Wertschöpfung1 der deutschen Wirtschaft zwischen 1871 und 1910 in ausgewählten Wirtschaftsbereichen (Angaben in Millionen Mark in Preisen von 1913) Jahr Landwirtschaft, Industrie und Forsten, Fischerei, Handwerk Bergbau Handel, Verkehr, weitere Dienstleistungen insgesamt (Volkseinkommen)2 1871 5 946 4 100 2 926 14 653 1880 6 882 5 194 3 637 17 679 23 589 1890 8 406 7 941 4 934 1900 10 973 12 220 7 142 33 169 1910 12 155 17 016 10 225 42 981 Anmerkungen 1 Unter Wertschöpfung versteht man hier, vereinfacht gesagt, Gewinne und Löhne (Wert der erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen abzüglich der Vorleistungen), die in dem jeweiligen Wirtschaftssektor erzielt wurden. 2 Einzelne, in diesem Zusammenhang unwichtige Wirtschaftsbereiche (z. B. Vermietungen oder Militär) sind in der Statistik nicht berücksichtigt. Dadurch weicht die Zeilensumme der Wertschöpfung in den drei aufgeführten Wirtschaftsbereichen etwas vom angegebenen Volkseinkommen ab. b) Entwicklung der durchschnittlichen Jahresverdienste von Arbeitnehmern in Industrie, Handel und Verkehr zwischen 1871 und 1910 in Deutschland Jahr durchschnittlicher Jahresverdienst – nominal (in Mark) durchschnittlicher Jahresverdienst – real (Mark, in Preisen von 1895) 1871 493 466 1880 545 524 1890 650 636 1900 784 737 1910 979 789 Gerd Hohorst, Jürgen Kocka, Gerhard A. Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870 –1914. München: C. H. Beck 1975, S. 88 f., 107, bearbeitet. Anmerkung Die Werte beider Statistiken basieren auf der amtlichen Statistik und wissenschaftlichen Berechnungen. 2015-2 M 3: „Bild ohne Worte“ – Karikatur aus der Zeitschrift „Der neue Postillon“, 1896 Der Arbeiter im Hintergrund hält ein Schild mit der Aufschrift „Bitte um Arbeit“ in der Hand und ist flankiert von den Gestalten „Hunger“ und „Elend“. Hinter ihm ist ein Totenkopf zu sehen. Der neue Postillon. Humoristisch-satirisches Arbeiterwitzblatt. Herausgegeben von einer Genossenschaft. Grütliverein in Zürich. II. Jahrgang, Nr. 2, Zürich, Februar 1896, S. 1. Aufgaben: 1. Analysieren Sie M 1. 12 VP 2. Stellen Sie die Ziele und Vorgehensweisen dreier Trägergruppen der Revolution von 1848 / 49 in Deutschland dar. 14 VP 3. Analysieren Sie die Statistiken M 2 und vergleichen Sie diese mit der Grundaussage von M 3. 18 VP 4. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die Lage der Arbeiter in Deutschland entscheidend verbessert. Erörtern Sie diese These. 2015-3 16 VP 60 VP Lösungsvorschlag r 1. „Analysieren“ ist ein Operator aus dem AFB II, der von Ihnen Reorganisations- und Transferleistungen verlangt. Beginnen Sie Ihre Textanalyse zunächst mit einer Bestimmung der r formalen Kriterien der Quelle (Autor, Quellenart, Datierung, Anlass und Ort der Verr öffentlichung, Thema). Anschließend sollen Sie die zentralen Inhalte des Textes herausr arbeiten und diese in den historischen Kontext einordnen. Gehen Sie dabei jedoch nur auf r die wesentlichen historischen Ereignisse und Aspekte ein. r Bei dem vorliegenden Text (M 1) handelt es sich um ein Manifest, d. h. um eine öffentliche Erklärung, mit einer programmatischen Zusammenfassung der Thesen und Zielsetzungen des Arbeiter-Kongresses. Dieser traf sich im Spätsommer 1848 in Berlin, um die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung als Interessenvertretung zahlreicher deutscher Arbeitervereine zu gründen. Das Manifest erschien am 2. September 1848 und richtete sich an die in Frankfurt tagende Nationalversammlung. Der Kongress betont darin, dass er sich für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung einsetzen und an der Neugestaltung Deutschlands mitwirken werde. In dem Text begründen die Kongressteilnehmer die Notwendigkeit einer Organisation der Arbeiter zur Durchsetzung und Vertretung der eigenen Interessen. Zudem fordern sie vom Staat die Anerkennung der Arbeiterschaft sowie den gesetzlichen Schutz ihrer Belange. Die Argumentation der Verfasser beinhaltet zum einen Lob für die Nationalversammlung bezüglich des bereits Erreichten, zum anderen baut sie aber auch eine Drohkulisse auf, sollten die Interessen der Arbeiter übergangen werden. Lob gab es vonseiten des Arbeiterkongresses für den Verfassungsentwurf, der die Sicherung der Grundrechte vorsah. Der Wunsch der Arbeiter nach Beachtung ihrer Angelegenheiten und nach der Lösung der Sozialen Frage sei dagegen weder in den Verfassungsvorschlägen noch von der Nationalversammlung berücksichtigt worden (vgl. Z. 9 ff.). Diese Missachtung sei darauf zurückzuführen, dass es bislang keine einheitliche Organisation der Arbeiterschaft gegeben habe. Dem Staat fehlte somit ein Ansprechpartner, mit dem er über Rechte und Schutzmaßnahmen hätte sprechen können (vgl. Z. 12 –18). Da diese Zersplitterung nun aber überwunden sei, müsse die Nationalversammlung auch die Belange der Arbeiter in die Verfassung aufnehmen und deren Organisation schützen und fördern. Die organisierte Arbeiterschaft sei dafür zur Kooperation mit den Mitbürgern und der Nationalversammlung bereit und sehe sich als traditionelle Stütze der „Ruhe und Ordnung“ (Z. 31). Allerdings sei die Arbeiterschaft auch dazu bereit, die bestehende Ordnung zu bekämpfen, wenn der Staat ihre Interessen nicht „auf humane Weise“ (Z. 34) berücksichtige und wenn die Not sie dazu zwingen würde (vgl. Z. 33 – 36). Durch die direkte Anrede der Nationalversammlung („Hohe National-Versammlung!“, Z. 1) appellieren die Verfasser des Manifests an alle Mitglieder der Nationalversammlung in Frankfurt, nicht nur an eine bestimmte Gruppe. Besonders die kontrastive These, die Arbeiter seien „Stützen der Ruhe und der Ordnung“ (Z. 28), die sich aber auch gegen eine ungerechte, inhumane Ordnung auflehnen würden (vgl. Z. 33 f.), soll auf die Adressaten im Sinne der Arbeiter Eindruck machen. Der in Berlin tagende Arbeiter-Kongress fand in der zweiten Phase der Revolution (Juni bis November 1848) statt. Nach den Erfolgen der städtischen Volkserhebungen, der Demütigung des Militär- und Obrigkeitsstaates sowie der Einsetzung liberaler Minister („Märzminister“, selbst in Preußen) in der ersten Revolutionsphase (März – Juni 1848) war eine breite Verfassungsbewegung entstanden. Diese wollte einerseits den Nationalstaatsgedanken und den politischen Liberalismus, andererseits aber auch den unüberhörbaren Ruf nach sozialen Reformen berücksichtigt sehen. Allerdings war die Lösung der Sozialen Frage, wie sie die Arbeiter verstanden, nicht Gegenstand der Beratungen. Vielmehr war die Mehrheit der tonangebenden Liberalen darum bemüht, eine sozial-egalitäre Umgestaltung von Staat und Gesellschaft zu verhindern. 2015-4
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