Leadership: Kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem! „Ich musste zuerst die Erfahrung machen, dass ich auf der „mittleren Spur“ fast genauso schnell ans Ziel gelange wie permanent auf der „Überholspur“ zu agieren. Zudem bin ich mit meinen und den Ressourcen meiner Mitarbeitenden bedeutend achtsamer umgegangen.“ (Zitat eines Coaching-Klienten) Wirtschaftliche, technologische, gesellschaftliche und demografische Entwicklungen forderten von Unternehmen und deren Mitarbeitenden in den letzten Jahren – und fordern wohl auch zukünftig – ein Höchstmass an Umsetzungstempo, Veränderungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit, an Effektivität im Umgang mit Komplexität und rasantem Wandel: Permanent Vollgas geben wie im Eingangszitat geschildert. Führung muss auf diese Herausforderungen, d.h. ein „Mehr“ an Komplexität, Geschwindigkeit, Unsicherheit, Dilemmata und Druck, reagieren. Doch Führung gleicht eher einer Konstanten, hinkt dem Wandel hinterher und hält noch immer an Logiken fest wie Planbarkeit, bonusrelevanten Individualzielen, Druck durch Vorgaben und Appelle, Suche nach Schuldigen, hierarchischem Denken und Verhalten. Das Wissen um erfolgreiche Führung ist durchaus vorhanden. Jede Universität von Rang und Namen veröffentlicht Forschungsergebnisse zum Thema, was erfolgreichen Führungskräften gemeinsam ist und welchen zukünftigen An- und Herausforderungen Führung gerecht werden soll. Die Fachliteratur nimmt diese Themen vielfältig auf mit markigen Titeln wie: „Führung im Zeitalter der digitalen Transformation“, „Agile Führung“, „Führung ohne Führungskräfte“ oder „Neuroleadership“. Und in der Realität? In vielen Unternehmen und Organisationen zeigt sich eine grosse Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Folgende Zahlen belegen dies eindrücklich: ● „Kündigungsgrund Chef“: über 60% der Befragten geben an, wegen der Führungskraft gekündigt zu haben (publiziert in: Schweiz führt?! , 2014). ● Engagement-Index der aufzeigt, dass 15% der Mitarbeitenden innerlich gekündigt haben und 70% Dienst nach Vorschrift leisten (Gallup Studie, 2014). Das lässt vermuten, dass nur ein kleiner Teil der Führungskräfte mit dem Wandel geht und die daraus resultierenden Anforderungen erfolgreich umsetzt. Ein grösserer Teil ist überfordert oder schlicht als Führungskraft ungeeignet. Ihnen fehlen Grundlagen wie Freude an Führung und Förderung von Mitarbeitenden, Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit, die Bereitschaft in einer Sharing Economy das Wissen zu teilen, Integrität, Fairness, Beziehungsfähigkeit. Eigentlich ein grobfahrlässiges Verhalten der Unternehmen und Organisationen. Dabei kann Führung in der heutigen Zeit ein Wettbewerbsvorteil sein, um die besten Talente zu rekrutieren und zu binden, die durchschlagendsten Innovationen zu kreieren, die erfolgreichsten Produkte zu entwickeln und die nachhaltigsten Strategien zu entwerfen. In vielen Unternehmen und Organisationen wird in die Führungsentwicklung viel Geld und Zeit investiert. Jede Massnahme und jedes Angebot - sei es ein Führungskurs, ein Referat eines Extrembergsteigers oder eine andere lunch&learn-Veranstaltung – steht für sich meist auf qualitativ hoch stehendem Niveau. Vielfach führen diese Massnahmen jedoch kaum zu Veränderung des individuellen Führungsverhaltens und dienen eher dem Prinzip: Hauptsache viel unternommen, aber leider wenig nachhaltig bewegt. „Wir haben in der Management-Entwicklung kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.“ (in Anlehnung an Prof. Hans A. Wüthrich, Musterbrecher, 2013) Hypothesen zu den Gründen dieses Ungleichgewichts ● Es herrscht das Prinzip „Mehr des selben“ vor: noch ein Führungsseminar, noch ein „Lunchredner“ und nochmals tapezierte Bürogänge mit hochglanzpolierten Führungsleitsätzen, wenn bei Mitarbeiterbefragungen schlechte Werte zu Führung resultieren. In den Prozess der Umsetzung und Etablierung hingegen wird vergleichsweise wenig investiert. ● Bei der Selektion neuer und der Bewertung bestehender Führungskräfte fehlen Kriterien wie Umgang mit Komplexität, die Fähigkeit Talente zu fördern und zu binden, die Fähigkeit die Intelligenz der Teammitglieder zu vernetzen, der Umgang mit Unsicherheiten und Unvorhergesehenem, die Lernfähigkeit aus Fehlern, etc. ● Ungeeignete Führungskräfte lässt man zu lange gewähren und die Verantwortlichen scheuen sich, die Konsequenzen rechtzeitig zu ziehen. ● Führungswissen alleine genügt (leider) nicht. Ich kann noch so viele Führungskurse oder -bücher verschlingen, so lange ich es als Vorgesetzte/r nicht in mein Verhaltens- und Handlungsrepertoire integriere, verpufft dieses Wissen bestenfalls in mechanisch angewandten und somit wirkungsarmen und wenig nachhaltigen Techniken; meist verliert sich das Wissen in der Hektik des Alltags ohnehin. ● Viele Ansätze der Management-Entwicklung fokussieren auf die einzelne Führungskraft, so als ob es nur auf den richtigen Führungsstil bzw. die richtige Dosierung der verschiedenen Zutaten ankommt. Führung entsteht aber aus der Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden. Erfolg beruht somit in erster Linie auf der Fähigkeit der Führungskräfte, die Intelligenz der Mitarbeitenden zu vernetzen und das Erkennen und Reflektieren von Zusammenhängen und weniger auf Zieldefinition und Planung. ● Das oberste Management missachtet die Wichtigkeit der Führungsqualität als strategischen Erfolgsfaktor und misst ihr dementsprechend wenig Bedeutung zu. Allenfalls als Lippenbekenntnis im Leitbild, aber nicht in der vorbildhaft gelebten Alltagswirklichkeit. Stellschrauben für die Zukunft Wie erwähnt, besteht in vielen Unternehmen und Organisationen nicht ein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem. Wissensvermittlung, Reflexionsraum, um eigene Muster und Verhaltenspräferenzen kennen zu lernen, kreativer Austausch unter Kolleginnen und Kollegen, Möglichkeiten, Feedback zu erhalten und eigene Lernfelder zu definieren, haben in LeadershipProgrammen zweifellos weiterhin ihre Berechtigung. Allerdings nur, wenn auch in den Transfer dieselbe Aufmerksamkeit und Professionalität investiert wird. ● In Anlehnung an die „Musterbrecher“ von Prof. Hans A. Wüthrich1 geht es darum - zurück in der eigenen Organisation - Experimentierfelder zu schaffen und Rahmenbedingungen zu kreieren, die es mir als Führungskraft erlauben, mit dem Erlernten eine andere, neue und emotional bedeutsame Erfahrung zu machen. Verhaltensänderung geschieht nicht auf Anordnung und nicht aufgrund von Vorsätzen, sondern aus gelingenden Erfahrungen. ● Experimente können auch scheitern. Deswegen gilt es ein angstfreies Kooperationsklima zu schaffen, wo nicht die Suche nach Schuldigen, sondern das Lernen aus Fehlern im Vordergrund steht. Musterbrecher zeigen nicht mit dem Finger auf andere. Ohne Wenn und Aber übernehmen sie Verantwortung – für sich, für ihre Ziele und für das Unternehmen. ● Und es geht drittens auch darum, mit dem oder der eigenen Vorgesetzten bzw. mit dem eigenen Team in einen echten Dialog, geprägt von Offenheit, Wertschätzung und Vertrauen zu treten, um gemeinsam Lösungswege zu finden. Musterbrecher investieren »verschwenderisch« in Dialoge, Lernen und Verstehen und sind bereit, sich diesem Risiko auszusetzen. Der Lern- und Umsetzungserfolg des im Eingangszitat erwähnten CoachingKlienten basierte „musterbrechend“ bzw. musterhaft auf diesen drei Aspekten. Das Experiment, von der „Überholspur“ auf die „mittlere Spur“ zu wechseln, sprich mit seinem Team in einen auf Wertschätzung basierenden Lern-Dialog zu treten und Zeit für die Entwicklung der Mitarbeitenden zu investieren, benötigte jedoch eine enge Begleitung, permanentes Dranbleiben mit klaren Transferaufgaben und Feedbackschlaufen. Fehlt dieser strukturierte und begleitete Lernrahmen ist die Gefahr gross, dass zwar Problemeinsicht besteht aber kaum Verhaltensänderung daraus folgt. Dem Transfer vom (Führungs-)Wissen hin zur Umsetzung und Etablierung muss zukünftig eine noch grössere Bedeutung beigemessen werden. Vorbildliche und „musterbrechende“ Führungskräfte als Promotoren und Mentoren, eine entsprechend als wichtig erachtete Einstufung der Thematik durch die Geschäftsleitung eingebettet in ein Lern- und Umsetzungskonzept sind hilfreiche Voraussetzungen. Juli 2015, Bruno Stocker 1 Wüthrich, Hans A. Musterbrecher- Die Kunst das Spiel zu drehen, Murman Verlag, 2013
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