Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 4)

Prof. Dr. Hubertus Gersdorf
Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 4)
Fragen:
Schutzgüter der Generalklausel
1. Was versteht man unter dem Begriff der öffentlichen Sicherheit?
2. Fälle zur Selbstgefährdung:
a) Darf die Polizei den geübten Hochseilartisten H daran hindern, in einer Höhe von 60 Metern
einen ungesicherten „Drahtseilakt“ durchzuführen?
b) Darf die Polizei den vor Liebeskummer verzweifelten A, der sich vom Balkon seiner Wohnung im elften Stock zu Tode stürzen möchte, von seinem Vorhaben abbringen?
3. Was versteht man unter dem Begriff der öffentlichen Ordnung? Welche Rolle spielt die öffentliche Ordnung im Rahmen der Generalklausel?
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Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 4)
Antworten:
Schutzgüter der Generalklausel
1. Begriff der (öffentlichen) „Sicherheit“ im Sinne des POR:
Öffentliche Sicherheit im Sinne der Gefahrenabwehraufgabe ist die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen (Individualgüter)
sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger der Hoheitsgewalt.
Der Schutz des Staates und seiner Einrichtungen erfasst dabei in persönlicher Hinsicht alle
Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts und ihre Behörden. Sachlich richtet sich der Schutz gegen Beeinträchtigungen des verfassungsrechtlichen Bestandes und der aufgabengemäßen Funktionsfähigkeit.
Als Individualgüter sind alle absoluten Rechte und Rechtsgüter geschützt, also Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, allgemeines Persönlichkeitsrecht und Namensrecht (vgl. § 823 I BGB). Außerdem sind von den subjektiven Rechten und Rechtsgütern des Einzelnen die Grundrechte sowie das Vermögen der natürlichen und juristischen Personen des Privatrechts umfasst.
Unter die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung fallen alle geltenden Normen, sowohl
die des öffentlichen als auch die des privaten Rechts.
Begriff der „öffentlichen“ (Sicherheit) im Sinne des POR:
Der Begriff der „öffentlichen“ (Sicherheit) enthält das Erfordernis eines öffentlichen Interesses
an der Gefahrenabwehr. Dieses Erfordernis ist grundsätzlich nur dann gegeben, wenn es um andere Schutzgüter als die des Störers geht. Bestimmte Gefährdungen, die sich ausschließlich in
der privaten Sphäre des in seinen Rechtsgütern Gefährdeten abspielen, sollen nicht als Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit betrachtet werden. Vielfach wird auf das Handeln des die
Gefahr Hervorrufenden abgestellt und darauf abgehoben, ob die Betätigung „in die Öffentlichkeit ausstrahlt“. Hauptanwendung sind die Fälle der zulässigen, ausschließlichen Selbstgefährdung: übermäßiges Trinken, Unreinlichkeit im Haushalt, aber auch artistische Übungen und
Bergsteigen. Alle diese Selbstgefährdungen sind schon deshalb keine Gefahren für die öffentliche Sicherheit, weil der sich selbst Gefährdende in gewissen Grenzen ein Recht zur Selbstgefährdung besitzt und dieses wahrnimmt. Die Grenzen sind in den Fällen gegeben, wo die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen, fehlt oder wo Entscheidungen unumkehrbar sind (Selbstmord).
2. Das Hauptproblem bei der Anwendung der polizeilichen Generalklausel gemäß §§ 13, 16
SOG M-V auf die beiden Beispielsfälle liegt darin, ob in den Fällen der Selbstgefährdung eine
Gefahr für die „öffentliche“ Sicherheit vorliegt.
Wie bereits unter 1. festgestellt, muss es sich für die Annahme einer Gefährdung der „öffentlichen“ Sicherheit grundsätzlich um die Gefährdung anderer Schutzgüter als die des Gefährdenden handeln.
a) Erster Beispielsfall
Grundsätzlich besteht bei Grundrechten, wie etwa dem Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG), eine staatliche Schutzpflicht für das Grundrecht. Angesichts der dabei
bestehenden objektiv-rechtlichen Verbürgung des Staates liegt also ein Rechtsgut vor, das
grundsätzlich nicht zur absoluten Disposition des Einzelnen steht (also ein anderes Rechtsgut als
das des Störers).
Im Falle der Einschlägigkeit dieser Grundrechte kommt es dann jedoch unweigerlich zur Kollision mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG). Zwischen der
staatlichen Schutzpflicht und dem Selbstbestimmungsrecht ist ein Ausgleich erforderlich. Das
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Selbstbestimmungsrecht kann als unmittelbarer Ausfluss der Würde des Menschen nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden. Dies ist dann gegeben, wenn der sich selbst Gefährdende die
Tragweite seines Handelns nicht absehen kann. Bei fehlender Fähigkeit, Gefahren zu erkennen,
und bei unumkehrbaren Entscheidungen (Selbstmord; siehe unten) ist unter dem Gesichtspunkt
der grundrechtlichen Schutzpflicht die „öffentliche“ Sicherheit betroffen (str.). Als geübter
Hochseilartist ist der H sich über die Gefahren seines Vorhabens bewusst und erkennt die Tragweite seines Handelns, so dass sein Selbstbestimmungsrechts gegenüber der Schutzpflicht des
Staates überwiegt. Es besteht keine Gefahr für die „öffentliche“ Sicherheit. Die Polizei kann H
nicht aufgrund der Generalklausel von seinem Vorhaben abhalten.
b) Zweiter Beispielsfall / Suizidfälle
In den Suizidfällen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem grundrechtlichen Selbstbestimmungsrecht, wonach auch die Selbsttötung gewährleistet wird, und der staatlichen Schutzpflicht für die Grundrechte. Aufgrund der Unumkehrbarkeit der Entscheidung zum Selbstmord
überwiegt jedoch die staatliche Schutzpflicht. Eine Gefahr für die „öffentliche“ Sicherheit ist gegeben. Die Voraussetzungen zum Handeln nach der polizeilichen Generalklausel wären erfüllt.
Die Polizei dürfte A von seinem Vorhaben abhalten.
3. Unter öffentlicher Ordnung versteht man die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das
Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden
Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird; bei diesen Regeln handelt es sich nicht um Rechtsnormen.
Die öffentliche Ordnung spielt im Rahmen der Generalklausel so gut wie keine Rolle. Dies ist
darauf zurückzuführen, dass die öffentliche Sicherheit als Schutzgut bereits die Unverletzlichkeit
der Rechtsordnung beinhaltet, die aufgrund der umfassenden Normierung aller Lebensbereiche
den größten Teil der abzudeckenden Fälle umfasst. Der Tatbestand der Gefahr für die öffentliche
Ordnung kommt im Rahmen seiner „Reservefunktion“ in den Fällen zur Anwendung, die der
Gesetzgeber (noch) nicht geregelt hat.
Historisches Beispiel: Die Auschwitzlüge stellte früher einen Anwendungsfall der Gefahr für die
öffentliche Ordnung dar; nach der Schaffung der Strafbarkeit durch Änderung des Strafgesetzbuchs (§ 130 III StGB) fällt heute eine solche Handlung in den Anwendungsbereich der Gefahr
für die öffentliche Sicherheit.
Als möglicher Bestandteil der öffentlichen Ordnung kommt der innere Frieden in Betracht.
Denkbares Beispiel: Gedenkfeier zu Ehren Adolf Hitlers vor einer geschichtlich belasteten Örtlichkeit.
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