Sein Bestes tun

Sein Bestes tun
- und trotzdem locker bleiben
Optimaler vs. maximaler Einsatz
Manche Aktivitäten und Verhaltensweisen, fallen uns leicht, weil sie zu unserem gewohnten und
leicht abrufbaren Verhaltensrepertoire zählen. Andererseits gibt es gibt Aktivitäten und
Verhaltensweisen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind.
Diese Mühe kann zu tun haben mit der zeitlichen Dauer einer Tätigkeit und der damit
einhergehenden Ermüdung oder mit einer notwendigen Kraftanstrengung, einer erforderlichen
Geschicklichkeit, mit der Menge oder der Schwierigkeit der zu bewältigenden Aufgaben usw.
Symbolisieren wir das mal ganz vereinfacht als zwei verschiedene Abschnitte entlang einer Linie:
leicht aktivierbares Verhalten,
Routine
mit Mühe und Anstrengung
verbundenes Verhalten
Wenn wir von Mühelosigkeit oder auch Routine ausgehend uns mehr und mehr aktivieren, die
Bemühung steigern, dann geht das zunächst auch mit einem Anstieg unserer Leistung einher.
Untersuchungen haben allerdings eine interessante Verlaufskurve bezüglich dieses
Zusammenhangs zwischen Bemühung und Leistung aufgezeigt. Ab einem bestimmten Grad von
Bemühung oder Anstrengung steigt nämlich die Leistung bzw. die Qualität der Leistung nicht mehr
an, sondern sie nimmt sogar wieder ab.
Wird die überzogene Bemühung fortgesetzt oder sogar noch gesteigert, kann die Leistung ganz
zusammenbrechen (burn-out, Verletzungen, Erkrankungen, mentale Blockierung, Schlaflosigkeit
usw.)
Man hört im Sport manchmal den Ausdruck, daß ein Sportler „übermotiviert“ war, womit man auch
sagen will, daß bei ihm oder ihr durch verbissenen Willenseinsatz die Geschicklichkeit, die
Bewegungskoordination oder der Überblick gelitten haben.
Die nachfolgende Abbildung soll diese Zusammenhänge verdeutlichen:
Leistung,
Qualität
Anstrengung, Bemühung
Die Strategie der balancierten Beanspruchung
Es gibt also für jede Herausforderungssituation meist ein optimales Maß an Bemühung, welches
irgendwo zwischen „zu wenig“ und „zu viel“ liegt.
Wenn wir auf eine Aufgabe treffen, die wir mit dem uns persönlich möglichen Maß an optimalem
Einsatz gut bewältigen können, dann erreichen wir in dieser Aufgabe unsere persönliche beste
Qualität. Optimaler Einsatz heißt: weder zu lasch, noch zu angestrengt.
Nun können wir uns Folgendes vorstellen und auch in verschiedenen Lebensbereichen Beispiele
dafür finden:
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Wenn wir unser Engagement und unsere Aufmerksamkeit wiederholt und bevorzugt auf diejenigen
Aufgaben- und Verhaltensbereiche fokussieren, die uns weder besonders leicht noch übermäßig
schwer fallen, dann geschieht im Laufe der Zeit und durch Wiederholungen dieses:
Aus:
Wird:
mit Mühe und Anstrengung
leicht aktivierbares Verhalten,
mittlerer
Routine
Schwierigkeitsgrad verbundenes Verhalten
Durch wiederholte Bewältigung von Herausforderungen mittleren Schwierigkeitsgrades entsteht
ein Lern- und Übungseffekt, ein allmählicher Zuwachs an Fähigkeiten, Verhaltensressourcen und
Selbstvertrauen, mit dem Effekt, dass sich der mittlere Bereich allmählich nach rechts in den roten
Bereich hinein verschiebt.
Ein Teil dessen, was früher noch in den Bereich der hohen Herausforderungen gehörte, zu deren
Bewältigung eine überdurchschnittliche Bemühung nötig war, fällt nun allmählich etwas leichter
und wird somit zu einem Teil des Bereiches mit einem „mittleren Maß an Herausforderung“.
Ein Teil des Verhaltens- und Aufgabenbereiches, der früher zu dem Abschnitt „mittleres Maß an
Herausforderung“ gehörte, wird nunmehr leicht aktivierbar bzw. Routine.
Manche Menschen zielen mit ihren Anstrengungen und ihrem Willen zu sehr auf den roten Bereich
(Innerer Antreiber) und übersehen, daß sie sich mit mehr Fokussierung auf den grünen Bereich
besser entwickeln könnten.
Manche Menschen schrecken vor den Anstrengungen und Mühen des roten Bereichs so sehr
zurück, daß sie sich in den Routinen und Bequemlichkeiten des braunen Bereichs verschanzen
und dabei übersehen, daß es ja noch einen lohnenden und interessanten mittleren Bereich gibt.
Psychische Muster
„Gut zu sein“ - oder in seiner Steigerung „sein Bestes zu tun“ - entspringt manchmal einem
unbewussten Kompensationsbestreben. Im Streben, durch Leistung Ansehen zu erreichen, kann
sich etwa der Wunsch endlich „gesehen zu werden“ und Anerkennung zu bekommen verbergen
und damit der Impuls, schmerzliche Defiziterfahrungen oder Wunden aus der Kindheit zu heilen.
Aber auch dann, wenn wir zwar keinen emotionalen Mangel in der Kindheit erfahren haben,
jedoch überwiegend nur dann positive Aufmerksamkeit und Zuwendung bekamen, wenn wir
leistungsstark waren, also mehr über unsere Leistungen bestätigt und positiv gespiegelt wurden
als einfach über unser Sein, kann sich diese Erfahrung zu einem „Programm“ in unserer Seele
verfestigt haben.
Das Programm kann uns - unter Umständen suchtmäßig - dazu antreiben unsere Ich-Identität
wieder und wieder über Leistung zu bestätigen und neu herzustellen. Wenn in der Gegenwart
diese „Kindheitsprogramme“ angekickt sind, sind wir auch anfällig dafür, uns übermäßige - d.h.
über das organisch gesunde Maß hinausgehende - Anforderungen aufbürden zu lassen oder uns
selbst aufzubürden. Werden solche Kindheitsprogramme nicht in uns angekickt oder können wir
diese Muster in unser Spürbewusstsein bringen wenn sie aktiv sind, dann sind wir leichter in der
Lage uns gegen unmäßige Anforderungen abzugrenzen.
„Gut zu sein“ und hohe Leistungsstandards zu erreichen ist für viele Menschen eng mit der Idee
verknüpft, sich anzustrengen. Mit dem „mehr“ an Anstrengung wollen wir das „mehr“ an Leistung
erreichen. Höher, schneller, weiter, wie es unsere westliche Maxime ist.
Indem wir nach dem Maximum zielen geraten wir aber aus der Balance und verfehlen das
Optimum. Ja, wir setzen nicht selten fälschlicherweise das Maximum mit dem Optimum und mit
hoher Qualität gleich. Verführt werden wir dazu schon in der Kindheit durch eine falsche
Pädagogik. Durch eine Haltung, die uns antreibt und uns in einen Leistungsvergleich mit anderen
hineinzwingt, anstatt sich auf unsere Einmaligkeit einzustimmen und uns die Schönheit unserer
einmaligen Fähigkeiten und Persönlichkeit zu spiegeln und uns damit Nahrung und Anreiz zu ihrer
weiteren natürlichen Entfaltung zu bieten.
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Durch den unbewussten psychodynamischen Prozess der Internalisierung (= „nach innen
nehmen“) nehmen wir diese Haltungen unserer Umgebung in uns hinein und formen daraus eine
zeitlich überdauernde psychische Struktur, die manche den „Inneren Antreiber“ nennen. Aus einer
äußeren „Antreiber-Kultur“ wird somit eine feste innerpsychische Struktur, ein Persönlichkeitsanteil. Unser eigener innerer Antreiber treibt uns dann dazu an, durch Anstrenung und Bemühung
unser Bestes zu tun.
Der innere Antreiber sagt: „Du musst“ und erzeugt damit innerpsychischen Druck. Druck erzeugt
bekanntlich Gegendruck oder Widerstand.
Woher kommt dieser Widerstand? Nun, auch wiederum von einer anderen innerpsychischen
Struktur, die in mancher einschlägigen Ratgeberliteratur manchmal der „Innere Schweinehund“
genannt wird. In dieser Ratgeberliteratur geht es dann darum, den „Inneren Schweinehund“ zu
überwinden, zu überlisten oder zur Kooperation zu verführen.
Selbstführung
So wie wir oben ein einfaches Strichmodell benutzt haben, um leicht fallendes Verhalten und
Routine einerseits und schwieriges oder anstrengendes Verhalten andererseits zu symbolisieren,
so können wir das gleiche Strichmodell anwenden, um unterschiedliche Haltungen sich selbst
gegenüber abzubilden.
Es sind sozusagen unterschiedliche Merkmale davon wie man sich selbst führt::
Haltungen sich selbst gegenüber:
sich gehen lassen
sich antreiben
„Sich gehen lassen“ kann man auf vielfältigste Art und Weise und in der einen oder anderen Form
tut das jeder von uns immer mal wieder. Es ist also in gewissem Ausmaß „normal“.
Dazu kann z.B. gehören das sich gehen lassen in (negativen) Emotionen, Wehleidigkeit,
Bequemlichkeit, achtlose Routine, Nachlässigkeit, Ungenauigkeit im Denken und Argumentieren,
sich gehen lassen im Essen, Mangel an Bewegung, TV-Sucht, Zerstreutheit, sich gehen lassen in
Grübeleien und sorgenvollen Gedanken usw..
Wenn wir uns antreiben, sind dabei meistens gewisse Spielarten von innerem Selbstgespräch
beteiligt. Das können innerlich zu sich selbst gesprochene Sätze sein, die eher einen
ermutigenden, unterstützenden Klang haben wie z.B.: “Komm, jetzt diesen Abschnitt noch, dann
haben wir es geschafft“, aber auch „gröbere Umgangsformen“ mit sich selbst, wie: „Mensch, jetzt
mach schon!“, bis hin zu Beschimpfungen.
Manchmal gleichen diese inneren Selbstgespräche Sätzen und Ausdrücken von Eltern oder
anderen bedeutsamen Personen aus unserer Kindheit, d.h. wir haben per Nachahmung deren
Haltung und Stil in unsere psychische Struktur eingebaut. Die innere antreibende Stimme ist dann
manchmal gar nicht unsere eigene authentische, sondern eine übernommene. Aber das ist uns
dann später meist nicht mehr bewußt.
Andererseits haben wir in unserer Kindheit und Jugend auch Mittel und Wege entwickelt, uns dem
Druck von außen durch Eltern und Lehrer zu entziehen. Wir haben Ausreden, Ausflüchte, kleine
Lügen und alle möglichen Arten von Vermeidungsstrategien gefunden und erfunden, um
unbequemem Leistungs- und Disziplindruck zu entgehen.
Diese Dynamik, dieses Kräftespiel, welches sich zunächst zwischen uns und der uns erziehenden
oder sozialisierenden Umgebung abspielte, haben wir im Laufe der Sozialisation nach innen
verlagert und sie findet nun zwischen “Persönlichkeitsanteilen“ in uns statt. Wenn wir diesen
Persönlichkeitsanteilen Namen geben wollten, könnten wir sie zum Beispiel „Innerer Antreiber“
und „Innerer Boykotteur“ nennen. Fritz Perls, der Gründer der Gestalttherapie hat diese beiden
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Kräfte top-dog und under-dog genannt, also so etwas wie Über-Hund und Unter-Hund.
Das ist einerseits vielleicht eine lustige Beschreibung, gleichzeitig aber auch ganz sinnig. Denn
diesen Kräften einen instinkthaften Zug zu verleihen, indem man sie top-dog und under-dog nennt,
deutet darauf hin, dass es nicht Kräfte eines bewussten, besonnenen Ichs sind, sondern dass sie
gewissermaßen instinkthaft und automatisch ablaufen.
Also nicht nur das sich gehen lassen, sich treiben lassen auf eingefahrenen Schienen der Routine
ist geprägt von „mechanicalness“, von Automatismen oder, wie man oft auch sagt, von einem
Funktionieren auf Autopilot. Auch dass sich antreiben, sich pushen, sich kritisch beurteilen
entspringt automatisierten psychischen Strukturen. Und das Kräftespiel zwischen diesen beiden
polar entgegengesetzten und automatisierten psychischen Strukturen erzeugt wiederum typische,
sich wiederholende Muster, die wir von uns kennen und die sich, ohne unsere bewusste
willentliche Entscheidung, immer wieder so einstellen. Wir switchen hin und her zwischen sich
antreiben und sich gehen lassen, sich gehen lassen und sich antreiben. Das kann auch ganz subtil
und von uns selbst unbemerkt vor sich gehen.
sich gehen lassen
sich antreiben,
sich zusammenreißen
In jedem Menschen hat sich dabei ein ganz individuelles Muster im Zusammenspiel dieser beiden
Kräfte kristallisiert. Bei dem Einen ist vielleicht mehr das sich antreiben betont, bei einem Anderen
mehr das sich gehen lassen und bei Vielen ist es situations- und tagesformabhängig, dass mal
mehr das sich gehen lassen und mal mehr das sich antreiben dominiert.
Nicht selten ist es so, dass Menschen in einem Kreislauf zwischen sich antreiben und Erschöpfung
gefangen sind. Tagsüber muss man durchpowern und am Abend ist man ausgebrannt. Oft verläuft
dann auch die Regeneration am Abend und in der Nacht nicht tief und lang genug und am
nächsten Morgen muss man sich wieder zusammenreißen und erneut durchpowern.
Da der Körper irgendwann die Reißleine ziehen und uns mit Hilfe von Erschöpfung oder
Beschwerden sagen würde: „Gemach, gemach, laß mich erstmal meine Batterien wieder
aufladen“, überlisten manche ihn mit Drogen dazu, die von der Natur für den Notfall angelegten
Reserveenergiespeicher anzuzapfen, um so weitermachen zu können wie gewohnt. Die Kerze
brennt an beiden Enden. Beispiel: Fragt ein Manager seinen Kollegen, der sich darüber beklagte,
daß er „nur noch im roten Bereich“ agiere, wann er denn etwas ändern werde. Der Kollege: „Wenn
ich krank werde.“
„Druck von oben“. Die gesellschaftliche Dimension
Diese Thematik reicht weit über das Individuelle und Persönliche hinaus, da auch in den Kräften
des Marktes und der gesellschaftlichen Arbeits- und Produktionsprozesse Suchtmechanismen
wirksam sind. D.h. das Individuum und die Familie wird mit den kollektiv und gesellschaftlich
produzierten Überlebens-Sachzwängen und Suchtmechanismen überzogen und infiziert.
Die menschliche Gesellschaft als ein Gesamtorganismus ist nicht in Balance, sondern erzeugt
aktiv Entropie, also Zerfall und Zerstörung, indem sie das natürliche menschliche Streben nach
Wachstum und Erweiterung suchtartig übersteigert (schädliche Technologien, Raubbau und
Zerstörung der Lebensgrundlagen, Kapital- “Heuschrecken“, soziale Ungerechtigkeit usw.). Das ist
ein großes und ernstes Thema und seine Vertiefung würde bei weitem den Rahmen dieses Textes
sprengen.
Wichtig ist zu erkennen, dass psychische Automatismen, die das einzelne Individuum steuern, sich
in den Interaktionen zwischen vielen Individuen zu übergreifenden sozialen und wirtschaftlichen
Strukturen und Dynamiken führen, welche ihrerseits den Charakter von zwanghafter,
automatischer Regelhaftigkeit haben und nicht immer konstruktiv sind („Das haben wir immer
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schon so gemacht. Wieso sollten wir daran jetzt etwas ändern?“; „Da kann man nichts machen,
das sind die Rahmenbedingungen“ etc.)
Diese übergeordneten Strukturen üben dann einen bestimmenden, ja unterjochenden Einfluss auf
ihre „Mitglieder“, die sie erzeugt haben, aus.
Jeder tut sein Bestes
Eine Aussage, welche ich ursprünglich an den Anfang stellen wollte, ist jetzt, nach dem bisher
Gesagten, vielleicht besser verständlich. Nämlich die Aussage: „Jeder tut sein Bestes“.
Innerhalb der Grenzen seines Verstehens, seines emotionalen Vermögens, seiner psychischen
und körperlichen Kräfte und seiner persönlichen Reife, tut jeder das, wozu er in der Lage ist.
Wenn wir generell oder in einer bestimmten Situation von jemandem annehmen, er oder sie bleibe
hinter ihren Möglichkeiten zurück, verhalte sich falsch, zerstörerisch oder verletzend und könnte,
wenn er/sie nur wollte, auch anders, dann unterstellen wir dieser Person ein mehr oder weniger
umfassendes Frei-sein von ihren psychischen Mechanismen und Automatismen. Diese
Unterstellung bleibt aber unbewiesen und ungeprüft. In Wirklichkeit wissen wir davon nichts.
Wir können nicht wirklich ermessen, wie frei oder unfrei jemand vom prägenden und ihn
formenden Einfluss seiner biografischen Erfahrungen ist, wie stark ihn seine emotionalen,
mentalen und verhaltensmäßigen Gewohnheiten bestimmen, wie stark er von seinen
Glaubensmustern, Überzeugungen und unreflektierten Bedürfnissen gesteuert ist.
Und wie wir oben gesehen haben, ist das freie und bewusste Handeln eines Individuums nicht nur
von seinen innerseelischen Mechanismen und Strukturen eingeschränkt, sondern darüber hinaus
auch von den Einflüssen und Mechanismen seiner Umgebung.
Also: So gesehen tut jeder das was er kann, tut jeder sein Bestes. Abhängig davon wie er sich und
die Welt versteht. Und das hängt von vielen komplexen Faktoren ab, die nicht alle im Bereich
seiner Kontrolle liegen.
Wir liegen wohl ziemlich richtig, wenn wir annehmen dass jeder Mensch für sich selbst und
diejenigen, die ihm am liebsten und nächsten sind, das Beste wünscht und versucht, mit seinem
Verhalten dieses Beste zu verwirklichen.
Urteile in der Schwebe halten
Wir erleben aber auch laufend Anlässe, das Verhalten unserer Mitmenschen zu verurteilen, ganz
besonders, wenn es unerwünschte Auswirkungen auf uns selbst hat. Es hat jedoch eine enorme
und bedeutende Wirkung auf unser Gefühlsleben, wenn wir unsere Mitmenschen mit dem Auge
der Einsicht anschauen können, dass sie ihr Bestes tun. Wenn sich diese Einsicht tief in uns
verankert, verändert sich dadurch die Sicht der Welt für uns.
Wenn wir die Tatsache wirklich ernst nehmen, dass wir nie „das ganze Bild haben“, dass wir nicht
genau wissen können von welchem „inneren Film“ unsere Mitmenschen gesteuert oder beherrscht
werden, kann uns das helfen, auf vorschnelle Urteile und damit auf ungute Gefühle und
Realitätsverkennungen zu verzichten (und das ist wirklich ein Verzicht!).
Es hilft uns dabei, nichts was geschieht persönlich zu nehmen. Das wiederum gibt uns - mehr als
alles andere - einen großen inneren Freiraum, eine Basis, von der aus wir freier und
angemessener auf die uns umgebenden Bedingungen und auf die Verhaltensmuster unserer
Mitmenschen antworten statt reagieren können.
Den „inneren Richter“ entmachten
Mindestens so bedeutsam ist die Fähigkeit, auf sich selbst mit dem Wissen schauen zu können,
dass man sein Bestes tut. Auch uns selbst gegenüber haben wir - genauso oft und manchmal
noch mehr als anderen Menschen gegenüber - das Urteil, dass wir hinter unseren Möglichkeiten
zurückbleiben, dass wir „nicht gut genug sind“, dass wir immer wieder die gleichen Fehler machen.
Dieses Urteil, innerlich über uns selbst gesprochen, macht uns Schuldgefühle. Diese
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Schuldgefühle sind ein willkommener Treibstoff für den inneren Antreiber und so bemühen wir uns
wieder „gut zu sein“ oder „uns zu bessern“, bis es dem „inneren Schweinehund“ (hören sie den
inneren Richter in dieser Etikettierung?!) wieder reicht, und er unseren Bemühungen ein paar
Klötze zwischen die Beine wirft, wie z.B. bleierne Trägheit, Lustlosigkeit, Zerstreuung der
Aufmerksamkeit usw.
Wenn ich andererseits mit dem Wissen auf mich schaue, dass ich mein Bestes tue - auch wenn
mir die Ergebnisse nicht immer gefallen - hat der innere Richter keine Macht über mich und kann
meine Gefühle nicht vergiften. Und da er keine Nahrung und keine Aufmerksamkeit von mir
bekommt, wird er allmählich schwächer werden.
Dieses „ Annehmen dessen was ist“ - in mir und um mich herum - eröffnet paradoxerweise Räume,
durch die Neues möglich ist, welches über das hinausreicht was ist. Das kommt daher, weil durch
das „Annehmen dessen was ist“ unser „Emotionalkörper“ sich entspannt, man Raum und Abstand
gewinnt, dadurch die „emotionalen Knöpfe“ nicht anspringen und man aus den oben
beschriebenen automatisierten Mustern eher heraustreten kann.
Durch das Annehmen dessen was ist, kann im Innern ein Ort der Stille entstehen, aus dem heraus
ganz andere und freiere Handlungen möglich sind als während der Versklavung durch die Muster.
Die Stille kämpft nicht. Aber sie kann antworten. In präzisen, klaren Handlungen.
Entwicklung in Balance
„Annehmen dessen was ist“ ist nicht achselzuckende Resignation. Es ist ein Aufwachen in den
gegenwärtigen Moment und in die Realität. Es ist nicht gegen Verbesserung, gegen Fortschritte,
gegen Entwicklung gerichtet. Im Gegenteil, es ist die Grundlage für echte Entwicklung, für eine
Entwicklung ohne Lateralschäden, für eine Entwicklung, die nicht Armut und Krankheit produziert
und unsere Lebensgrundlagen zerstört.
Es ermöglicht eine Entwicklung in Balance, im Zusammenspiel von Differenzierung und
Integration. Auch Differenzierung in die Polaritäten des Lebens wie z.B. Anspannung und
Entspannung. Aber eben auch deren Integration.
Integrieren kann man die Pole nicht durch bewusstloses Hin- und Herspringen, Hin- und
Hergezerrt werden zwischen ihnen. Integrieren kann man sie, indem man sich bewusst in die Mitte
zwischen ihnen stellt. So wie wenn man sich bildlich gesprochen auf die Drehachse einer
Kinderwippe stellt. Auf dieser Achse stehend, kann man durch leichte Gewichtsverlagerungen mit
dem linken und dem rechten Bein die Wippe kontrolliert auf jeder Seite heben oder senken.
Oder wie das spielerische Üben von Balance, wie wir es alle sicherlich des öfteren als Kinder
gemacht haben: auf einem Baumstamm balancierend, auf einem Balken oder, wie mein
Kinderfreund und ich es oft machten, auf ausgedienten Eisenbahnschienen.
Es gilt dabei „die Mitte zu halten“, aber nicht starr und angespannt, sondern dynamisch, beweglich
und mit spielerischer Konzentration. Wenn wir dieses Bild des Balancierens als Metapher nehmen,
dann stünde „sich gehen lassen“ für das Herunterfallen vom Balken nach links (linker Strich) und
„sich antreiben, sich überspannen“ für das Herunterfallen vom Balken nach rechts (rechter Strich).
Eine Hilfe für das Balancieren ist es, dass wir dabei die Arme nach rechts und links ausbreiten. Wir
greifen sozusagen, bildlich gesprochen, in die jeweiligen Gegenpole hinein und wenn wir mit dem
Oberkörper mal etwas mehr nach rechts, mal etwas mehr nach links kippen, dann hilft uns der
ausgestreckte Arm zum gegenteiligen Pol das Gleichgewicht zu halten. Und wenn das mal nicht
reicht, dann strecken wir instinktiv auch noch ein Bein in die andere Richtung, um dennoch im
Ausgleich der Kräfte in der Mitte bleiben zu können.
Eine andere Art, sein Bestes zu tun
Wenngleich wir, wie oben behauptet, alle unser Bestes tun, gibt es doch ein tiefes, ein subtiles und
unterschwelliges Gefühl des Unbefriedigt-seins. Anders ausgedrückt: tief in uns sitzt eine
Sehnsucht nach einer anderen Art zu leben. Nach einer entspannteren, harmonischeren,
gleichzeitig wirkungsvollen und tief bedeutsamen Art unser Lebensfahrzeug zu steuern. Es ist die
Sehnsucht nach Ganzheit, nach einem Leben aus der Mitte.
Die gute Nachricht ist, dass es eine zweite Art gibt, sein Bestes zu tun, eine andere Art, welche
diese unsere tiefste Sehnsucht befriedigt. Während die erste Art eine Bemühung ist, ist die zweite
Art eine Kunst.
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Diese zweite Art sein Bestes zu tun, könnte man damit vergleichen, so durchs Leben zu gehen,
wie man am besten über einen Balken balanciert: achtsam, entspannt und entschieden. Auf dem
schmalen Grat zwischen Nachlässigkeit/Trägheit einerseits und Überanstrengung/Überspannung
andererseits sich immer wieder in der Mitte, in der Wohlspannung auszubalancieren.
Diese Lebenskunst hat unendlich viele verschiedene Facetten und Gesichter. Unser Strichmodell
kann uns wiederum helfen die Grundidee zu visualisieren:
Auf der Verhaltensebene haben wir also die drei Hauptdimensionen:
mühelos aktivierbares Verhalten, mit Achtsamkeit
+ Wohlspannung
Routine, Gewohnheiten,
Nachlässigkeiten
aktivierbares
Verhalten
mit Mühe, mit Anstrengung
aktivierbares Verhalten
Unter dem Aspekt der Selbstführung, bzw. dem Aspekt verschiedener Haltungen sich selbst
gegenüber, können wir im Strichmodell folgende Dimensionen unterscheiden:
sich gehen lassen
sich auf sich
einstimmen
sich antreiben
Sich auf sich selbst einstimmen, sich auf sich einschwingen, in Resonanz mit sich selber sein.
Was heißt das? Eine Zusammenschau der zunächst ganz unterschiedlichen Forschungs- und
Praxisdisziplinen
- Bindungsforschung
- Gehirnforschung
- Achtsamkeitstraditionen
welche in dem bahnbrechenden Buch von Daniel J. Siegel „ Das achtsame Gehirn“, Arbor Verlag,
2007 erstmalig vorgestellt wird, eröffnet uns faszinierende Einsichten, die für die Beantwortung
dieser Frage nützlich sind:
Die Bindungsforschung untersucht die Entwicklungsdynamik der psychologischen Bindung, wie
sie sich zwischen Mutter und Säugling/Kleinkind entfaltet. Die Bindungssicherheit des Kleinkindes
kann sich unterschiedlich stabil entwickeln, je nachdem, wie gut sich die Mutter auf das Innenleben
des Kindes einfühlen und seine Stimmungen und Bedürfnisse intuitiv wahrnehmen kann. Wenn
das Kind sich wirklich von der Mutter „gefühlt fühlt“, fühlt es sich in seiner Bindung zur Mutter
sicher.
In der Gehirnforschung sind vor kurzem Aufsehen erregende neue neuronale Netzwerke im
Gehirn entdeckt worden, denen man die Bezeichnung Spiegelneuronen gegeben hat. Man hat
herausgefunden, dass diese neuronalen Strukturen für die Fähigkeit zuständig sind, sich in die
geistigen Vorgänge eines anderen Menschen, insbesondere in seine Intentionen und seine
Bedürfnislage hineinversetzen zu können. Dies ist z.B. die Voraussetzung des Lernens durch
Nachahmung. Die Mutter gebraucht also ihre Spiegelneuronen, um sich in die innere Verfassung
ihres Kindes, in sein „geistiges Wesen“ hineinzuversetzen. Ebenso entwickelt das Kind seine
Spiegelneuronen, indem es die Intentionen seiner Mutter und anderer Menschen „beobachtet“ und
indem es durch Nachahmung lernt - nicht nur Verhalten, sondern auch innere Bedeutungen.
Die Achtsamkeitstraditionen, insbesondere die aus dem buddhistischen Kulturraum
stammenden formellen und informellen Meditationspraktiken haben zum Gegenstand, das
Bewusstsein darin zu üben, sich seiner eigenen Inhalte (Sinneseindrücke, Gedanken, Gefühle
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etc.) im gegenwärtigen Moment bewusst zu sein. Und darüber hinaus sich des Vorgangs des
Bewusst-seins dieser Inhalte bewusst zu sein. Gewahrsein des Gewahrseins sozusagen.
Wofür ist das gut? Nun, das ist genau das „sich auf sich selbst einstimmen“. So wie es uns gut tat
und uns zu seelischer Stabilität verhalf, wenn unser Vater und unsere Mutter, unsere
Kindergärtnerin und unsere Lehrer sich auf unser Seelenleben einstimmten, so tut es uns gut und
stabilisiert uns in unserer seelischer Mitte, wenn wir als Erwachsene die Bewegungen unseres
eigenen Geistes und der Seele wahrnehmend uns auf uns selbst einstimmen. Wir sind uns damit
sozusagen selber nahe, haben eine „sichere Bindung zu uns selbst“. Eine sichere Bindung zu sich
selbst zu haben könnte man als ein Merkmal von seelischer Integration oder „Ganzheit“ sehen, im
Gegensatz zu innerer Fragmentierung und Zerrissenheit.
Die spannende Hypothese von Siegel ist nun - und dafür hat er bereits gute Anhaltspunkte
gefunden - dass für die Achtsamkeitspraxis dieselben Gehirnstrukturen und neuronalen Netzwerke
gebraucht werden wie für eine gute zwischenmenschliche Einstimmung und Kommunikation.
Das wiederum legt den Gedanken nahe, dass die Achtsamkeitpraxis - also sich seiner geistigen
Prozesse im gegenwärtigen Moment bewusst zu sein - eine gute Eingestimmtheit auf sich selbst
herstellt, ein mit sich selbst in Resonanz sein. Das stimmt ja auch mit dem subjektiven Empfinden
und Erleben von Achtsamkeitspraktizierenden überein.
Das, was benutzt wird, wird gestärkt. Das gilt für die Muskulatur als auch für Gehirnstrukturen.
Diejenigen Gehirnareale, die für die Achtsamkeitspraxis benutzt werden, sind bei erfahrenen
Praktizierenden nachweislich dicker. D.h. dass die fortgesetzte Praxis die entsprechenden
Fähigkeiten „substanziell“ stärkt, also durch das Wachstum entsprechender Nervensubstanz.
Drei Geistesqualitäten:
Achtsamkeit
Der Begriff Achtsamkeit ist allerdings für viele von uns nicht ganz unbelastet und kann womöglich
Assoziationen wecken von Ermahnungen von Eltern oder Lehrern in der Art von „Paß doch auf!“,
„Nimm dich in acht!“, „Träum nicht!“, „Jetzt reiß dich mal zusammen!“ u.ä.
Also eine Aufforderung, die eher Spannung und Bemühung induziert und den Kreislauf top-dog
- under-dog in Gang setzt. Demgegenüber hat die Achtsamkeit, so wie sie in den entsprechenden
Traditionen gepflegt und kultiviert wird, einen ganz anderen Geschmack.
Statt mit Druck und Anstrengung hat sie vielmehr zu tun mit Neugierde, Offenheit und freiwilliger,
interessierter Zugewandtheit. Es ist in etwa so eine Art von Achtsamkeit, welche sich in unserem
Geist natürlicherweise einstellt, wenn wir die schon erwähnte Herausforderung gerne und lustvoll
annehmen, über einen Balken zu balancieren. Man kann nicht unachtsam über einen Balken
balancieren, das geht gar nicht.
Aber es ist ja auch interessant und von uns selbst erwünscht, auf dem Balken achtsam zu sein,
weil dieser eine von uns gern und lustvoll angenommene Herausforderung ist. Wir nehmen die
Herausforderung spielerisch. Die Achtsamkeit ist dabei am besten weder zu bemüht noch zu
lasch. Sie ist optimiert. Man könnte sagen, dass die optimale Qualität von Achtsamkeit durch die
Balance zweier polarer Kräfte unterstützt wird, und zwar nicht nur während der Balance auf einem
Balken, sondern bei jeglichem Versuch achtsam zu sein:
Achtsamkeit
entspannt,
gelassen
entschieden,
entschlossen
Wir wollen achtsam sein, wenn wir auf dem Balken balancieren, aber diese Entschiedenheit,
dieser Wille ist entspannt. Und unser Geist folgt diesem entspannten Willen unmittelbar,
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sozusagen mühelos.
Die balancierte Kombination von Entspannung und Entschiedenheit qualifiziert also die geistige
Fähigkeit Achtsamkeit, d.h. gibt ihr eine ausgeglichene Qualität.
Entspannung / Gelassenheit
Wenn wir in einem Muster gefangen sind, z.B. in einem bestimmten Gefühls- und
Verhaltensmuster des „sich Stress machens“, wenn der „innere Antreiber“ uns am Schlawittchen
hat, dann braucht es ebenfalls das Zusammenwirken zweier Kräfte, um aus diesem Muster
aussteigen zu können:
Es braucht eine Be-Achtung dieses Musters, ein Aufwachen gegenüber diesem Muster, in dem
Sinne, dass wir uns seiner bewusst werden. Das ist die Funktion der Achtsamkeit.
Und es braucht sodann eine Entschiedenheit, eine Entschlossenheit dieses Muster loszulassen.
Das Nähren von Entspanntheit/Gelassenheit braucht also sogar den natürlichen Gegenpol,
nämlich die Entschlossenheit loszulassen und entspannt zu sein.
Beispiel: durch eine unbewusste Anspannung haben wir die Schultern unbemerkt hochgezogen
(dies verbraucht im Übrigen nutzlos Muskelenergie). Durch Achtsamkeit tauchen diese
hochgezogenen Schultern auf dem Radarschirm unseres Bewusstseins auf. Dadurch allein ändert
sich aber noch nichts an den hochgezogenen Schultern. Erst wenn die Intention dazu kommt sie
auch loszulassen, sinken sie nach unten und entspannt sich die Muskulatur. In diesem Fall ist die
Intention normalerweise leicht und selbstverständlich auszuführen. So leicht und mühelos hat es
die Intention mit dem Loslassen eines Antreiber-Musters jedoch nicht immer wie bei den
hochgezogenen Schultern.
Also das Entspannt-sein wird ermöglicht und qualifiziert durch die beiden geistigen Kräfte
Achtsamkeit und Entschlossenheit.
achtsam
Entspannung
entschieden,
entschlossen
Entschlossenheit
Damit die Entschlossenheit, die Willenskraft nicht verbohrt agiert und z.B. in das Muster des
inneren Antreibers verfällt, braucht es ebenfalls zwei Kräfte:
Die Achtsamkeit dient dazu, die Willenskraft genau und zieldienlich auszurichten und zu
kalibrieren. Die Entspanntheit unterstützt dies, indem sie sie weich und geschmeidig sein lässt.
Das ist wie bei einem Praktizierenden in der Zen-Kunst des Bogenschießens: Die Achtsamkeit
richtet den Pfeil präzise aufs Ziel. Mit weicher Entschlossenheit ist die ruhigste Kraftentfaltung
zum Spannen des Bogens erreichbar. Der Schuss löst sich von selbst, wie eine Naturvorgang.
achtsam
Entschlossenheit
entspannt
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Wir erreichen die ruhigste und kraftvollste Entschiedenheit mit Achtsamkeit und Entspanntheit.
„Vor allem spürte ich in seinen Handlungen eine ruhige Folgerichtigkeit, die mich zutiefst
verblüffte.“ Carlos Castaneda über seinen Lehrer Don Juan
So sind diese drei Kräfte zutiefst aufeinander angewiesen und bilden eine verbundene Einheit.
achtsam
entspannt
entschlossen
Damit können wir also den bereits weiter oben ausgeführten Satz detaillierter verstehen, nämlich
den Satz, dass es darum geht, zu üben, „so durchs Leben zu gehen wie man am besten über
einen Balken balanciert, nämlich achtsam, entspannt und entschieden.“
Unser Strichmodell können wir also nun folgendermaßen ergänzen:
Unterspannung,
sich gehen lassen
Wohlspannung
Der mittlere Weg
Überspannung,
sich antreiben
Neuronale Integration, mentale Kohärenz und der Mittlere Weg
Der „Mittlere Weg“ darf nicht mit Mittelmäßigkeit verwechselt werden. Im Gegenteil, Sie werden
inzwischen gemerkt haben, dass er anspruchsvoll ist. Er ist so anspruchsvoll, dass er die Spitze
der Evolution darstellt.
Auf der anderen Seite ist er paradoxerweise auch wiederum einfach. Er kann im Prinzip von
jedermann, zu jeder Zeit, in jeder Situation angewendet werden. Er ist an der Spitze der Evolution,
weil er einem zutiefst im Wesen des Menschen angelegten Antrieb dient, nämlich dem Antrieb der
Optimierung. Optimierung kann nicht in der Unterspannung oder Überspannung erreicht werden.
Nur in einer entspannten, gleichwohl aber nicht nachlässigen Verfassung kann man feinjustieren,
kann man die Textur und die Feinheiten einer Situation erfassen, entwickelt man eine
“Feldwahrnehmung“, d.h. man erfasst Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Kräfte in
einem „Feld“. Feld ist ein aus der Physik entlehnter Begriff, wie z.B. in den Bezeichnungen
Magnetfeld, Gravitationsfeld, elektrisches Feld.
Auf dem 1. Internationalen Kongress zum Thema „Mentale Stärken“ in Heidelberg 2007 habe ich
von einem eindrucksvollen Beispiel gehört, wie die oben genannten Prinzipien des Mittleren
Weges selbst in einem Wettbewerb ihre Überlegenheit demonstrieren können, in welchem es um
höchsten muskulären Einsatz und messbare Maximierung geht, in diesem Falle um die
Maximierung der Geschwindigkeit beim 100 m-Lauf.
Ein Referent berichtete Folgendes: Man filmte den Zieleinlauf von 100 m-Läufern und studierte
danach die Gesichter der Läufer beim Zieleinlauf als auch ihren Bewegungsablauf. Man stellte
dabei wiederholt fest, dass die Gesichter der Sieger entspannter aussahen, ja manchmal ganz
gelöst im Vergleich zu denen ihrer Konkurrenten. Auf deren Gesichtern war die
Willensanspannung, die zur muskulären Überspannung führte, direkt abzulesen. Wenn man dann
weiterhin den Bewegungsablauf der verschiedenen Sportler minutiös und detailliert untersuchte,
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stellte man fest:
Bei den mit Willens-Überspannung Laufenden war das Zusammenspiel der muskulären
Antagonisten offenbar nicht optimal, die Bewegung lief daher nicht 100%-ig rund, während dies bei
den mit Wohlspannung laufenden Siegern der Fall war. Das komplexe System Mensch mit all
seinen körperlichen und psychischen Komponenten hatte im Falle der Sieger offenbar einen
höheren Grad an Integration erreicht, d.h. ein stimmigeres Zusammenspiel seiner Komponenten.
Es ist sicherlich naheliegend, Integration mit Mitte, Achse, Zentrum in Verbindung zu bringen und
anzunehmen, dass seelische und körperliche Integration durch den Mittleren Weg gefördert
werden.
In seinem Buch „Das achtsame Gehirn“ führt Siegel zwei für ihn zentrale Begriffe ein, die Begriffe
„neuronale Integration“ und „mentale Kohärenz“. Mit neuronaler Integration ist gemeint, dass im
Gehirn relativ weit voneinander entfernte Gehirnareale in einer integrierten, also harmonisch
aufeinander abgestimmten Weise gleichzeitig „feuern“ (= elektrisch messbar aktiv sind).
Mit mentaler Kohärenz ist gemeint, dass die psychischen Prozesse, also Denk-, Gefühls- und
intentionale Prozesse kohärent, d.h. in einer stimmigen, koordinierten Weise „zusammenhängend“
sind und eben nicht fragmentiert, konflikthaft und widersprüchlich.
„Neuronale Integration“ und „mentale Kohärenz“ bedingen sich natürlich gegenseitig, bzw. sind die
„Außenseite“ und die „Innenseite“ der gleichen Münze. Die Bedeutung der neuronalen Integration
und der mentalen Kohärenz lässt sich an folgendem Schaubild verdeutlichen:
zunehmende
Herausforderung
Stress
Flow
Entspannung
Erschöpfung
zunehmende
Integration,
Kohärenz
Wenn man einen Maßstab für Herausforderung und einen Maßstab für Integration/Kohärenz durch
eine Mittellinie jeweils aufteilt in einen Bereich hoher und niedriger Ausprägung, bekommt man vier
Felder.
Ist eine Herausforderung hoch und meine Integration/Kohärenz niedrig, also z.B. bin ich
unkonzentriert, unausgeschlafen, emotional unausgeglichen, leicht aus der Ruhe zu bringen, dann
erlebe ich Stress eher oder massiver, als wenn ich in einem integrierteren Zustand wäre. Den
nicht-integrierten Zustand versuche ich mit Willensspannung zu kompensieren, d.h. ich „reiße mich
zusammen“. Dies führt zu neuronaler und muskulärer Spannung/Überspannung und verbraucht
zusätzliche Energien (Der Ausdruck „sich zusammenreißen“ weist sehr schön auf den willentlichen
Versuch hin, die widerspenstigen und auseinanderstrebenden Energien und Persönlichkeitsanteile
in einem selbst zu einer Einheit zu „zwingen“. Diese Art von „Integration“ hat natürlich keinen
Bestand und es fehlt ihr die natürliche Anmut einer Integration des „In-sich-ruhens“ und eines
natürlichen Flow-Zustandes. Siehe hierzu den köstlichen Essay von Heinrich von Kleist: „Über das
Marionettentheater“).
Wenn die Herausforderungssituationen vorbei sind, also z.B. am Feierabend, bin ich dann
erschöpft. Oft komme ich dann trotzdem nicht „zu mir“, denn Frau oder Kinder haben dann
Forderungen oder Erwartungen an mich, oder ich suche „Zerstreuung“ um „runterzukommen“,
schalte also z.B. den Fernseher ein und lade mein Nervensystem mit neuen Bildern und
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Geschichten voll, so dass es in der Nacht jede Menge zu verarbeiten hat. Statt mich auf mich
einzustimmen.
Ist die Herausforderung hoch und meine Integration und Kohärenz auch, d.h. lass ich mich trotz
hoher Herausforderung nicht aus der Ruhe bringen, lass mich nicht antreiben, behalte ich meinen
Humor und eine gewisse Distanz zu den „täglichen Katastrophen“, dann kann sich meine
Verfassung so anfühlen, dass ich mich gesammelt, kompetent und verbunden mit den
Erfordernissen der Situation fühle, also gewissermaßen im Flow.
Sportler wie Franz Beckenbauer oder Pele bewunderten wir ob der Leichtigkeit und
Unverbissenheit in ihrem herausragenden Spiel. Auch dies ein Hinweis auf ihre hohe mentale
Kohärenz, neben dem natürlich unbestreitbar vorhandenen außergewöhnlichen Talent.
Auch in anderen Bereichen menschlichen Wirkens, in Wissenschaft, Kunst, Management,
Pädagogik usw. sind Spitzenqualitäten erreichbar durch die Kunst des „Mittleren Weges“.
In Zeiten niedriger Herausforderung erlebe ich dann Entspannung im Sinne eines wohligen In-sichRuhens (ebenfalls ein Merkmal hoher Integration), welche zu einer raschen Regeneration
verbrauchter Energien führt.
Resilienz
In letzter Zeit ist der Begriff Resilienz in Mode gekommen. Darunter versteht man so etwas wie
seelische Flexibilität und Elastizität in dem Sinne, dass jemand psychischen Belastungen
standhalten kann oder nach Erschütterungen relativ zügig wieder auf die Beine kommt und wieder
einen festen und sicheren Stand hat. Die spirituelle Kampfkunst des Aikido ist ein schönes Beispiel
dafür: Wenn man von einem Gegner geworfen wird, geht es darum, dass man kontrolliert, weich
und elastisch fällt und abrollt, um dann im nächsten Moment wieder auf den Beinen zu stehen.
Resisilienz ist ein direktes Ergebnis eines höheren Levels an seelischer Integration.
Siddharthas Kulturleistung
Vor ca. 2500 Jahren hat einer für sich den „Mittleren Weg“ entdeckt und, indem er ihn - tiefgründig
ausgefeilt und differenziert - den Rest seines Lebens lang unermüdlich und selbstlos
weitergegeben und gelehrt hat, eine Kulturleistung erbracht, die unvergleichlich ist, deren Wirkung
nicht nur bis heute anhält, sondern immer noch zunimmt.
Der indische Prinz Siddhartha wuchs in Luxus und Müßiggang auf. Alle unangenehmen Eindrücke
und Anstrengungen wurden von ihm ferngehalten:
Als er bei einem erstmaligen Ausritt außerhalb des abgeschirmten Bereiches seiner königlichen
Anlagen mit den „harten Tatsachen“ des Lebens konfrontiert wurde, indem er Krankheit, Alter und
Tod sah, war dies so ein Schock für ihn, dass er sein bisheriges Leben des trägen Wohlstands
nicht mehr fortsetzen konnte. Er suchte nach einem Weg, mit diesen Schocks, mit diesen
unentrinnbaren Fakten des Lebens umzugehen. Und so schloss er sich einer Gruppe von
Samanas an, von Asketen, die durch harte asketische Übungen, Kasteiungen und Selbstdisziplin
menschliche Bedürftigkeiten und Abhängigkeiten überwinden und geistige Befreiung erreichen
wollten. Er wurde der Eifrigste von ihnen und spannte seinen Willen aufs Äußerste an, um die
Bedürftigkeiten des Fleisches und des Herzens zu überwinden und damit auch das Leiden an
Alter, Krankheit und Tod:
Nachdem er seine Bemühungen und seine Askese so weit vorangetrieben hatte, dass er merkte,
dass dies auf Selbstzerstörung hinauslief und ihn keineswegs in seiner Sehnsucht nach Erkenntnis
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und Überwindung des Leidens weiterbrachte, hielt er schließlich in seinen Anstrengungen inne.
Er setzte sich unter einen Baum und trank von der Milch, die ihm eine Kuhhirtin anbot, als sie sah,
wie abgemagert er war. Seine körperlichen und geistigen Kräfte stabilisierten sich allmählich
wieder.
Zu seinem früheren Leben der Unbewusstheit und des trägen Müßiggangs konnte und wollte er
nicht mehr zurückkehren. Er hatte „gesehen“ und konnte dies nicht mehr verdrängen.
Andererseits, die Anstrengungen, zu denen der Schock dieses „Sehens“ ihn impulsiv angetrieben
hatte waren in ihrer „wilden“ (d.h. unbalancierten) Entschlossenheit unfruchtbar geblieben, ja
wurden letztlich gefährlich für seine Gesundheit und sein Leben.
So besann er sich, der Natur und den Bedürfnissen seines Körpers in angemessener Weise
gerecht zu werden, seine Kräfte und Energien zu pflegen und sein Bewusstsein und seine geistige
Balance durch Achtsamkeit zu verfeinern.
Mit verfeinerter Achtsamkeit tauchte sein beobachtendes Bewusstsein tief in die Funktions- und
Arbeitsweisen seines Geistes ein. Ein zweites „Sehen“ tauchte auf und mit weicher aber
unbeirrbarer Entschlossenheit hielt er die Kräfte seines Geistes weiter auf die sich entfaltenden
Einsichten gerichtet. Sein zutiefst gesammelter und harmonisch ausbalancierter Geist zeigte ihm
Realitäten der geistigen und physischen Welt, sowie die Illusionen, Täuschungen und Ängste,
denen der menschliche Geist in ungesammeltem und unbalanciertem Zustand unterliegt.
Während ihn sein erstes Aufwachen aus der Unbewusstheit seines materiell geborgenen Lebens
aufschreckte, ließ ihn sein zweites Aufwachen die Funktionsweisen und Automatismen seines
Geistes erkennen (und vieles mehr) und führte ihn somit zu einem umfassenderen Erwachen.
Er erkannte, dass ihn zu diesem Zustand eine ausgewogene Balance von Bemühung und
Gelassenheit geführt hatte und nannte daher diese Haltung den „Mittleren Weg“.
Der geistigen Funktion der Achtsamkeit kam dabei bei seinem Einschwenken auf den mittleren
Weg und bei seinem Voranschreiten auf diesem eine zentrale Bedeutung zu.
Ihre Bedeutung in seinen Unterweisungen differenziert dargelegt und zu einer unermüdlichen
Entwicklung der Achtsamkeit angeregt zu haben, ist seine herausragendste Kulturleistung.
Im Erkennen ihrer zentralen Stellung innerhalb der Fähigkeiten der menschlichen Psyche war er
ein Meisterpsychologe.
Psychologie, Gehirnforschung, Verhaltensmedizin und Management
Die moderne Psychologie begreift erst jetzt so richtig, dafür aber nun mit rasanter Geschwindigkeit,
welche zentrale Bedeutung für die Reifung und das Erwachen des Menschen zu seinem vollen
menschlichen Potenzial die Pflege und Entwicklung der geistigen Ressource Achtsamkeit hat.
Mit vorangetrieben und unterstützt werden diese Einsichten von bahnbrechenden Erkenntnissen
der Gehirnforschung der letzten Jahre (Spiegelneuronen, neuronale Integration).
Von der Psychologie, der Gehirnforschung und der Verhaltensmedizin werden diese Erkenntnisse
und die auf ihnen aufbauenden Übungs- und Trainingsprogramme gerade zunehmend in die
gesellschaftlichen Bereiche Pädagogik, Medizin und Psychotherapie hineingetragen.
Nun haben auch bereits die ersten Firmen und Institutionen das Potenzial einer „Kultur der
Achtsamkeit“ erkannt und fördern Trainings und Unterweisungen hierin für ihre Mitarbeiter.
(SAP; Europäische Zentralbank Frankfurt, siehe: Capital 05/2008: „Die 100 besten Arbeitgeber“;
Forum Nachhaltig Wirtschaften 4/2007: „Achtsamkeit am Arbeitsplatz“)
In Kongressen wie dem von der Akademie Heiligenfeld 2008 veranstalteten Kongress
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„Wirtschaften mit Geist und Seele“ vernetzen sich die Akteure eines neuen Geistes in Beruf und
Business.
In Trainings zur Stressreduktion und Aufbau von Resilienz für Mitarbeiter und Führungskräfte,
sowie in Führungskräfte-Coachings wird man in steigendem Maße auf diese Erkenntnisse
zurückgreifen werden und müssen.
Menschen, die Lernende sind auf dem Weg „ihr Bestes zu tun“ - ohne sich, andere und die
Lebensgrundlagen dabei kaputtzumachen - werden in dieser entscheidenden Zeit und Generation,
dringendst in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft gebraucht - weltweit.
Literatur:
Daniel J. Siegel: Das achtsame Gehirn, Arbor Verlag, 2007
Prof. Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, 2006
©
Dipl.Psych. Gerd Metz
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