Erinnerung ist ein Konstruktionsprozess, im Zuge dessen

HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN
Romanistik Institut / Hispanistik
Proseminar: Lateinamerikanische Literatur im Zeitalter der Globalisierung
Wintersemester 2005
Dozentin: Dr. Schlünder
Referent: Krystian Woznicki
Die Biografie als Filmdatenbank – Zu Alberto Fuguets Las películas de mi vida
These:
Erinnerung ist ein Konstruktionsprozess, im Zuge dessen Vergangenes aus der Perspektive
und der Bedürfnislage der Gegenwart – oder, um mit Literaturwissenschaftlerin Joan Copjec
zu sprechen, aus einem individuellen Mangel – heraus entworfen wird. Es scheint auf der
Hand zu liegen, dass die Identität, die im Laufe dieser Erzählung konstruiert wird / Gestalt
annimmt, in der subjektiv-individuellen Dimension angesiedelt ist. Konträr zu dieser
Annahme lautet die These dieser Arbeit jedoch, dass es in Fuguets Roman um ein komplexes
Verhandeln von individueller und kollektiver Identität geht.
Fragestellung:
Wie funktioniert dieser identitätsbildende Prozess im Roman? Mit welchen literarischen
Mitteln wird zwischen individueller und kollektiver Identität verhandelt? Welche Brüche lässt
dieser Prozess erkennbar werden? Welche Spaltungen und Widersprüche werden trotz des
synthetisierenden Charakters dieses Prozesses sichtbar? Welche Rolle nimmt der „Ursprung“
in diesem Prozess ein und wie wird er literarisch in Szene gesetzt? Konkreter: Welche Rolle
spielt Kindheit in „Las películas de mi vida” und mit welchen literarischen Mitteln wird sie
dargestellt?
Theorie:
1) Janusköpfigkeit des Unterhaltungsprodukts: Es ist Träger individueller Erinnerungen und
somit das persönlichste auf der Welt, gleichzeitig findet er via globale Vertriebsnetze
Verbreitung in Industriegesellschaften, deren kollektive Psyche er vor allem in Erfolgsfällen,
nach Siegfried Kracauer, spiegelt.
2) DVD als Sperrspitze des „postklassischen“ Filmereignisses, das nach Drehli Robnik ‚nie
fertig’, nie abgeschlossen: Es ist über eine Reihe von Märkten und Konsumtionskontexten
ausgestreut und einer transformativen Dauerauswertung unterworfen.
Narrative Makrostruktur:
Was auf der Ebene der Schreibsituation des Ich-Erzählers angelegt ist, übersetzt sich auch in
die Struktur der Erzählung, dem veräußerlichten Erinnerungsprozess des Protagonisten. Der
Locus von Beltráns Identitätssuche ist seine Kindheit. Er verfasst seine Film-Biografie in
unmittelbarer Nähe zu jenen Orten, an denen er aufgewachsen ist. Dort, wo er schreibt/gräbt,
sieht es nicht nur so aus wie damals, es riecht auch nach Kindheit, wie im den Roman
abschließenden Telefongespräch mit seiner Schwester deutlich wird:
¿ Te acuerdas de ese donut gigantesco, cerca de la calle Ash ?
Sí. Por las fotos. Hay una foto de los cuatro pardos frente de ese donut.
Aquí estoy. El donut me da sombra. Deberías oler el aroma a chocolate y canela que
hay. (S.336)
Geruch und Architektur-Ikone werden bereits beim Anflug auf Los Angeles als Verweise auf
seine Kindheit eingeführt: „como si lo hubiera visto ayer, el inmenso donut de Randy´s
brilando en la noche, a pasos de la calle Ash. Por un instante, y justo antes de que las ruedas
se posaran sobre la losa del aeropuerto, sentí que el avión se llenaba con el aroma azucarado
de los donuts recién hechos.“ (S.65) Über diese beiden symbolischen Referenten schließt sich
am Ende der Erzählung ein narrativer Kreis. Der Prozess der retroaktiven
Bedeutungsverschiebung wird über sie zeichenhaft markiert und in Gang gesetzt: Am Ende
steht der Ich-Erzähler chronologisch der Gegenwart am Nähesten und ist bei seinem quasiarchäologischen Selbsterkundungsprozess der tiefsten Schicht seiner Selbst näher als jemals
zuvor. Strukturell und symbolisch ist er damit in seiner Kindheit angelangt. Wohl nicht
zufällig gibt er am Ende der Email, also nachdem er die ersten 50 Einträge erstellt hat, seiner
Flugzeugbekanntschaft in Bezug auf sein Geschriebenes zu verstehen: „debajo de mi adlutez,
sin duda que hay muy niño.“ (S.70)
Narrative Makrostruktur:
Jeder Filmeintrag wird wie die Datei in einer Filmdatenbank präsentiert. Der Dateikopf ist
grafisch abgesetzt: In der spanischen Originalversion des Romans handelt es sich um ein
graues, rechteckiges Kästchen, in dem in der ersten Zeile der Titel des jeweiligen Films in der
spanischen Übersetzung, dahinter im Original mit Produktionsland sowie Produktionsjahr und
Spieldauer steht; in der zweiten Zeile der Regisseur; in der dritten und vierten Zeile die
Schauspieler und schließlich, in der untersten Zeile, das Jahr und der Ort, an dem der
Protagonist den Film zuerst sah. Wo in einem Filmdateisystem nach dem Dateikopf
normalerweise Synopsis, Produktionsnotizen und ausgesuchte Kommentare zum Film folgen,
folgt in diesem Roman ein subjektiver Bericht. Auffällig ist, dass auf eine Zusammenfassung
des Films gänzlich verzichtet wird, bestenfalls werden Passagen wiedergegeben. Der
vermeintlich exklusiv auf ein Innen verweisende Eintrag, bekommt dadurch eine Dimension,
die auf ein Außen verweist. Genauer gesagt auf ein Vorwissen, das im Außen angesiedelt ist.
So setzen die Einträge schlichtweg voraus, dass die mit diesem Textapparat adressierte
Lindsay Hamilton, die hier für eine Kollektivität steht, die sich aus fiktiven Film-/DVD-Fans
sowie dem realen Kreis der LeserInnen zusammensetzt, diese Filme kennt. Da die Filme als
bekannt oder gesehen vorrausgesetzt werden, ist es nicht notwendig, sie nochmals
zusammenzufassen. Entscheidend ist nicht, ob das stimmt oder nicht, also ob die Filme in
besagtem Kollektiv bekannt sind oder, sondern, dass die narrative Struktur des Roman das
voraussetzt. Die intimen Anekdoten und Assoziationen werden somit auf einer Ebene der
Komplizenschaft erzählt. Wer Beltráms Film-Biografie liest, ist per se ein Eingeweihter und
gehört zum Kreis jener, die den DVD-Planet bevölkern.
Bibliographie
Joan Copjec: Read My Desire. Camebridge, Massachusetts, London: The MIT Press, 1994.
Mike Davis: City of Quartz. London: Verso, 1990.
A. Fanizadeh/E.-C. Meier (Hg.): Chile Internacional. Arte, Existencia, Multitud. Berlin: ID Verlag, 2005.
Alberto Fuguet: Las películas de mi vida. Madrid: Alfaguara, 2003.
Eduardo Galeano: Las venas abiertas de América Latina. Madrid: Siglo XXI De España Editores, 1971.
Nick Hornby: High Fidelity. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1996.
Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1960.
Drehli Robnik: „Das Postklassische (Hollywood)-Kino“. In: Filmkunst, Nr. 145. Wien: 1995.
Cornelia Sieber: Die Gegenwart im Plural. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag, 2005.
Toshiya Ueno: „Vehicles“. In: InterCommunication Annual, ’94. Tokio: 1994.