Bildung und Sport PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015 Schriftliche Workshopdokumentation Workshop Nr.:3 Thema: Sprachenvielfalt in Lehr-Lernkontexten: Bilder im Kopf reflektieren und Potentiale erkennen Referierende: Jetti Hahn und Alparslan Bayramli Diese Dokumentation ist im Rahmen eines Kooperationsprojekts des Pädagogischen Instituts mit der KSFH München und der LMU München entstanden. Die nachfolgenden Aufzeichnungen geben den Eindruck der AutorInnen wieder und sind nicht mit den Referierenden der Workshops abgestimmt. AutorInnen: Doris Koopmann Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Sprachenvielfalt in Lehr- Lernkontexten 1. Wissenschaftlicher Hintergrund zum Workshop Im deutschen Bildungssystem wird am „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 1994) festgehalten. Andere Herkunftssprachen werden überspitzt gesagt als Störfaktoren empfunden, die zur Sprachverwirrung führen können. Das deutsche Verharren in Monolingualität ist allerdings nicht repräsentativ für den internationalen Raum. Weltweit ist Mehrsprachigkeit1 der Normalfall. So werden bspw. in Europa 284 Sprachen gesprochen, d.h. es kommen 2,6 Millionen Menschen auf eine Sprache. Werden nun die beiden Werte multipliziert, ergibt sich ein weitaus höherer Bevölkerungswert, als er real in Europa ist. Somit ist anzunehmen, dass Mehrsprachigkeit in Europa eher die Regel als die Ausnahme ist (vgl. Riehl 2014, S. 10). Mehrsprachigkeit ist kulturelles Kapital, denn Sprache bildet kulturelle Identität. Das Beherrschen verschiedener Sprachen erhöht die Flexibilität im Umgang mit anderen Kulturen sowie das Verständnis für andere Kulturen (vgl. ebd. S. 18). Sprache bildet die eigene Identität und gerade die Muttersprache ist emotional belegt und zuständig für die Gruppenzugehörigkeit. Durch Sprachdiskriminierung der Mehrheitssprachensprecher_innen kann es in der frühen Phase des Spracherwerbs zur Konfusion in der Identitätsbildung kommen und im weiteren Verlauf zur Resignation im Spracherwerb und zur Negierung der Herkunftssprache (vgl. ebd. S. 81). Die Verwebung von Sprache und Identitätsbildung lässt schon erahnen, wie Sprache zur Konstruktion von identitätsstiftend. Wirklichkeit Das beitragen gelungene kann. Erwerben Sprache der stellt Beziehung Erstsprache/n trägt zu her und ist erfolgreichen Identitätsprozessen bei und bereitet den Boden für Mehrsprachigkeit. 2. Wesentliche Thesen und Ergebnisse des Workshops Als wesentliche These stellte der Workshop heraus, dass Mehrsprachigkeit die Sprachlernfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Metasprachlichkeit, Kreativität und die Fähigkeit, den Anderen zu verstehen („Theory of Mind“) fördert. Das frühe Erlernen von sprachlichen Fähigkeiten lässt eine sensible Auseinandersetzung mit Gedanken und Emotionen des Anderen zu. Sprache wird im Austausch gelernt und gelehrt. Wenn der/die Andere sprachlich verstanden wird bzw. wenn eine andere Sprache keine Ablehnung auslöst, können Anerkennungsprozesse in der Selbst- und Fremdwahrnehmung leichter gelingen. Dabei kritisierten die Referierenden, dass bestimmte Sprachen im Bildungskontext bevorzugt werden. Die Sprache als ein Teil von Identität und der Spracherwerb als ein identitätsstiftender Prozess wird im monolingualen Bildungssystem nur linear unterstützt und Identitätskonzepte mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher nicht gefördert. Derweil zeigen unterschiedliche Studien, dass mehrsprachig aufgewachsene Kinder sehr gute kommunikative sowie kognitive Fähigkeiten aufweisen. 1 Mehrsprachigkeit wird je nach Art des Erwerbs, gesellschaftlichen Bedingungen, Kompetenz und Sprachkonstellationen nach verschiedenen Kriterien definiert (vgl. Riehl 2014 S.11). 2 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Sprachenvielfalt in Lehr- Lernkontexten Das Hin -und Herwechseln zwischen mehreren Sprachen befähigt Kinder und Jugendliche zum schnellen und barrierefreien Bewegen in unterschiedlichen Kontexten. Als ein Ergebnis des Workshops wurde die Aufgabe angesehen, Mehrsprachigkeit zur Normalität zu erheben, um u.a. die Potentiale von Sprachvielfalt für den Bildungskontext zu nutzen. Dies ist ein Prozess, bei dem Sprachhierarchien, insbesondere als Schlüsselfaktoren im Gelingen des Bildungsweges, dekonstruiert werden müssen, um damit Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Sprache und die damit einhergehenden Prozesse möglichst barrierefrei zu durchlaufen. Sprachvielfalt soll erlebbar und nutzbar gemacht werden, um den Mehrgewinn aufzugreifen, der durch die Annahme von Sprachvielfalt identitätsstiftende Prozesse anstößt und dabei helfen kann, den/die Andere_n und sich selbst durch Sprache zu verstehen. Ansatzpunkte für Bildungseinrichtungen, diesen Prozess zu unterstützen, könnten z.B. sein: mehrsprachige Elternbriefe sowie mehrsprachige Elternabende, der Aufbau einer Willkommenskultur der Sprachen; das Einrichten von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften sowie der Erwerb einer mehrsprachigen Schulbibliothek. Lehrkräfte können durch sprachsensible Unterrichtsmethoden eine mehrsprachige Lebenswelt begünstigen und den „monolingualen Habitus“ abschwächen. 3. Erlebte Wirksamkeitsfaktoren im Workshop Zum Beginn des Workshops „Sprachenvielfalt in Lehr-Lernkontexten“ hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Sprachkompetenzen selbst einzuschätzen. Mit der Frage: „Wie viele Sprachen sprecht ihr?“ wurden die Teilnehmenden gebeten, sich nach Sprachvielfalt aufzustellen. Es bildeten sich drei Gruppen, die sich in eine Sprache, zwei Sprachen und drei gesprochene Sprachen aufteilten. In der Auswertung wurde schnell klar, dass einerseits Sprachkompetenz unterschiedlich aufgefasst wurde, sowie Sprache enger oder weiter ausgelegt wurde. So zählte eine Teilnehmerin den bairischen Dialekt zu ihren Sprachkompetenzen, ein anderer Teilnehmer die Sprache, mit welcher er sich ausdrückt und damit seine alltägliche Kommunikationssprache, als einzige Sprache zu seiner Sprachkompetenz. Durch die Übung zeigte sich den Teilnehmenden früh durch Selbst- und Fremderfahrung, wie unterschiedlich das Verständnis für Sprache sein kann und erhielten einen Eindruck davon, wie Sprache als Mittel von Sprachhierarchien wirken kann. Die Übung „Musikstühle“ gab Zeit und Raum für die eigene Auseinandersetzung und den Austausch mit der Wirkung und Varietät von Sprache, die sich durch Sprachkontexte rückkoppelt. Durch Musik gesteuert wurden Sitzpartner gefunden, die sich mit Hilfe von folgenden Fragen über das Thema „Sprachvielfalt“ austauschten: „Wann sind Sie heute das erste Mal mit Sprache in Berührung gekommen?“ „Wann wurde Ihnen das erste Mal bewusst, dass es mehrere Sprachen gibt und wodurch?“ „Welche Sprachen hören Sie gerne?“ 3 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Sprachenvielfalt in Lehr- Lernkontexten „Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie sich in einem Sprachkontext befanden, indem Sie nichts verstanden haben? Wie haben Sie sich gefühlt?“ „Erinnern Sie sich an eine Situation, mit der Sie in Ihrer Sprache selber Macht über andere ausgeübt haben?“ „Erinnern Sie sich an eine positive Situation, in der Sie selber über Sprache eine persönliche Situation hergestellt haben?“ Zur Metakognition wurde angeregt, indem sich die Teilnehmenden mit der Beschaffenheit dieser Fragen und deren Antworten auseinandersetzten. Auf die Frage nach einer schwierigen oder verstörenden Frage war der Aspekt der Machtausübung durch Sprache präsent. Die Pädagog_innen fanden dies gerade in ihrem beruflichen Alltag wieder und fühlten sich „ertappt“. Die Nachfrage zum beruflichen Alltag knüpfte an das Pädagogische Erleben an. Es kamen weitere Fragen auf, die zum Weiterdenken und zum sensiblen Umgang in Interaktionen mit Schüler_innen anregten: „Wie kann Wohlbefinden durch Sprache im beruflichen Alltag hergestellt werden?“ „WIE wird etwas gesagt und wie wird damit im Lehr-Lernkontext Atmosphäre geschaffen?“ Anwendbares Wissen wurde durch sprachsensible Übungen für den Mathematikunterricht vermittelt. Dazu wurden u.a. die Sprachstrukturen von Deutsch, Türkisch und Arabisch verglichen und es wurde mit einer deutschsprachigen Mathematikübung herausgestellt, welch komplizierte Grammatik diese vorweist und wie viele fachspezifische Wörter benutzt werden. Im Anschluss daran wurden unterschiedliche Möglichkeiten aufgezeigt, Mathematikübungen durch z.B. graphische Darstellungen und Lückentexte aufzulockern. Ständige Kognitive Dissonanz entstand durch die Auseinandersetzung mit dem Thema „Sprache“, mit sich selbst, mit den Anderen und mit der Auseinandersetzung im theoretischen Kontext. 4. Offene Fragen Zum Ende des Workshops wurden offene Fragen gesammelt, die in Kleingruppen besprochen wurden, um zuvor Gehörtes für den (Bildungs-)Alltag zu verknüpfen und neue Impulse aufzugreifen. Folgende Fragen wurden in drei Gruppen bearbeitet: Welche sprachlichen Mittel gibt es, um die traditionsbehafteten Geschlechterrollen zu durchbrechen? Wie mache ich Kindern Lust auf Mehrsprachigkeit? Welche Erfahrungen gibt es, die Familiensprache fördern? Und was sind erkennbare Veränderungen? Beispielhafte Lösungsansätze der Kleingruppen waren: den Zweck der tradierten Aussage zu hinterfragen, die Widersprüche der Geschlechterklischees einzuräumen, mehrsprachige Bücher anzuschaffen und die eigene Haltung „wirklich etwas tun zu wollen“, zu hinterfragen. 4 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Sprachenvielfalt in Lehr- Lernkontexten 5. Weiterführende Literatur Abshagen, M. (2015): Praxishandbuch Sprachbildung Mathematik. Sprachsensibel unterrichten Sprache fördern. Stuttgart: Klett Verlag Fürstenau, S.; Gomolla, M. (2011): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Gogolin, I. (2014): Monolingualer Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann Hinnenkamp, V.: Vom Umgang mit Mehrsprachigkeiten. URL: http://www.bpb.de/apuz/32955/vom-umgang-mit-mehrsprachigkeiten (Stand: 26.12.2015) Jeuk, S.: Mehrsprachigkeit ist der Normalfall. URL: http://www.goethe.de/lhr/prj/d30/dos/meh/de13387573.htm (Stand: 26.12.2015) Riehl, C. M. (2014): Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Riehl, C.M.: Chancen durch Mehrsprachigkeit. URL: https://www.goethe.de/de/spr/mag/20483052.html (Stand: 26.12.1015) Sander, B. (2012): Sprachenvielfalt als Chance: Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Zürich: Orell Füssli Verlag Wiese, H.: Kiesdeutsch - ein neuer Dialekt. URL: http://www.bpb.de/apuz/32957/kiezdeutsch-einneuer-dialekt (Stand: 26.12.2015) 5
© Copyright 2024 ExpyDoc