Gewöhnliche Differentialgleichungen SoSe 2015 Florian Wörz Maximalität und Globalität von Lösungen 1 Maximale Lösungen Sei Ω :' T ×U ⊂ R×Rn ein Gebiet, f : Ω → Rn stetig und (t0 , u0 ) ∈ Ω. Im Folgenden betrachten wir das u̇(t) = f (t, y(t)) (AWP) u(t0 ) = u0 . Definition 1.1. Eine Funktion u : Imax → Rn heißt maximale Lösung des (AWP)s, falls u eine Lösung des (AWP)s ist und jede andere Lösung v des (AWP)s lediglich eine Einschränkung von u auf ein kleineres Intervall I ⊂ Imax ist. M.a.W. kann man u also nicht mehr fortsetzen. Erinnerung 1.2 (Zusatzinfo 5.5 aus der Vorlesung). Ist f zustätzlich Lipschitz-stetig in der 2. Komponente, so garantiert der Existenz- und Eindeutigkeitssatz von PicardLindelöf, dass man ein beliebiges Kompaktum K :' K1 × K2 ⊂ T × U = Ω mit (t0 , u0 ) ∈ K wählen kann, und eine eindeutige Lösung u : I → Rn auf einem beliebig großen kompakten Intervall I ⊂ K1 mit t0 ∈ I erhält. Das bemerkenswerte daran ist, dass das Kompaktum beliebig gewählt werden kann, es muss lediglich den Anfangswert enthalten. Man hat allerdings nicht immer Lipschitz-Stetigkeit in der 2. Komponente von f vorliegen. Satz 1.3 (Satz 6.1 aus der Vorlesung). Ist der rechte Endpunkt t + des maximalen Lösungsintervalls kleiner als +∞, verlässt der Graph (t, u(t)) der Lösung jedes Kompaktum K ⊂ Ω, sobald t ↑ t + geht. Analoges gilt für den linken Endpunkt t − . Theorem 1.4 (Korollar 6.2 aus der Vorlesung). Es treten drei mögliche Fälle auf (Analoges gilt wieder für t − ): 1. t + = +∞ 2. t + < +∞ und es existiert eine Folge (tn )n∈N ∈ T mit tn ↑ t + , sodass dist ((tn , u(tn )), ∂Ω) → 0. 3. t + < +∞ und es existiert eine Zeit t1 < t + und ein ε > 0, sodass dist ((t, u(t)), ∂Ω) ≥ ε > 0 für alle t ≥ t1 aber limt↑t + ku(t)k = +∞ gilt. In diesem Fall ist die Lösung offensichtlich nicht stetig fortsetzbar. 1 Beispiel 1.5. Bestimme eine maximale Lösung des 2 u̇(t) = u(t) 3 (AWP) u(0) = 1. Schritt 1: Typ der DGL erkennen & lösen. Die DGL ist vom Typ der getrennten Veränderlichen“. Es ist nämlich ” 2 u̇(t) · u(t)− 3 = 1. Diese Umformung ist gültig für u(t) 6= 0, was wegen dem Anfangswert zumindest lokal um den Zeitpunkt 0 gültig ist. Integration von 0 bis t liefert Z t Z t − 32 1 ds. u̇(s) · u(s) ds = 0 0 Mit der Substitutionsregel Rb a f (ϕ(s)) · ϕ0 (s) ds = − 23 fikationen ϕ ≡ u sowei f ≡ ( · ) Z R ϕ(b) ϕ(a) f (x ) dx und den Identi- folgt u(t) 2 x − 3 dx = t u(0) und somit 1 u(t) 1 3x 3 = 3u(t) 3 − 3 = t. u(0) Umgeformt erhält man 1 (t + 3)3 . 27 Man sieht sofort (z.B. durch direktes Nachrechnen), dass dieses Ergebnis das (AWP) löst, wir haben also in der Tat einen Lösungskandidaten gefunden. u(t) = Schritt 2: Lösungsintervall bestimmen. Die Lösung ist verschieden von Null im Intervall I := (−3, +∞). Schritt 3: Begründen, dass wir tatsächlich eine Lösung haben. In diesem Intervall sind die obigen Umformungen gerechtfertigt, d.h. die Lösung ist auch eine. Schritt 4: Prüfen, ob die Lösung fortsetzbar ist. 1 Die bisherige Lösung ist nicht maximal, da limt↓−3 27 (t + 3)3 = 0 6= +∞ ist. Im Intervall (−∞, −3] müssen wir keinen Anfangswert mehr berücksichtigen, d.h. die triviale Lösung u ≡ 0 ist auf diesem Intervall eine Lösung der DGL. 2 Der linksseitige Grenzwert der neuen Lösung stimmt mit dem rechtsseitigen Grenzwert der alten überein: 1 3 lim ko(t)k = 0 = lim (t + 3) . t↑−3 t↓−3 27 Somit ist nach Zusammenkleben der Lösungen“ gemäß Blatt 1/A4 auch ” 0, für t ∈ (−∞, −3] u(t) := 1 3 (t + 3) , für t ∈ (−3, +∞) . 27 eine Lösung des (AWP). Schritt 5: Maximalität des Lösungsintervalls. Da die Lösung auf ganz R definiert ist, ist sie maximal. 3 Beispiel 1.6. Bestimme eine maximale Lösung des u̇(t) = u(t)3 (AWP) u(0) = 1. Es folgt eine viel zu kurze Lösungskizze! • Trennen der Veränderlichen liefert u̇(t) · u(t)−3 = 1 für u(t) 6= 0, was lokal um den Zeitpunkt 0 gerechtfertigt ist. Integration und anschließende Substitution liefert dann Z u(t) x −3 dx = t, u(0) 1 also − 21 u(t)−2 + 21 = t. Wir erhalten als Lösungskandidaten u(t) = (−2t + 1)− 2 . • I := (−∞, 12 ). • Dies ist eine Lösung: klar! • limt↑ 1 ku(t)k = +∞, also existiert keine stetige Fortsetzung nach rechts, daher 2 ist I maximal. 4 2 Globale Lösungen Wir geben nun ein Kriterium an, dass die Globalität einer gefundenen Lösung impliziert: Satz 2.1. Seien α, β : [t0 , b) → R+ stetig, sodass |f (t, x )| ≤ α(t) + β(t) · kx kRn für alle t ∈ [t0 , b) gilt. Dann ist t + = ∞. Analoges gilt für t − . Beispiel 2.2. Besitzt das folgende (AWP1) eine Lösung y : [0, ∞) → R? ẏ(t) = y(t)4 + (π + sin(t))y(t) + (tanh(t) + 1)t (AWP1) y(0) = e . Die lokale Existenz der Lösung ergibt sich aus dem Satz von Picard-Lindelöf. Schritt 1: y(t) ≥ 0. Wir verwenden ein wichtiges Standardargument: Angenommen es gäbe ein t ≥ 0 mit y(t) < 1, dann finden wir auch eine Zeit t0 > 0 mit y(t0 ) = 0 aber ẏ(t0 ) ≤ 0. Man kann nämlich z.B. t0 := inf{t > 0 | y(t) < 1} wählen. Durch Einsetzen dieser Tatsachen in die (DGL1) erhält man ẏ(t0 ) = (tanh(t) + 1) · t0 > 0, ein Widerspruch! Schritt 2: y(t) ≥ z (t), solange beide Lösungen definiert sind. Es sei hierbei z (t) die Lösung von ż (t) = z (t)4 (AWP2) z (0) = e . Wäre nämlich y(t) < z (t) für ein t ≥ 0, wo beide Lösungen definiert sind, dann finden wir gemäß unseres Standardarguments auch ein t0 ≥ 0 mit y(t0 ) = z (t0 ) aber ẏ(t0 ) ≤ ż (t0 ). Wir unterscheiden nun beim Einsetzen in die (DGL1) zwei Fälle: Fall 1: t0 = 0. Wir erhalten ẏ(t0 ) = y(t0 )4 + (π + sin(0)) · y(0) + (tanh(0) + 1) · 0 | {z } |{z} | {z } =0 = y(t0 )4 + π e > y(t0 )4 = z (t0 )4 = ż (t0 ). Ein Widerspruch! 5 =e =0 Fall 2: t0 > 0. Mit k sin(·)k∞ = k tanh(·)k∞ = 1 erhalten wir nun ẏ(t0 ) = y(t0 )4 + (π + sin(t0 )) · y(t0 ) + (tanh(t0 ) + 1) · t0 | {z } | {z } | {z } |{z} >0 >0 >0 ≥ 0 wg. S1 {z } | >0 4 4 > y(t0 ) = z (t0 ) = ż (t0 ). Erneut ein Widerspruch! Aus den Widersprüchen in beiden möglichen Fällen schließen wir die Behauptung. Schritt 3: Löse (AWP2). Wir wollen zunächst (DGL2) lösen. Durch scharfes Hinschauen (mit ein bisschen Rumprobieren) erhalten wir die Idee für den Ansatz (alternativ trennt man die Veränderlichen und integriert): z (t) = 1 1 c1 (c2 − t) 3 mit c1 ∈ R? , c2 ∈ R. Dann ist 4 1 · − · (c2 − t)− 3 · (−1) 3 4 1 · · (c2 − t)− 3 . 3 4 4 Koeffizientenvergleich mit z (t)4 = c11 · (c2 − t)− 3 liefert 1 ż (t) = c1 1 = c1 4 1 1 = 3c1 c1 1 c1 1 ⇔ = 4 = 3, 3 c1 c1 √ also c1 := 3 3. Zusätzlich bestimmen wir c2 so, dass der Anfangswert erfüllt ist. Es soll gelten 1 ! = e, z (0) = √ √ 3 3 3 · c2 − 0 3 √ √ √ 3 3 √ also 3 c2 = e3 , weshalb wir c2 := e3 = e33 wählen. Die Lösung ergibt sich somit zu 1 z (t) = √ q √ . 3 3 3 3 · e3 − t Als Lösungsintervall wählen wir √ ! 3 I := [0, c2 ) = 0, 3 . e " 6 Schritt 4: Es gibt keine globale Lösung von (AWP1). Es gilt limt↑c2 kz (t)k = +∞. Daher haben wir im vorherigen Schritt eine maximale Lösung des (AWP2) bestimmt. Folglich (a) existiert die Lösung der (DGL1) entweder nicht auf dem ganzen Intervall I (weshalb es keine globale Lösung gäbe), oder (b) es gilt limt↑c2 ky(t)k = +∞. In diesem Fall kann die Lösung auch nicht über I fortgesetzt werden bzw. auf dem ganzen Intervall I definiert sein. Wie auch immer: Die maximale Lösung des (AWP1) ist höchstens auf I definiert (das genaue Intervall ist unbekannt). Es gibt damit keine Lösung auf [0, +∞). 7
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