Predigt zu Markus 10, 46ff Jens Martin Sautter (26.4.2015) Der stört doch nur Im Studium gehörte ich zu einer Gemeinde in Marburg. Die Gottesdienste waren gut besucht. Die Kirche war voll. Manchmal gab es Stille im Gottesdienst, in der die Besucher laut ein Gebet sprechen konnten. Das war der Moment, in dem Micha in Erscheinung trat. Er war damals vielleicht 30 Jahre alt, er hatte eine Behinderung und wohnte in einer Wohngruppe, weil er alleine nicht zurechtkam. Und wenn es dann so richtig still war, setzte er an zu einem seiner langen, sehr langen Gebete. Es sprudelte förmlich aus ihm heraus. Grammatikalisch war manches nicht so ganz richtig. Er wiederholte sich oft. Er hatte nicht die Formulierungen, die man sonst so in Gebeten hört. Micha hatte immer einen Begleiter, und nach einer Weile legte dieser immer sanft den Arm auf seine Schulter und langsam kam Micha mit seinem Gebet an sein Ende. Ich bin mir sicher: Manche, die Micha nicht kannten, die nicht wussten, dass da jemand neben ihm stand, saßen wahrscheinlich im Gottesdienst und dachten sich: „Was soll denn das! Der stört doch die Andacht. Der findet ja gar kein Ende!“ Für die anderen, die ihn kannten, gehörte er einfach dazu. Die Freunde von Jesus achteten auch immer sehr darauf, dass Jesus nicht zu sehr gestört wurde. Kurz vor der Geschichte für heute waren da zum Beispiel die Kinder: Jesus hatte sich gerade niedergelassen. Die Jünger hofften auf ein paar exklusive Minuten mit ihrem Meister. Diese besondere Zeit hatten sie sich verdient, sie waren immerhin schon seit Tagen mit ihm unterwegs. Aber plötzlich wurde es laut: Kinder! Da kamen plötzlich Eltern und brachten ihre Kinder, damit Jesus sie segnen möge. „Was für eine Frechheit! Diese Unruhe! Die stören doch nur!“ Was waren sie überrascht, dass Jesus sie angefahren hat und die Kinder zu sich geholt hat. Sie sollten sich ein Beispiel an ihnen nehmen, hat er gesagt. Da haben sie aber geschaut. Und nun wieder so eine Störung: Jesus war gerade in Jericho gewesen, auf dem Weg aus der Stadt, mit einem Ziel vor Augen: Jerusalem. Jesus hatte düstere Ankündigungen gemacht, dass es dort gefährlich werden könnte für ihn. Die Freunde Jesu hatten Angst bekommen. Mit den Gedanken waren sie ganz woanders. Als sie gerade die Stadt verließen war da plötzlich dieses Schreien. Dieser Bettler, der da wohl immer am Straßenrand sitzt, fängt einfach an zu brüllen, als ob jemand nach ihm gefragt hätte. Dabei war Blindheit doch eine Strafe Gottes, das wusste man doch. Es hatte also einen guten Grund, warum dieser Blinde dort saß. Aber ihm ist das egal. Er brüllt weiter: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Was für eine Frechheit, der stört doch nur! Aber auch hier: Jesus bittet seine Freunde, diesen Störenfried zu holen. Irgendwie muss das an dieser Stadt liegen. Denn etwas Ähnliches gab es schon mal. Das war dieser Zachäus gewesen, der lebte auch in Jericho. Der stadtbekannte Betrüger und Kollaborateur, der auf den Baum geklettert war, um Jesus zu sehen. Auch da geht Jesus auf ihn zu und kehrt ein. Schon wieder in Jericho. Vielleicht mussten die Menschen in dieser Stadt diese Lektion besonders lernen. Dass Jesus gerade die, die niemand haben will, zu sich holt oder zu ihnen geht. „Der stört doch nur!“ Haben Sie diesen Satz schon einmal gedacht? - im Gottesdienst z.B.? Wenn ein Kind mal etwas lauter ist, oder ein Musiker etwas lauter spielt als ich es gewohnt bin, oder wenn ein Fürbitter nicht zum Ende kommt. Das stört doch nur. Das stört doch nur? Wer sind wir eigentlich, dass wir darüber befinden können, wen Jesus gerne in seiner Nähe hat? Lassen wir doch lieber Jesus entscheiden. Am Ende sind noch wir die Störenfriede. Jesus weist seine Freunde gar nicht zurecht, sondern macht sie zu Gehilfen. „Ruft ihn her!“, sagt er zu ihnen. Sie selbst sollen den zu Jesus holen, dem sie vorher noch den Mund verbieten wollten. Auch eine kleine Übung in Demut. Erbarme dich „Erbarme dich!“ – auf Griechisch: „Eleison“. Das ruft der Bettler. Kommt Ihnen das bekannt vor? Am Anfang des Gottesdienstes singen wir gemeinsam „Kyrie eleison“. „Herr, erbarme dich“, und dieser Ruf kommt auch später noch einmal vor, bei den Fürbitten. Es gibt Menschen, die sagen, eigentlich könnte man unser ganzes Beten auf diesen einen Ruf konzentrieren: „Herr, erbarme dich“. Warum? Dieser Ruf ist der Anfang von allem. Das Eingeständnis, dass man Gott nötig hat. Mit diesem Satz sagt man zu Gott: „Ich brauche dich. Wir brauchen dich in dieser Welt, in unserem Leben. Wende dich uns zu. Erbarme dich.“ Mit diesem Satz bekennen wir unsere Schwachheit, unsere Verletztheit, auch unsere Begrenzung. Wenn wir das am Anfang des Gottesdienstes tun, geht es nicht nur um Schuld oder gar um moralisches Fehlverhalten. Es geht um meine Bedürftigkeit vor Gott. Jesus hat einmal gesagt: Selig sind die geistlich arm sind. Die, die vor Gott ihre Armut eingestehen und sich nach ihm ausstrecken. Die wissen, dass sie letztlich mit leeren Händen vor Gott stehen. Ich weiß nicht, wie leicht Ihnen dieser Gedanke fällt. Es gibt ja Menschen, die mögen Bedürftigkeit überhaupt nicht. Vor Menschen wollen sie sie nicht eingestehen. Aber vor Gott vielleicht noch viel weniger. Aber ehrlich gesagt, je länger ich lebe, desto mehr spüre ich, wie bedürftig ich bin vor Gott. Wie sehr ich mehr Vertrauen brauche, mehr Mut, mehr Weisheit, Geduld, Güte, Vergebung. Je älter und weiser die Philosophen werden, desto mehr können sie den Satz verstehen, der von Sokrates kommt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Und je länger wir als Glaubende leben, je länger wir mit diesem Jesus unterwegs sind, desto mehr verstehen wir, wie sehr wir diesen Satz brauchen: „Erbarme dich Herr.“ Wir klauen uns diesen Satz von dem blinden Bartimäus und machen ihn zu unserem Satz. In jedem Gottesdienst. Und wir lassen uns nicht abhalten von den anderen, die das vielleicht stört. Die anderen, die meinen, damit mache man sich doch klein, die Religion sei etwas für Schwächlinge, für Menschen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Aber dieser Satz macht uns nicht klein, wir machen uns nicht schlecht. Wir sehen nur unser Leben und diese Welt an und sagen: Wir brauchen mehr von Gottes Gegenwart in unserem Leben, in dieser Welt. Wir brauchen mehr Mut und Klarheit und Liebe in all dem, was uns umgibt. In der Familie, im Beruf, in der Nachbarschaft, in der Politik. Erbarme dich. Lassen wir uns nicht abhalten. Was soll ich für dich tun? Endlich steht Bartimäus vor Jesus. Er sieht ihn nicht, aber er spürt es. Und Jesus fragt: „Was soll ich für dich tun?“ Man könnte ja meinen, dass es selbstverständlich ist. Warum muss Jesus denn noch fragen? Man sieht doch, was das Problem ist, oder nicht? Die Krankheit, die Behinderung, die Schmerzen, die Arbeitslosigkeit. Aber die Frage ist nicht unwichtig und sie hilft uns zur Klärung, denn manchmal ist die tiefere Not gar nicht dort, wo sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Was willst Du, dass ich für dich tun soll? Das ist die Frage, mit der wir heute Morgen da sitzen. Wir sind gefragt, Sie sind gefragt! Was wünschen Sie sich von Gott? Vielleicht sitzen ja manche Kandidaten für die Kirchenvorstandswahl hier und die Antwort auf die Frage ist klar: „Bitte lass mich gewählt werden!“ Und andere sitzen da und sagen: „Bitte lass mich nicht gewählt werden!“ Was willst du, dass ich für dich tun soll? Gottesdienst heißt auch – Gott dient uns. Beides steckt in diesem Wort drin. Wir dienen Gott, wir loben ihn und geben ihm die Ehre. Aber auch: Gott dient uns, er kommt uns nah, im Brot und im Wein, in seinem Wort. Und er fragt jeden von uns: „Was willst du, dass ich für dich tun soll? Welche Frage bringst Du mit? Welche Sorge hast Du? Wenn wir nachher miteinander beten, dann leihen wir uns diesen Ruf von Bartimäus noch einmal: Eleison, erbarme dich. Und vielleicht sehen wir die Not in unserem Leben gar nicht als so groß. Wenn das so ist, dann können wir den Mund aufmachen für die anderen, die in Not sind, die am Rand sitzen und deren Stimme niemand hört. Dann können wir denen eine Stimme geben, die im Meer ertrinken, weil sie eine Zukunft in Europa erhoffen. Dann können wir rufen für die anderen, die einen Menschen verloren haben, der ihnen sehr nahe stand. Für den Nachbarn, der um seine Ehe kämpft. Für den Freund, der auf der Arbeit zwischen die Räder gekommen ist. Wo ist der Glaube? Jesus sagt: „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ Viele Ausleger sagen, dass dies eine Geschichte über den großen Glauben des Blinden ist. Aber wo ist dieser große Glaube eigentlich? Nun gut, er schreit nach Jesus und lässt sich auch von den anderen nicht abhalten. Aber ist der Ruf allein schon Glaube? Ein Blinder, der ins Dunkle hinein brüllt. Er hat keinen klaren Adressaten vor Augen, er ruft einfach hinein in die Menge, er brüllt es in den Himmel, in der Hoffnung, dass ihn da jemand hört. So geht es manchen, die beten, ohne sicher zu sein, dass Sie gehört werden. Er hat gehört, dass dieser Jesus etwas Besonderes ist. Und das immerhin sagt er: „Sohn Davids“. Mit anderen Worten: „Wer auch immer Du bist, du kommst von Gott. Hilf mir.“ Aber ein richtiges Glaubensbekenntnis ist das doch nicht. Da fehlt die Präambel, die Dreieinigkeit, die Jungfrauengeburt, die Bedeutung des Kreuzestodes. Einfach nur: „Sohn Davids, erbarme dich.“ Aber das ist der Glaube, den Jesus sucht. Der reicht. Diesen Glauben bringt Bartimäus mit. Er macht sich auf den Weg, er lässt seinen Mantel liegen. Das ist eigentlich das Wichtigste, das er hat. Der Mantel eines Blinden durfte nicht gepfändet werden. Er war lebenswichtig, weil er ihn nachts vor der Kälte schützte. Aber Bartimäus lässt ihn zurück. Rufen und Aufstehen – das ist der Glaube, den Jesus sieht. Und der reicht. Dein Glaube hat dir geholfen. Und am Ende folgt er Jesus nach. Er geht mit Jesus mit. Warum nur? Weil er nichts mit sich anzufangen weiß? Oder aus Dankbarkeit? Oder weil er spürt, bei diesem Jesus gibt es noch mehr als nur das Augenlicht. Weil er merkt, sehen können ist gut, aber der Weg geht weiter, die Perspektive ist größer. Es ist ein neuer Weg, ein neuer Blick auf das Leben. Vieles ist ungewiss, Bartimäus weiß nur, er will den Weg mit Jesus gehen. Alles andere wird sich schon fügen. AMEN
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