Vertrauen

Vertrauen
Wolfgang Wieland – 2. Advent 2015
Ohne Vertrauen können wir nicht leben. Wir sind in unserem Alltag mehr auf Vertrauen angewiesen als wir vielleicht denken. Ich gehe bei stürmischen Wetter
aus dem Haus, im Vertrauen, dass mir kein Dachziegel auf den Kopf fällt. Ich
vertraue darauf, dass der Bus ohne Unfall zum Ziel kommt und dass der Aufzug
nicht stecken bleibt. Ich vertraue mich dem Arzt oder den Behandlungsmethoden
eines Krankenhauses an. Natürlich ist hier immer auch etwas Misstrauen im
Spiel. Wir wollen uns möglichst gut absichern. Aber das gelingt nur in geringem
Maße. Ohne Vertrauen geht es nicht.
Grundvertrauen - Gottvertrauen
Als Kinder wird es uns von unseren Eltern geschenkt. Die Mutter ist die erste, die
dem Kind Vertrauen vermittelt. Sie gibt ihm das Gefühl, dass es willkommen ist
auf dieser Erde, bedingungslos angenommen. Das Kind fühlt sich getragen und
geborgen. Das gibt ihm Vertrauen. Die Erfahrung der bergenden Mutter überträgt
das Kind irgendwann auf Gott. Auch wenn die Mutter nicht da ist, weiß sich das
Kind geborgen. Es ist nicht allein. Gott ist da. Das gibt ihm Vertrauen, ins Leben
und in die Menschen.
Der Vater vermittelt dem Kind ebenfalls Vertrauen. Es ist weniger das Vertrauen
mütterlicher Geborgenheit als ein Vertrauen ins Wagnis. Der Vater stärkt dem
Kind den Rücken, damit es die Kraft findet, in die Welt hinaus zu gehen, weg zu
gehen von den Eltern und das eigene Leben zu riskieren. Auch diese Vatererfahrung prägt dann das Gottesbild: Voll Vertrauen wagt das Menschenkind, seinen
Weg zu gehen, und sei es über Umwege und Niederlagen, denn Gott geht mit.
Beide Arten von Vertrauen brauchen wir. Wir sehnen uns ab und zu danach, uns
fallen zu lassen, um zu spüren, dass wir getragen sind. Wir erfahren das z.B.,
wenn wir uns auf die Wiese legen und alles um uns vergessen. Oder wenn uns
der dunkle Raum einer romanischen Kirche wie in einem Mutterschoß birgt und
so die Nähe Gottes erfahren lässt. Dann wächst auch wieder das väterliche Vertrauen, das Vertrauen, in eine noch unvertraute Zukunft aufbrechen zu können,
sein Leben zu riskieren und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Zwei biblische Beispiele
Biblisches Beispiel für dieses Vertrauen, das Neues wagt, ist Abraham. Er verlässt seine Heimat und sein ganzes bisheriges Leben und macht sich auf in eine
noch unbekannte Zukunft. Er verlässt das Vertraute und geht ins Offene, ohne
Sicherheiten. Er überwindet die Angst davor und vertraut dem noch unbekannten
Land.
Uns geht es im Leben immer wieder so wie Abraham. Denn wir gehen in die Zu1
kunft, ohne zu wissen, was sie bringt. Wir können das nur, weil wir bewusst oder
unbewusst darauf vertrauen, dass es ein Weg ins Leben ist. In schwierigen Lebenssituationen ist dieses Vertrauen in besonderer Weise gefragt: Bei einem
Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, der Angst macht, die plötzliche Erfahrung eines von Krankheit, Schwäche und Zerbrechlichkeit bedrohten Lebens,
das plötzliche Alleinsein nach dem Weggang der Kinder oder dem Tod des Partners. Hat neben der Angst in uns dann das Vertrauen genügend Kraft? Oder die
vielen Flüchtlinge, die vor Krieg und Zerstörung fliehen, können sie ihre Lebensangst überwinden und neu Vertrauen gewinnen? Können, wollen wir ihnen durch
unser Vertrauen dabei helfen? Oder begegnen wir ihnen mit Misstrauen? Wenn
wir nur misstrauisch sind und Angst haben, entschwindet uns das Leben. Das
Vertrauen aber öffnet sich einer neuen Zukunft und entdeckt durch alle Brüche,
Unsicherheiten und Ängste hindurch neue Lebensmöglichkeiten, die es ohne
dieses Vertrauen nicht gäbe. Es glaubt daran, dass Gott, die Fülle der Lebensmöglichkeiten, da ist und mitgeht, mit uns und mit allen Menschen.
Auch das heutige Evangelium führt uns ein Beispiel für das Wagnis des Vertrauens vor Augen, hier angesichts einer Welt, in der Recht und Gerechtigkeit mit
Füßen getreten werden. Lukas zählt die Protagonisten dieser Welt auf: Den Kaiser Tiberius in Rom, der sich als Gott verehren lässt, um so seine Macht unangreifbar zu machen; seinen Statthalter Pontius Pilatus, ein skrupelloser Judenhasser, der tausende von Juden in Jerusalem niedermetzeln ließ; die Söhne Herodes des Großen, die sich durch Romhörigkeit und Grausamkeit hervortun; und
die Hohenpriester Israels, die die Zukunft des Volkes nicht Gott anvertrauen,
sondern dem eigenen Machtkalkül. Ist eine solche Welt nicht zum Verzweifeln?
Ist unsere heutige Welt nicht ebenso zum Verzweifeln, wenn wir an Bürgerkriege,
Flüchtlingsströme, Selbstmordattentate, Klimakatastrophe, Wirtschaftskriminalität
oder religiös verbrämten Terror denken? Geht da nicht alles Vertrauen in eine
gute Zukunft verloren? Und da kommt Johannes der Täufer, ruft zur Umkehr auf,
aus der Welt des Kaisers und des Pontius Pilatus heraus in eine neue Zukunft
Gottes: Er sagt, alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.
Können wir dieser Verheißung vertrauen? Ist unser Grundvertrauen so stark,
dass wir Resignation und Angst überwinden und Schritte wagen in diese verheißene Zukunft? Voll Vertrauen, dass alle Menschen Gott am Herzen liegen?
Wenn nur Zweifel, Misstrauen und Angst in uns wären, wäre die Welt für uns ein
verschlossener Raum ohne Fenster. In der Tiefe unserer Seele aber, dort, wo
Gott in uns wohnt, wartet gegen alle Angst ein erlösendes Vertrauen auf uns. Es
ist wichtig, immer wieder Kontakt zu diesem Vertrauen zu bekommen, damit ich
meine begrenzte Sicht der Dinge loslassen und in Gottes offene Zukunft gehen
kann. Mir hilft dabei, Gott meine Angst, meine Zweifel, meine Ohnmacht, mein
Nichtwissen, meine Verzagtheit wie in den Psalmen zu klagen: „Aus der Tiefe ru-
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fe ich, Gott, zu dir“. Das lässt das Vertrauen wieder wachsen und mein Herz weiter werden.
Bewährung im zwischenmenschlichen Vertrauen
Das große Vertrauen, von dem bisher die Rede war, bewährt sich in dem Vertrauen, das wir einander im Alltag schenken und bezieht von dort auch immer
wieder neue Kraft. Wer dem Leben misstraut, begegnet auch Menschen misstrauisch. Nichts schwächt und zerstört aber einen Menschen so sehr wie ihm
entgegengebrachtes Misstrauen. Er verliert alle Lebensfreude und Lebendigkeit.
Und nichts stärkt einen Menschen so sehr wie das Vertrauen, das man ihm
schenkt. Wir sagen, dass wir jemandem Vertrauen schenken. Das Vertrauen ist
also ein Geschenk, nicht durch vertrauenswürdige Vorweg-Leistungen abgesichert. Wenn ich mir jemandes Vertrauen erst verdienen müsste, geschähe das
unter dem Druck lähmenden Misstrauens. Ich stünde unter Zwang und wäre geplagt von der Angst des Ungenügens. Wo mir aber Vertrauen gratis geschenkt
wird, atme ich auf, werde ich frei und entwicklungsfähig. Je mehr Vertrauen einem Menschen geschenkt wird, umso größer ist seine Handlungsfreiheit. Umso
kreativer kann er werden. Umso besser kann er seine Fähigkeiten entdecken
und entfalten. Umso vertrauensvoller kann er sich den Überraschungen des Lebens und der Zukunft öffnen.
Wenn die Eltern ihr Kind nicht mit dem Auto zur Schule fahren, sondern ihm zutrauen, den Weg allein zu Fuß zu gehen, dann gewinnt das Kind Selbstvertrauen, es getraut sich etwas, es entdeckt seine Möglichkeiten. Wenn Eltern ihre
Kinder nicht überbehüten, sondern und sie vertrauensvoll freigeben für eigene
Erfahrungen, werden sie stark und fähig, dem Leben und anderen Menschen zu
vertrauen und die Zukunft zu wagen. Wenn sie dagegen ihren Kindern misstrauen und sie deshalb unter Kontrolle halten, machen sie sie klein und lebensuntüchtig. Wenn wir als Kirchengemeinde Menschen, die nicht unbedingt zu uns
gehören, mit wenig Wohlwollen begegnen, werden sie uns fremd und distanziert
bleiben. Wenn wir aber darauf vertrauen, dass Gott auch in ihnen verborgen da
ist, er in ihnen wirkt und uns durch sie Wichtiges zu sagen hat, weitet sich das
Leben und Neues wird möglich.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?
Wo Menschen das Risiko des Vertrauens nicht auf sich nehmen, sondern auf
Nummer sicher gehen wollen, fangen sie an, alles zu kontrollieren. „Vertrauen ist
gut, Kontrolle ist besser“, heißt es dann. Das aber bewirkt Lähmung und Unlust.
Wenn z. B. Pfarrer Stehle mir sagen würde, er wolle meine Predigt, bevor ich sie
halte, auf Korrektheit überprüfen, dann würde ich die Lust am Predigen verlieren.
Ich würde denken: Dann soll er es doch gleich selber machen. Und die Beziehung
zwischen uns wäre empfindlich gestört. Gott sei Dank ist es bei uns aber nicht so.
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Wie tödlich es ist, wenn Vertrauen durch Kontrolle ersetzt wird, konnte man am
Kontrollwahn der DDR oder der Sowjetunion erfahren. Stasi-Akten und KremlGeheimprotokolle offenbaren, in welch absurdem Ausmaß alle allen misstrauten, alle alles überwachten und wie die Kontrolleure sich am Ende selber kontrollierten.
Der dramatische Kollaps dieser Regime zeigt, wie zerstörerisch die KontrollManie sich auf menschliche Gemeinschaften auswirkt. Sie tötet die kreative Lebenslust der Menschen und zerstört die Zukunft, die doch von Überraschungen
lebt, die sich der Kontrolle entziehen.
Kontrolle ist ein Zeichen von Schwäche. Vertrauen dagegen ist ein Zeichen der
Stärke. Auch in unserer Kirche hat man lange und bis heute auf Kontrolle gesetzt. Warum z. B. vertraut die Kirchenleitung in Rom bisher nicht darauf, dass
die Ortskirchen den für sie richtigen Bischof selber finden? Warum die Angst,
ohne das obrigkeitliche, undurchsichtige Verfahren würde das Ganze schief gehen? Wenn man hier durch Kontrolle alles in den Griff bekommen will, löscht
man den Geist Gottes aus. Papst Franziskus will da etwas ändern. Nicht alles
soll von Rom aus geregelt und kontrolliert werden. Er traut den Ortskirchen, ihren
Bischöfen und den Gemeinden zu, dass sie pastorale Probleme selbstverantwortlich lösen können. Er traut dem Geist Gottes etwas zu. Dem Geist, der weht,
wo er will.
Vertrauen in die Weite und Treue Gottes
Dass das Risiken in sich birgt, ist klar. Aber ohne dieses Risiko geht es nicht,
weil Leben ohne Vertrauen nicht geht. Auch Gott geht dieses Risiko ein. Er
schickt uns und unsere Kirche auf den Weg und verzichtet darauf, durch irgendwelche Kontrollmaßnahmen abzusichern, dass wir einen ganz bestimmten Weg
gehen. Voll Vertrauen entlässt er uns in die Freiheit. Denken wir an das Gleichnis
vom Vater der beiden Söhne: Der Jüngere verlangt sein Erbteil und will in der
Welt sein Glück versuchen: Der Vater lässt ihn ohne Vorwürfe ziehen. Er vertraut
darauf, dass sein Sohn seinen Weg, auch über Umwege und schmerzliche Niederlagen, finden wird. Er bleibt ihm mit seinem Vertrauen nah und in Treue verbunden. Und als der Sohn am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist, erinnert
er sich an das Vertrauen des Vaters. Dieses Vertrauen gibt ihm neues Zutrauen
und ermöglicht ihm einen Neuanfang.
Von diesem Vertrauen sollen wir uns anstecken lassen im Umgang miteinander.
Dieses Vertrauen sollen wir auch Menschen gegenüber aufbringen, die Wege
gehen, die nicht die unseren sind. Es gibt viele Wege. Nicht wir, unsere Urteile
oder unsere begrenzten Sichtweisen sind das alles bestimmende Maß, sondern
die die Weite und Treue Gottes, der wir vertrauen dürfen.
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Fürbitten
Gott, vertrauensvoll wollen wir dir unser Herz öffnen und vor dich unsere Bitten
tragen:
Herr erbarme dich
Für unsere Kirchengemeinde:
Dass sie ein Ort des Vertrauens sei und wir in unseren gottesdienstlichen Feiern
den Grund allen Vertrauens erfahren können, dich, Gott, der du uns mütterlich
birgst und väterlich den Rücken stärkt zum Aufbruch ins Leben.
Herr erbarme dich
Für uns selbst:
Dass wir einander Vertrauen schenken, weil wir deinem verborgenen Wirken,
Gott des Lebens, in jedem von uns etwas zutrauen,
und dass wir einander beistehen, wo durch persönliches Leid oder verletztes
Vertrauen das Vertrauen ins Leben verlorengegangen ist und sich Misstrauen
ausbreitet.
Herr erbarme dich
Für die Menschen unserer Stadt mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenswegen
und auch die vielen Fremden und Flüchtlinge, die zu uns kommen:
Dass sie unsere Kirchengemeinde als Ort des Vertrauens erfahren, weil wir sie
ohne Vorurteile wahrnehmen und offen sind für das, was du, Gott, uns durch und
ihre Lebenswirklichkeit sagen willst.
Herr erbarme dich
Für alle Menschen, die von Angst und Misstrauen beherrscht sind,
die in ihrem Leben nie das Grundvertrauen erfahren haben, ohne das menschliches Leben nicht möglich ist, die unter dem Misstrauen anderer Menschen leiden und alle Lebensfreude verloren haben:
Dass das tief in ihnen schlummernde Vertrauen nicht ganz verschüttet ist, sondern neu erwacht, weil Du, Gott, selbst in ihrer Seele wohnst.
Herr erbarme dich
Du Gott bist treu. Wir vertrauen Deiner Zukunft und den neuen Wegen, auf die
du uns führen willst.
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