1 Ich bin so müde Fiktiver Bericht einer Tumorpatientin Mein Arzt ist sichtlich erleichtert, dass seine Therapien so gut angeschlagen haben. Natürlich, auch ich bin glücklich, befreit von der unsäglichen Panik, dass ich Metastasen haben könnte. Ein Jahr jetzt ist es her, dass wir den Kampf aufgenommen haben. Zunächst nur mit komplementärmedizinischen Mitteln, dann aber doch auch mit Chemotherapie. Seither baue ich intensiv mein Immunsystem wieder auf: Ozontherapie, Pflanzenextrakte, Eigenblut und Sauerstoff. Ich hoffe und bete, dass es so gut weitergeht. Ich habe genug Frauen in meinem Alter in dieser und anderen Kliniken gesehen, die sichtbar weniger erfolgreich diesen anstrengenden Kampf meistern. Und doch, ich kann mich oft gar nicht freuen. Ich verspüre vielmehr trotz aller Vitamininfusionen und Enzymeinnahmen permanent eine bleierne Müdigkeit. Es ist, als wenn ich jeden Tag einen Marathonlauf absolvieren müsste. Dabei tue ich so gut wie nichts, ausser eben das Nötigste im Haushalt zu erledigen. Ich schäme mich mir und anderen das zuzugeben, weil ich denke, ich sei undankbar, aber ich fühle mich oft „sackdepressiv“, habe auf nichts Lust und fühle mich von allem und jedem genervt. Man sagt mir zwar überall, dass das ganz normal sei nach einer Krebstherapie, so wie ich sie durchgemacht habe, aber ich kann dieses Ausmass an Erschöpfung und Missgelauntheit nicht verstehen. Eine Mitpatientin sagte mir einmal, dass dies für sie wie ein riesiger Schatten sei, der ihr anhafte, sich immer wieder über sie lege und zu Boden drücke. Ja, so erlebe ich das auch. Es ist wie ein böser Geist, der – als sei das, was man durchgemacht hat noch nicht genug – uns verfolgt wie ein unerbittlicher Racheengel. 2 Ich wollte mich damit nicht abfinden, wollte wieder normal leben mit meiner Familie, Ausflüge machen, ins Kino gehen, Wandern und vor allem Tanzen. Aber je mehr ich mich anstrengte wieder in diese Normalität zu kommen, umso erschöpfter wurde ich. Ich solle mich entspannen, viel mehr Ruhepausen einlegen hiess es vom Psychologen. Ich versuchte es, aber nach so langer Zeit, in der das Kranksein immer im Vordergrund stand und ich ausser Hinlegen, Warten und zu Arztterminen zu gehen nichts tun konnte, drängt es in mir danach, endlich wieder aktiv an der Fülle des Lebens teilzuhaben und nicht weiter herumzuliegen. In meiner Ratlosigkeit und auch um der nervigen Langeweile zu entgehen, habe ich begonnen nachzuforschen, und zu fragen, was Fachleute zu meiner Ohnmachtssituation zu sagen haben und zwar mehr, als dass das ganz normal sei und ich Geduld haben solle. Ich begann aktuelle Fachartikel zu suchen und musste feststellen, dass es herzlich wenig gab. Aber immerhin, es scheint, dass man diesen „Schatten der Tumorerkrankung“, den man in der Fachsprache Fatigue oder tumorbedingte Müdigkeit nennt, zunehmend mehr Beachtung schenkt: So schreibt zum Beispiel ein Psychoonkologe, dass Fatigue im Kontext einer Krebserkrankung ein noch zu wenig bekanntes Syndrom sei und zugleich aber ein Phänomen darstelle, das erhebliche somato-psycho-soziale Auswirkungen und Probleme nach sich ziehe. Ich habe das und was er weiterhin ausführte so verstanden, dass wir, nämlich ich und mein familiäres Umfeld - auch nach dem glücklichen Überleben der Krankheit - auf allen Ebenen unseres Daseins mit langfristigen die Lebensqualität einschränkenden Folgen zu rechnen habe. Ich fragte von nun an direkter und die „Warum-Frage“ solange stellend, bis ich ganz zufriedenstellende Antworten erhielt. Vom mich begleitenden und mir vertrauten Onkologen erhielt ich in darauffolgenden Gesprächen viele hilfreiche wie leider auch ernüchternde Informationen. Offenbar ist zunächst diese Art der Müdigkeit wie prinzipiell auch jede andere Form von Müdigkeit ein schützendes Regulativ, das im gesunden Organismus auf körperliche, geistige und seelische Anstrengungen antwortet. Gleichwohl treffe dies für die tumorbedingte Fatigue nur bedingt zu, denn sie unterscheide sich in zwei wesentlichen Punkte von „normaler“ Erschöpfung: 3 Einmal bringe Schlaf dem Fatigue-Patienten keine Erholung und die tumorbedingte Fatigue könne zum anderen zeitlich so versetzt zur Krebserkrankung auftreten, dass diese nicht mehr als Auslöser erkannt werde. Daraus ergeben sich leider immer noch häufig für die Patienten, die Behandler und das soziale Umfeld vielfach hartnäckige Vorurteile, die die überwiegende Zahl der betroffenen Patienten, welche sich ja in rein schulmedizinischen Kontexten betreuen lassen, schweigen lasse und in eine Spirale aus Isolation und Depression bringe. Mir wird deutlich, dass allein schon um uns Patienten zu entlasten, offenbar noch bei vielen Betroffenen, bei Patienten und Angehörigen sowie Ärzten, Physiotherapeuten und Pflegekräften Aufklärungsarbeit geleistet werden muss. Und offenbar ist die tumorbedingte Fatigue kein einfach zu erklärendes Symptom sondern ein – wie es in der Fachsprache heisst – multifaktorielles Geschehen, dass interdisziplinär beachtet werden müsse. So erfahre ich, dass neben dem Ausschluss einer behandlungsbedürftigen Anämie auch Elektrolyte, Hormonspiegel und Stoffwechselparameter überprüft werden müssen. Einen besonderen Stellenwert nehmen die emotionalen und psychischen Auslöser der tumorbedingten Fatigue ein, da sie als gegenseitige Verstärker, also als Ursache und Folge zugleich auftreten. So sehr Schlafstörungen, Angst und Depression zu tumorbedingter Fatigue führen können, so sehr verursacht das Phänomen Fatigue in seiner Unbeschreiblichkeit und Unbekanntheit auch Angst, Panik und Depressionen. Schwierig sei dabei zu unterscheiden, ob es sich z.B. um depressive Verstimmtheiten als Teilphänomen der Fatigue handelt oder ob gar eine Depression oder eine depressive Krankheitsverarbeitung vorliegt. Offenbar gibt es da fliessende Übergänge und es bedarf einer genauen Beobachtung. Die notwendigen therapeutischen Massnahmen wären je nachdem nämlich recht unterschiedlich. So würden vornehmlich körperlich erlebte Erschöpfung und Schwäche trotz ausreichenden Schlafes eher für das Fatigue-Syndrom sprechen, wo hingegen sich beim Vorliegen von Depressionen aus der Zeit vor der Tumorerkrankung, bei ausgeprägter tageszeitlichen Antriebslosigkeit, fehlender Stimmungsschwankungen, Motivation, beim Auftreten Schlaflosigkeit, von häufigen Schuldgefühlen oder gar von Suizidgedanken die Hinweise auf das Vorliegen einer Depression mehren. 4 Ich selber war mir in den Gesprächen über das Fatigue-Phänomen teilweise recht unsicher geworden. Denn ich war vor meiner Erkrankung ein optimistischer, dynamischer gar nicht depressiver Typ gewesen. Doch kannte ich all die eben beschriebenen Symptome nur zu gut und auch der Gedanken an einen Freitod hatte sich ab und an in besonders verzweifelten Momenten meiner Behandlung in mein Hirn geschlichen. Das hängt für meine Person auch sehr mit meinem erschütterten Selbstwertgefühl zusammen, an dem ich – genauso wie wohl viele andere Betroffene - sehr zu nagen habe. So gerne würde ich nach so langer Zeit der Untätigkeit wenigstens teilzeitweise wieder in meinen geliebten Beruf einsteigen. Mir fehlen die KollegInnen und sogar der nervige Chef. Mir fehlt die kreative Herausforderung, die abwechslungsreiche Tagesstruktur, der Galgenhumor in schwierigen Momenten und eben die Bestätigung, die für mein Selbstwertgefühl wichtig ist. Aber ich schaffe das zur Zeit energiemässig noch absolut nicht, nicht einmal für 20%. Neben der daraus resultierenden unzufriedenen Stimmung und der Scham, nichts Besonderes mehr zu leisten, führt natürlich genau diese Enttäuschung zu weiterer emotionaler Erschöpfung. In diesem Kontext las ich, dass es oft genug bei unbehandelter Chronifizierung der Fatigue zu langfristiger Arbeitsunfähigkeit mit Frühberentung oder in die Sozialhilfe führen kann. Das bedeutet im Extremfall ja eine zweite existentielle Bedrohung, dieses Mal finanzieller Art, nachdem die existentiell bedrohliche Erkrankung überstanden wurde. Mut machen mir hingegen Schilderungen, dass bei adäquater Behandlung der Fatigue und bei einem frühen Erkennen und Durchbrechen dieses Negativzirkels, es meist zur Minderung der existentiellen Ängste, der depressiven Phasen und allmählich eine umfassende Steigerung der Lebensqualität zu erwarten ist. Mich hat dann besonders interessiert, was ich selber konkret tun kann, welche therapeutischen Massnahmen für mich wichtig sind, um die Fatigue-Symptome zu reduzieren. Zuallererst ist offenbar von zentraler Bedeutung, dass wir Betroffenen diese massive Müdigkeit ohne wenn und aber als krankheits- und therapiegedingt akzeptieren. Das sei notwendig, um nicht permanent gekränkt zu sein, Schuldgefühle zu entwickeln oder sich gegenüber der arbeitenden Bevölkerung zu schämen. Ich weiss selber nur zu gut, dass dies extrem viel 5 Energie kostet, die ich viel besser dafür nütze, eine ganz auf mich, meine Möglichkeiten und Grenzen zugeschnittene Bewältigungsstrategie zu entwickeln. Ich habe mir für mich aus all den Erfahrungswerten und Ideen folgende Anregungen zusammengestellt: Ich führe regelmässig einen Fatiguekalender, der mir die Möglichkeit bietet, meine tageszeitlichen Energiekurven kennen zu lernen und zu nutzen. Ich erkannte so recht schnell die Notwendigkeit, meinen normalen Tagesablauf aus der Zeit vor der Erkrankung neu zu strukturieren, mir einen neuen für die jetzige Lebenssituation stimmigeren Rhythmus im Alltag zu organisieren. Die für mich besonders energieraubenden Tätigkeiten wie Putzen oder Bettenbeziehen verlege ich jetzt in die energetischen Hochphasen am Tag und achte darauf, dass ich sie immer selbstverständlicher mit Ruhephasen oder Energiespendern wie Entspannungstechniken, Imaginationsübungen, Meditationen oder auch gemütlichem Teetrinken mit FreundInnen usw. abwechsle. Deutlicher als mir lieb war, ist mir in meiner Psychotherapie - die ich als eine Art Coaching für einen heilsamen Umgang mit meiner Erkrankung und deren Langzeitfolgen erlebe - bewusst geworden, dass ich auf für mich eher ungesunde Weise leistungsorientiert und ehrgeizig bin. Auch bin ich recht pedantisch und in gewisser Weise ein Putzteufel. Daher war die Arbeit daran, Tätigkeiten im Haushalt zumindest vorübergehend delegieren zu können, für mich am schwierigsten. Ein dosiertes, langsam steigerndes körperliches Training sei auf der anderen Seite ebenfalls unerlässlich. Ob ich in eine der empfohlenen Selbsthilfegruppe gehen werde, weiss ich noch nicht. Da ich über ein gutes, mich in meiner aktuellen Lebenssituation tragendes soziales Netzwerk verfüge, bin ich nicht in Gefahr, krankheitsbedingt isoliert zu werden. Schlussendlich braucht es bei alldem dann doch viel Geduld und den sog. langen Atem. Das mit der „Gelassenheit anstatt sich ewig zusammenzureissen“ ist halt alles andere als leicht zu erreichen. Die alten Muster sitzen tief… So, jetzt bin ich recht erschöpft, mein Ergeiz hat mich wieder einmal verführt. Ich werde daher jetzt meine Lieblingsmusik auflegen, mich dazu auf den flauschigen 6 Teppich legen, ein paar mich entspannende Atemübungen machen oder einfach einschlafen. Eingesehene Literatur - Curt GA, Breitbart W, Cella D, Groopman JE, Horning SJ, Itri LM, Johnson DH, Miaskowski C, Scherr SL, Portenoy RK, Vogelzang NJ (2000). Impact of cancer-related fatigue on the lives of Patients: new findings from the Fatigue Coalition. Oncologist; 5 (5): 353-360 - Dimeo FC (2001). Effects of exercise on cancer–related fatigue. Cancer 92 (Suppl 6). - Stone P, Richardson A, Ream E, Smith AG, Kerr DJ, Kearney N (2000). Cancer related fatigue: inevitable, unimportant and untreatable? Results of a centre ptient survey. Cancer Fatigue Forum. Ann of Oncol 11 (8): 971-975 - Tchekmedyian NS, Kallich J, McDermott A, Fayers P, Erder MH (2003). The relationship between psychologic distress and cancer-related fatigue. Cancer, Vol. 98(1), pp. 198-203. - Vogelzang NJ, Breitbart W, Cella D, Curt GA, Groopmann JE, Horning SJ, Itri LM, Johnson DH, Scherr SL, Portenoy RK (1997). Patient, caregiver and oncologist perceptions of cancer-related fatigue: tripart assessment survey. The Fatigue Coalition. Semin Hematol 34, (3 Suppl 2): 4-12 M.Witzel Febr. 08
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