"Das Gesetz des Glaubens: ein Ruf in die Freiheit"

Annette Schavan
Das Gesetz des Glaubens: ein Ruf in die Freiheit
Predigt in der evangelisch-lutherischen Christusgemeinde in Rom am 1. November
2015
Röm. 3,21-28 und Mt. 5,1 - 10
Die Schrifttexte des Tages führen uns in das Zentrum der Lehre Jesu. Sie handeln
vom Gesetz des Glaubens. Paulus schreibt den Römern, dass „allein durch den
Glauben“ der Mensch gerecht werde. Die Gebote zu halten, gerechte Werke zu tun
und sich ihrer zu rühmen – das ist nicht gemeint. Gemeint ist, woran wir uns
gebunden fühlen und wovon wir uns provozieren lassen.
Die Bergpredigt ist so ein Text, der uns provoziert. Sie gilt als das Grundgesetz
unseres Glaubens. Die Seligpreisungen sind gleichsam die Ouvertüre der
Bergpredigt. Karl Barth hat sie genannt: „Das Paradox, das den geläufigen
Schätzungen von Wohlsein und Glück in einem Winkel von 180 Grad gegenüber
steht.“
Selig, die geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. – Damit beginnt der
Text der Seligpreisungen. Im Alten Testament waren die Armen zunächst wenig
geachtet. Besitz und Reichtum galten als Zeichen für Gottes Segen. Diese
Sichtweise ändert sich im babylonischen Exil und mit der Verheißung, er werde
gesandt, „um den Armen Frohe Botschaft zu bringen“.
Was ist gemeint?
Der Arme rühmt sich seiner Armut nicht, er deutet sie ebenso wenig als Konsequenz
einer Vernachlässigung durch Gott. Er ist nicht arm, weil Gott sich nicht kümmert. Er
deutet sein Leben als Freiheit von landläufig und vordergründig verstandenem
Wohlsein durch irdischen Besitz. Die Hoffnung ist sein größter Besitz. Er weiß, dass
nicht der stark vor Gott ist, der ihn nicht braucht und die Sache mit Gott selbst in die
Hand nimmt. Die „geistliche Seite“ seiner Armut ist seine geringe Stellung in der
Gesellschaft, die er überträgt auf sein Verhältnis zu Gott. So, wie Martin Luther auf
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dem Sterbebett gesagt hat: „Wir sind Bettler!“ Das will auch heißen: Wir widerstehen
der Anmaßung, die aus irdischem Erfolgen und Bilanzen erwächst.
Irdischer Erfolg betrifft nicht allein den materiellen Besitz. Von der Armut im Geiste
spricht wohl auch deshalb der Text.
Sie meint keinen Mangel an intellektuellen Fähigkeiten. Sie betrifft unsere Haltung,
unser Selbstverständnis und eben die Frage, woran wir uns binden und worum wir
uns sorgen. Jenseits von materiellem Reichtum werden jene selig genannt, die eine
innere Haltung der Gelassenheit und Unabhängigkeit von irdischen Leistungen und
Erfolgen einnehmen. Daraus entsteht die Freiheit zu jener Beziehung, die Gott uns
eröffnet. Er ist es, der auf uns zukommt. Er ist es, der uns neues Leben schenkt,
wenn wir uns frei machen vom alten Leben und von den Kategorien irdischer
Glückseligkeit. Dietrich Bonhoeffer sagt über die geistlich Armen: „Sie haben nur ihn.
Ja, und mit ihm haben Sie in der Welt nichts, gar nichts, aber alles, alles bei Gott.“
Eine solche Haltung steht quer zu einem Selbstverständnis, das glaubt, aus
menschlicher Kraft das Himmelreich erreichen zu können oder gar schaffen zu
sollen. Nie sind Katastrophen größer gewesen als dann, wenn Menschen glaubten,
das Himmelreich auf Erden schaffen zu können. Diese Seligpreisung ist also auch
eine Warnung. Martin Luther formuliert es im kleinen Katechismus so: „Wir sollen
Menschen sein und nicht Gott. Das ist die Summe.“
Am Beginn der Bergpredigt als dem Grundgesetz unseres Glaubens steht die
Aufforderung, uns von den eigenen Erfolgen zu lösen und von der Anmaßung, die
aus irdischem Wohlsein erwächst. Das Gesetz des Glaubens konstituiert ein
Selbstverständnis der Christen, die sich nicht über ihre Leistungen, vielmehr aus
ihrer Beziehung und Bindung an Gott verstehen und von daher ihre Grenzen kennen.
Fünfmal habe ich in meinem Leben einen Amtseid geschworen und dabei gesagt:
„…so wahr mir Gott helfe.“ Das hat mir jedes Mal vor Augen geführt, dass ich es
eben nicht aus eigener Kraft schaffe. Es hat mir deutlich gemacht, dass ich auf seine
Hilfe angewiesen bin. Auch in der Politik entscheidet sich viel an der Frage, woraus
ich lebe, woran ich mich binde und worum ich mich sorge. Diese Erfahrung steht
nicht quer zum Leben. Sie ist eine Lebenserfahrung, auch und gerade im öffentlichen
Leben.
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Dieses Gesetz des Glaubens, das Jesus die Menschen lehrte und uns heute
ansprechen soll, ist ein Ruf in die Freiheit. Es ist gleichsam ein reformatorischer
Impuls. Er schiebt das Gesetz nicht beiseite. Das wird an späterer Stelle in der
Bergpredigt deutlich. Es geht um den Geist des Gesetzes. Im Judentum konnte die
Prophetie so stark werden, weil es immer wieder darum ging, auf den Geist zu hören.
Davon sind auch geistliche Aufbrüche in den zweitausend Jahren der Geschichte des
Christentums geprägt. Wir sollen das Gesetz verstehen, auch als das Ergebnis jener
Sorge, die Gott dem Menschen gegenüber zeigt. Er hat uns auf den Menschen
verpflichtet. Ohne ihn sind wir geneigt, uns ständig mit uns selbst und unseren
Erfolgen zu beschäftigen. Ohne ihn arbeiten wir nur an unserer eigenen
Leistungsbilanz. Ohne ihn glauben wir dann irgendwann, dass die Bilanz unserer
Werke zählt. Paulus aber schreibt, es zählt allein der Glaube. Es zählt unsere
Antwort auf die Frage, woran wir uns gebunden fühlen und worauf wir setzen. Die
geistliche Armut schenkt Freiheit und lässt neue Kräfte entstehen. Das ist konstitutiv
für das Menschenbild von Juden und Christen. Die Frage der Bindung betrifft ein
Handeln, das wir verantworten können – jenseits der Frage, ob wir im Verständnis
der Welt damit erfolgreich sind.
Von dem Theologen Johann Baptist Metz stammt die Feststellung: „Wir werden uns
um des Evangeliums und der Welt willen nicht mehr lange unsere halbseitig
gelähmten Christentümer leisten können.“ Wenn wir uns wirklich sorgen um die
Heillosigkeit in unserer Welt, um Not und Armut, um Verfolgung und Flucht von
Millionen Menschen und davon überzeugt sind, dass sich niemand so sehr sorgt wie
Gott sich um seine Welt sorgt, dann ist das unsere Sorge, die aus unserem
gemeinsamen Fundament als Christen erwächst. Dann spüren wir, wie sehr die
Solidarität der Christen heute auch ein reformatorischer Impuls für die Solidarität der
Menschheit sein kann.
Papst Johannes XXIII hat gesagt: „Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das,
was uns trennt.“ Wenn uns im Glauben und in der Sorge viel mehr verbindet als uns
trennt, dann müssen wir auch aus dieser Quelle der Gemeinsamkeit zur
Gemeinschaft finden können. Das stärkt unsere Glaubwürdigkeit und die
Überzeugungskraft des Christentums. Das lässt die Stimme der Christen in unserer
Zeit klarer werden und vielleicht auch entschlossener - wenn wir von Gott sprechen,
der uns auf den Menschen verpflichtet hat und darauf, ihre Sorgen und Nöte, ihre
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Trauer und Armut zu teilen. Uns verbindet das Gesetz des Glaubens, das Jesus uns
in der Bergpredigt lehrt. Das ist eine starke Quelle. Sie kann uns helfen, das, was
uns unterscheidet nicht als Trennung, sondern als den Ausdruck einer Vielfalt in der
Einheit begreifen zu lernen; sie zu begreifen, damit die Stimme des Christentums
neue Kraft und Ausstrahlung erhält. Papst Franziskus hat bei seinem Besuch in
Caserta von der „versöhnten Verschiedenheit“ gesprochen und uns damit ermutigt,
Vielfalt in der Einheit zu leben.
Vielleicht werden wir in Zukunft öfter gefragt werden, woran wir uns binden und
worum wir uns sorgen – von den Menschen, die aus anderen Regionen der Welt zu
uns nach Europa kommen, die vor Gewalt und Terror fliehen mussten, die um Leib
und Leben bedroht wurden. Für sie ist Europa der Kontinent der Freiheit und
Toleranz. Sie werden uns fragen, woran wir glauben und was uns heilig ist. Sie
setzen vor allem darauf, dass unser Glaube, unsere Sorge und unsere Werte sich
jetzt bewähren und sie sich auf uns verlassen können.
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“