Ein Besuch in Paul Klees Zaubergarten

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Ein Besuch in Paul Klees Zaubergarten
Das Paul Klee Zentrum in Bern zeigt im Sommer 2008 Werke von Paul Klee, die das Thema des
Gartens, der Pflanze, der Knospen, Blumen und der Frucht aufnehmen.
Verbunden damit ist Lost Paradise, im Untergeschoss. Dies ist eine Präsentation von Werken,
welche die dunkle Seite des Paradieses zeigen. Dazu kommt Jenseits von Eden, eine
Gartenschau mit vielen Kunstwerken im Freien.
Paul Klee, geboren 1879 in Münchenbuchsee, liebte die Natur. Er hatte schon als Schüler grosses
Interesse an Botanik und fertigte viele Herbarien an.
Klee lebte mit Gärten: in Bern, am Obstbergweg mit Eltern und Schwester. Dorthing kam er oft
zurück. Er liebte den Sommerurlaub am Starnberger See, die Gärten in Weimar und den
Wasserpark in Wörlitz, die Unterwassergärten auf der Insel Porquerolles.
Ein ganz wichtiger Satz von Paul Klee lautet:
Ich will nicht das Sichtbare wiedergeben, ich möchte sichtbar machen
Klee leitet aus der Beobachtung der Natur Richtlinien für seine künstlerische Arbeit ab.
Das Samenkorn ist ein höchst geladenes Kräftezentrum – es ist wie der Punkt, aus dem die
Dynamik der Linie hervorgeht, woraus die Fläche entstehen kann.
Um zu verstehen, wie Klee sah und arbeitete, ein Beispiel. Klee vergleicht1
Die Pflanze als Beispiel für die dreiteilige Ordnung des Organismus
„Aktive Kraft sei der Boden, in dem das Samenkorn aufgeht, der Beziehungskomplex: Humus,
Samenkorn, Ernährung, Wachstum, Verwurzelung…“
weiter:
„ins Licht getreten und in die freie Luft bilden sich die Atmungsorgane: ein bis zwei Blatt, und
wieder Blätter und wieder Blätter, als Resultat die Blüte, womit die Pflanze erwachsen ist“
So zeigen seine Zeichnungen, seine feinen Aquarelle gerade und gekrümmte, zarte und kräftige
Linien, Verzweigungen und Verästelungen, Gesträubtes und Eingerolltes, Gestuftes, Rhythmisches.
Wichtig: Klee bildet nicht ab. Er entwickelt parallel zur Dynamik der Natur, zu ihren Verhältnissen
und Ordnungen die Möglichkeiten der Zeichnung und der Farbe.
Klee über die Arbeit des Künstlers im Jan. 1924, vor Kunstverein Jena:
„Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen, das Gleichnis vom Baum. Der Künstler hat sich mit
dieser vielgestaltigen Welt befasst, und er hat sich, so wollen wir es annehmen, in ihr
einigermassen zurechtgefunden. … Diese Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens,
diese vielverästelte und verzweigte Ordnung, möchte ich dem Wurzelwerk des Baumes
vergleichen. Von daher strömen dem Künstler die Säfte zu. … So steht er (der Künstler) an der
Stelle des Stammes. Bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, leitet er Erschautes
weiter ins Werk. Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar
entfaltet, so geht es auch mit dem Werk.“
Klee schätzte den Vorgang des Werdens, die Bewegung des Lebens mehr als das schlussendliche
Resultat. In einem Bild sollte dessen Werden erahnbar sein: GENESIS.
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Elementare Gestaltungslehre, 1921/22
Gisèle Mengis, 6005 St. Niklausen, 2008
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Im Untergeschoss des Paul Klee Zentrums entfaltet sich im Dunkeln eine Gegenwelt, Lost
Paradise, mit Werken verschiedenster Künstler, ja sogar mit Exponaten aus dem Grenzbereich der
Kunst (aus Konzentrationslagern, aus Hiroshima z.B.). Dazwischen steht der Angelus Novus, Paul
Klees Werk von 1920. Dieses kleine, aber mächtige Werk (das Original) war anfangs Juni während
fünf Tagen in Bern zu sehen (aus dem Israel Museum in Jerusalem).
Angelus Novus: Der Engel der Geschichte
Dieses Bild löste den folgenden Text aus:
"Lost Paradise – Der Blick des Engels"
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht,
als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen,
sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so
aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor
uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und
sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das
Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt
ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm
zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Walter Benjamin2, in „Über den Begriff der Geschichte“, Frankfurt 1977, Illuminationen
Den Angelus Novus gibt es zuerst als Zeichnung (1920), dann als zartfarbige Ausführung aus dem
gleichen Jahr. Das Bild gehörte Walter Benjamin, der die Schrecken des Lebens selbst erfuhr. Auf
seiner Flucht vor den Nazis trug er das Bild mit dem Engel, aus dem Rahmen gelöst, mit sich. Kurz
bevor er verhaftet wurde, übergab er es einem Freund in Paris. Er selbst entzog sich der erneuten
Verhaftung und starb 1940 durch Suizid.
Gisèle Mengis, 2008
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1892 – 1940, deutscher Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, Schriftsteller und Literat. Für Benjamin war
Klees Werk Ausgangspunkt zu einer Beschreibung der Geschichte als einer Folge von Katastrophen. Dem
Engel ist es wegen des mächtigen Windes der Geschichte, der vom Paradies her bläst, unmöglich, den
Menschen zu helfen.
Benjamin war der erste Besitzer des Angelus Novus.
Gisèle Mengis, 6005 St. Niklausen, 2008