Die moderne Schule benötigt andere Zeitstrukturen

 Die moderne Schule benötigt andere Zeitstrukturen Argumente abgeleitet aus dem LBIHPR‐Forschungsbericht1 Die Schule beginnt um 8:00 Uhr, eine Unterrichtsstunde dauert 50 Minuten, zwischen den einzelnen Stunden gibt es Pausen von 5‐10 Minuten, und am Vormittag dauert die „große Pause“ 15 Minuten. Dies ist die traditionelle Zeitstruktur an vielen österreichischen Schulen. Vertreter/innen verschiedener wissenschaftlichen Fachrichtungen, wie der Lernpsychologie, der Hirnforschung, der Schlafforschung und der Gesundheitsförderung, empfehlen jedoch, diese Zeitstrukturen zu verändern, weil sie mehr Nach‐ als Vorteile für Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der Schüler/innen und z.T. auch der Lehrer/innen bringen. Zudem sind die neuen Unterrichtsmethoden des differenzierten Unterrichtens und individualisierten Lernens besser umsetzbar, wenn für ein Schulfach mehr Zeit am Stück als die übliche 50‐Minuten Schulstunde zur Verfügung steht. Rechtlich scheinen solche Veränderungen kein großes Problem zu sein, denn das Bundesschulzeitgesetz sowie die entsprechenden Ausführungsgesetze der Bundesländer bieten den Schulen etwas mehr Handlungsspielraum als allgemein angenommen (der LBIHPR‐Forschungsbericht enthält auch eine Aufarbeitung der diesbezüglichen rechtlichen Situation). Für das LBIHPR‐Forschungsprojekt wurden Interviews mit Schulleiter/inne/n und Lehrer/inne/n aus verschiedenen Schultypen und Bundesländern geführt (genaue Methodik siehe Forschungsbericht). Nach Analyse und Zusammenschau der Inhalte dieser Interviews sind folgende Veränderungen der schulischen Zeitstruktur zu empfehlen: Späterer Unterrichtsbeginn Der Unterricht an Schulen der Sekundarstufe II, evtl. auch schon I, sollte später beginnen, da die jugendlichen Schülerinnen und Schüler einen anderen Schlafrhythmus haben. Experimentelle Studien aus den USA haben gezeigt, dass ein späterer Unterrichtsbeginn zahlreiche Verbesserungen für die Schülerinnen und Schüler gebracht hat, und zwar hinsichtlich Schlafdauer, Laune, Tagesmüdigkeit, Motivation, Konzentrations‐ und Leistungsfähigkeit.2 Einige österreichische Schulen praktizieren dies bereits, dort beginnt der Unterricht nicht vor 8:30 Uhr. So lange dies aber nicht alle Schulen tun und sich auch die Fahrpläne des öffentlichen Verkehrs daran orientieren, empfiehlt es sich, die Schule trotzdem zur üblichen Zeit aufzusperren und eine offene Anfangsphase, die zum Spielen, Frühstücken, Fragen stellen u.Ä. genutzt werden kann, anzubieten. 1
Flaschberger, E., Grandy, S., Hofmann, F., Lehner, L., Teutsch, F., Vogl, S., Felder‐Puig, R.(2015): Die zeitliche Gestaltung des Schulalltags. Bestandsaufnahme und Empfehlungen zur Umsetzung in Österreich. Wien: LBIHPR Forschungsbericht. 2
Boergers et al. 2014 bzw. Owens et al. 2010 1 Blockung des Unterrichts Weniger Schulfächer pro Tag, dafür mehr Zeit für eine intensivere Beschäftigung mit dem Stoff – so lautet das wichtigste Argument für die Blockung von Unterrichtsstunden. Organisatorisch am einfachsten umzusetzen sind Doppelstunden. Aus der 50‐Minuten Schulstunde wird also standardmäßig eine 90‐ oder 100‐Minuten Stunde. Die Einteilung des Unterrichts in sogenannte Kurzstunden von 45 Minuten (in Deutschland) bzw. 50 Minuten (in Österreich) mit dazwischen durchschnittlich 10‐minütigen Pausen hat eine lange Tradition. Sie geht auf einen Erlass des preußischen Kultusministers August von Trott zu Solz aus dem Jahr 1911 für die Gymnasien zurück3. Später entwickelte sie sich in den Schulsystemen aller deutschsprachigen Länder zur Norm. Eine derartige Vereinheitlichung der Unterrichtsdauer ermöglichte eine Verkürzung des Unterrichtstages auf den Vormittag, was es Schüler/inne/n erleichtern sollte, auch längere Wege zwischen Wohnort und Schule täglich zurückzulegen, sodass sie nicht auf ein Internat angewiesen waren4. Im Gegensatz dazu war es in der theresianischen Gesetzgebung aus dem Jahr 1774 vorgesehen gewesen, auch den Nachmittag für den Unterricht zu nutzen5. Bis in diese Zeit lässt sich übrigens der meist übliche Unterrichtsbeginn zwischen 7 und 8 Uhr am Morgen zurückverfolgen6. Für die 90‐ (statt 100‐) Minuten Schulstunde spricht jedoch, dass die am Beginn einer Schulstunde üblichen Tätigkeiten und Verzögerungen (Anwesenheiten kontrollieren, Hausübungen einsammeln, zu spät kommende Lehrer/innen oder Schüler/innen, …) dann nur einmal anfallen und damit Zeit gespart wird. Die gewonnenen 10 Minuten an Lehrer/innen‐Arbeitszeit könnten in der Folge für andere Tätigkeiten (Teambesprechungen, Projektplanung, ...) genutzt werden. Allerdings ist durchgängiger Frontalunterricht in einer 90‐Minuten‐Schulstunde nicht möglich, da dieser die Konzentrationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler überfordern würde und auch für manche Lehrkräfte sehr anstrengend ist. Deshalb sollte eine Stundenblockung nur eingeführt werden, wenn die Lehrerinnen und Lehrer auch modernen Unterricht, der sich durch einen optimalen Methodenmix auszeichnet, anbieten können. Phasen des Frontalunterrichts wechseln sich also mit dem Üben und Wiederholen des präsentierten Stoffs und dem selbständigen Erarbeiten von Lerninhalten, in Einzel‐ und Gruppenarbeit, ab. Und durch die Bereitstellung von entsprechenden Lernunterlagen, möglichst am Beginn des Semesters, sollten durch Krankheit von Lehrer/inne/n oder Schüler/inne/n verursachte Stundenausfälle gut verkraftbar gemacht werden. Weitere Vorteile: ‐
‐
Die Schultaschen der Schülerinnen und Schüler werden leichter, da es weniger Schulfächer pro Schultag gibt, und die Lehrkräfte müssen sich an einem Schultag auf weniger verschiedene Altersgruppen und Stoffgebiete einstellen; haben sie sich an das neue System erst einmal gewöhnt, dürfte dies auch zu einer Verkürzung der individuellen Vorbereitungszeiten führen. 3
http://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/image/ZDB985843438_0053/529/#topDocAnchor, S.528f siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Schulstunde 5
siehe http://alex.onb.ac.at/cgi‐content/alex?aid=tgb&datum=1776&page=128&size=45, S.127 6
siehe http://alex.onb.ac.at/cgi‐content/alex?aid=tgb&datum=1776&page=127&size=45, S.126 4
2 Längere Pausen Mit Ausnahme der „großen“ Pause am Vormittag und der Mittagspause dauern Pausen an Schulen traditionell nur 5 oder 10 Minuten. Diese Zeit reicht gerade aus, um aufs WC zu gehen oder sich von der Klasse in einen Sonderunterrichtsraum zu begeben. Erholung, Entspannung, Bewegung, Essen, Trinken und soziale Interaktionen außerhalb des Unterrichtsgeschehens kommen dabei notgedrungen zu kurz. Durch Blockung von Unterrichtsstunden werden längere Pausen möglich, z.B. im Umfang von 15‐25 Minuten nach jeder Doppelstunde. Davon sollen sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrerinnen und Lehrer profitieren. Zwar sind die Pausen länger, es gibt an einem Schultag insgesamt aber weniger gemeinsame Pausen, für die Gangaufsicht u.Ä. organisiert werden muss, was arbeitstechnisch für die Lehrerinnen und Lehrer von Vorteil sein kann. Denn die österreichischen Lehrerinnen und Lehrer sorgen sich sehr um die Verletzung von Aufsichtspflichten, was u.U. zu einem Zuviel an Vorsicht und Verboten (z.B. für Bewegung in den Pausen) geführt hat. Zwar gibt es den Aufsichtserlass des Ministeriums aus dem Jahr 2005, aber dieser wird vielfach zu eng gesehen, da es sich um „altersadäquate Beaufsichtigung“ handelt. Empfehlungen für Schulen Für die Schulen bzw. Schulleitungen kann die Empfehlung gegeben werden, gemeinsam mit den Lehrer/inne/n über mögliche Veränderungen der zeitlichen Gestaltung zu diskutieren und dabei auch Erfahrungen anderer Schulen zu berücksichtigen sowie, im Bedarfsfall, die Unterstützung der Schulbehörden einzuholen. Auch Probephasen für Veränderungen mit anschließender Evaluation im Kollegium haben sich bewährt. Es erscheint prinzipiell von Vorteil zu sein, immer auch pädagogische bzw. didaktische Veränderungen gleichzeitig mit zeitlichen Umstrukturierungen anzugehen und dazu auch Fortbildungen im Lehrer/innenkollegium anzubieten. Dr. Rosemarie Felder‐Puig, Mag. Felix Hofmann, Dr. Simone Grandy Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research (LBIHPR), Wien 3