Sitzen ist das neue Rauchen

FORSCHUNG UND TECHNIK
58 WOCHENENDE
Freitag, 28. August 2015
Sitzen ist das neue Rauchen
Bewegungsmangel ist ein eigenständiger Risikofaktor, der sich auf Gesundheit und Lebensspanne e
und Diabetes. Fachleute fordern deshalb eine breite Förderung körperlicher Aktivität. VON SIBYLLE
HAUPTSACHE, GESUND
Die Butter
bleibt auf
dem Brot
Von Nicola von Lutterotti
Jahrzehntelang haben uns Wissenschafter die Butter und das Ei madig gemacht.
Diese seien eine Gefahr für Leib und
Leben, hiess es, und sollten daher vermieden werden. Dabei gehören beide zu
einem gepflegten Frühstück, selbstverständlich mit knusprig aufgebackenem
Weissbrot. Denn ohne die Gewissheit,
beim morgendlichen Zeitunglesen von
guten alten Freunden umgeben zu sein,
könnte man die vielen unerfreulichen
Meldungen des Tages kaum verdauen.
Umso schwerer wiegt, mit welcher
Nonchalance die Wissenschafter meine
treuen Frühstücksbegleiter als gesundheitsschädliche Unholde darstellen. Als
ob Eier oder Butterbrote jemandem ein
Leid zufügen könnten! Mit der gleichen
Selbstverständlichkeit geben die Forscher dann eines Tages wieder Entwarnung und sagen: «Es ist doch nicht so
schlimm wie vermutet, ja sogar das
Gegenteil könnte der Fall sein.» So ging
es schon mit dem Kaffee, dem Weissbrot
und dem Rotwein.
Meine beiden Frühstückskameraden
wurden der Körperverletzung bezichtigt, weil sie viel gesättigte Fettsäuren
enthalten. Das sind Bestandteile von
grösstenteils tierischen Fetten, die das
Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen sollen. Belege für diese
Behauptung gibt es bis jetzt aber noch
nicht. Einen solchen Beweis zu erbringen, ist freilich auch schwierig. Denn am
Buttertod stirbt man nicht von heute auf
morgen, sonst gäbe es hierzulande keinen Dichtestress. Und wer sich mit
Eiern und Butterbroten derart den
Bauch vollschlägt, dass er sich hinterher
kaum noch rühren kann, hat auch aus
anderen Gründen ein Überlebensproblem. Zu viel des Guten ist nie gut, das
sagte schon meine Grossmutter, lange
bevor die Wissenschafter darauf kamen.
Dennoch, ein gewisses Misstrauen
blieb. Bis dann vor kurzem die längst
überfällige Entwarnung kam. So haben
Forscher aus Kanada selbst nach mehrfachem Drehen und Wenden der Daten
von zwölf grossen Ernährungsstudien
keinerlei Hinweise dafür erhalten, dass
gesättigte Fettsäuren die Entstehung
von Herzinfarkten begünstigen oder gar
das Leben verkürzen.
Zugegeben, ein Beweis für die Unschuld von Eiern und Butter ist das
nicht. Dennoch erscheinen mir die Erkenntnisse der Kanadier recht plausibel.
Schliesslich sollen auch unsere steinzeitlichen Urahnen rund 65 Prozent ihres
täglichen Energiebedarfs mit gesättigten Fettsäuren gedeckt haben. Eier dürften dabei zwar keine grosse Rolle gespielt haben, und Butter sowieso nicht.
Aber dafür gab’s Cholesterinbomben
wie Hirn, Leber und Speck.
Vor diesem Hintergrund nehmen sich
die Empfehlungen der amerikanischen
Herzgesellschaft, die in Sachen Ernährung keinen Spass versteht, geradezu
kleinlich aus: Weniger als 7 Prozent des
täglichen Kalorienbedarfs sollten demnach aus gesättigten Fettsäuren bestehen. Das reicht kaum für ein Frühstücksei mit Buttertoast, und schon gar
nicht für den unerlässlichen Belag mit
Käse oder Schinken. Den kanadischen
Wissenschaftern sei gedankt. Sie haben
das Frühstück gerettet, zumindest vorläufig. Denn wie wir alle wissen, kann
sich das Blatt schon bald wieder wenden.
Die genetische Ausstattung des Menschen wurde zu einer Zeit geprägt, als
Agilität zu den zentralen Überlebensstrategien zählte: Stets waren unsere
Vorfahren auf dem Sprung – sei es, um
Beute zu jagen oder vor Gefahr zu fliehen. Mit der rasanten zivilisatorischen
Entwicklung hin zu einfacherer Nahrungsbeschaffung, bequemen Fortbewegungs- und Arbeitsmitteln sowie globaler elektronischer Vernetzung vermochte unser genetisch-physiologisches Programm nicht Schritt zu halten. Die
moderne Lebensweise steht quer zu
unserem Erbe.
Mit Busfahrern fing es an
In der Tat bestätigen wissenschaftliche
Untersuchungen seit Jahrzehnten die
negativen Folgen von Bewegungsmangel, die sich in Form erhöhter Erkrankungsraten und vorzeitigem Tod äussern. Am Anfang stand 1953 der Befund, dass Londoner Busfahrer doppelt
so häufig an Herz-Kreislauf-Leiden starben wie die mobileren Billettkontrolleure. Seither gewannen die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Erkrankungsrisiken und Lebensspanne zunehmend an Kontur.
Dabei erwies sich ein niedriger Fitnessgrad als Folge mangelnder Aktivität
als eigenständiger Risikofaktor, der die
Lebenserwartung ebenso stark einschränken kann wie Bluthochdruck,
Rauchen, Übergewicht oder Diabetes.
Wissenschafter der Harvard-Universität
haben unlängst errechnet, dass Bewegungsarmut 6 bis 10 Prozent aller Fälle
von nichtübertragbaren Krankheiten
verursacht; etwa jeder elfte Todesfall
geht auf ihr Konto.
Andererseits senkt körperliche Aktivität auch per se – also nicht allein durch
ihren günstigen Einfluss auf die altbekannten Risikofaktoren – das Erkrankungs- und Sterberisiko. Zudem zeigen
sich die vorteilhaften Effekte weitgehend unabhängig von Geschlecht,
Alter und Gesundheitszustand. Eine gesunde junge Frau profitiert demnach
ebenso wie ein älterer Mann, der bereits
einen Herzinfarkt erlitten hat oder unter
Diabetes leidet. Auch Übergewicht oder
Fettleibigkeit schmälert den Nutzen von
Bewegung nicht: Dicke, die sich körperlich betätigen, sind gegenüber schlanken, aber bewegungsmässig passiven
Couch-Potatoes sogar im Vorteil.
«Sitzen gefährdet Ihre Gesundheit!» –
So könnte man es auf Plakate schreiben;
denn nicht nur mangelnde physische
Aktivität, sondern auch langes Sitzen
birgt laut neueren Untersuchungen Risiken. Je mehr Stunden jemand täglich im
Sitzen verbringt – sei es am Schreibtisch,
vor dem Computer oder dem Fernseher
–, desto höher steigt sein Sterberisiko,
selbst wenn er oder sie sich zusätzlich
körperlich betätigt. Da nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage in Europa
etwa jeder zweite Erwachsene täglich bis
zu 5,5 Stunden und jeder zehnte sogar
mehr als 8 Stunden sitzt, geben diese Befunde Anlass zur Sorge. Ab und zu vom
Stuhl aufzustehen oder gar stehend zu
arbeiten, dürfte sich jedenfalls lohnen.
Konkreter als der Einfluss von Bewegung auf die allgemeine Sterblichkeit er-
scheint der Blick auf spezifische Krankheiten. Hier standen lange Zeit HerzKreislauf-Leiden und andere klassische
Zivilisationskrankheiten wie Diabetes
im Vordergrund. Doch senkt regelmässige körperliche Aktivität auch das
Risiko, an gewissen Krebsleiden zu erkranken. Übereinstimmend konnten
grosse Erhebungen eine schützende
Wirkung bei Dickdarmkrebs, bösartigen
Tumoren der Gebärmutterschleimhaut
und bei Brustkrebs nach der Menopause
belegen. Einzelne Untersuchungen, wie
auch eine kürzlich in der Zeitschrift
«Jama Oncology» veröffentlichte Erhebung, legen zudem einen Zusammenhang zwischen Fitnessgrad und Lungenkrebsrisiko nahe. Uneinheitlich sind die
Daten bis jetzt bei Prostatakrebs und
weiteren Krebsarten.
Generell besteht eine inverse Beziehung zwischen der Gesamtsterblichkeit
in Bezug auf Krebs und dem Fitnesslevel, wie aus einer im Juni in «Jama
Internal Medicine» erschienenen Arbeit
hervorgeht: Hannah Arem vom amerikanischen National Cancer Institute und
ihre Kollegen haben anhand der Daten
von mehr als 600 000 Personen berechnet, dass regelmässige physische Aktivität die Krebssterblichkeit um mehr als
ein Fünftel senken kann.
Dosisabhängiger Nutzen
Angesichts solcher gesundheitlicher
Vorteile körperlicher Aktivität stellt
sich die Frage, welches Mass den optimalen Nutzen verspricht. Gemäss Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation
empfehlen die offiziellen Stellen vieler
Länder einschliesslich der Schweiz heute für Erwachsene ein wöchentliches
Mindestpensum von 150 Minuten mässig anstrengender Betätigung wie zügiges Gehen oder 75 Minuten intensiverer
Aktivität wie Joggen oder Velofahren.
Der entsprechende Energieaufwand
von etwa 1000 Kilokalorien pro Woche
erfordert also nicht zwingend schweisstreibendes Ausdauertraining. Jugendliche sollen sich täglich mindestens eine
Stunde bewegen, Kinder deutlich mehr
als eine Stunde.
Den dosisabhängigen Nutzen von Bewegung belegt anschaulich die erwähnte
Arbeit von Hannah Arem und ihren Kollegen. Das Ein- bis Zweifache des empfohlenen Minimalpensums senkt das
Sterberisiko gegenüber völliger Inaktivität um 31 Prozent (vgl. Grafik). Eine weitere Erhöhung der Aktivität bringt einen
vergleichsweise bescheidenen Zusatzgewinn, bis sich jenseits des Drei- bis Fünffachen der empfohlenen Minimaldosis
keine weiteren Vorteile bezüglich der
Lebensspanne erkennen lassen.
Der steile Verlauf der Dosis-Wirkungs-Kurve zwischen der Komfortzone
der Couch-Potatoes und jener der körperlich Aktiven zeigt, dass sich bereits
mit geringem Aufwand ein gesundheitlicher Nutzen erzielen lässt. Das illustriert auch eine Studie aus dem Jahr
2011, an der mehr als 400 000 Taiwaner
teilnahmen. Sie ergab, dass mässig anstrengende körperliche Aktivität von
durchschnittlich nur 92 Minuten pro
Woche, also etwa einer Viertelstunde
pro Tag, jeden sechsten Todesfall zu ver-
Je mehr Stunden ein Person täglich im Sitzen verbringt – etwa auf dem Sechseläutenplatz in Zü
hindern vermag und die Lebenserwartung um drei Jahre erhöht.
Körper und Geist trainieren
Ein für unsere alternde Gesellschaft zunehmend wichtiges Thema ist der Einfluss, den körperliche Aktivität auf die
geistige Leistungsfähigkeit hat. Wie vielfach gezeigt worden ist, kann physisches
Training Lernen, Gedächtnis und andere
kognitive Fähigkeiten verbessern. Studien der letzten Jahre legen zudem nahe,
dass es auch das Auftreten von geistigem
Abbau und Demenz hinauszögert.
Noch stärkere Effekte lassen sich erreichen, wenn das Training neben dem
Körper gleichzeitig auch das Gehirn beansprucht. So haben Patrick Eggenberger vom Institut für Bewegungswissenschaften und Sport der ETH Zürich und
Reduktion des Sterberisikos in Abhängigkeit der Bewegungsintensität, in Prozent
Empfohlenes Minimum
20%
0%
Keine Bewegung
1–140
Min./
Woche
1–45
Min./
Woche
Laufen (1 Meile in 10 Min.)
31%
140–280 37%
Min./
280–420
Woche
Min./
Woche
45–90
Min./
90–135
Woche
Min./
Woche
QUELLE: JAMA INTERNAL MEDICINE 2015
Gehen (1 Meile in 20 Min.)
39%
420–700
Min./Woche
135–240
Min./Woche
39%
700–1400
Min./Woche
240–450
Min./Woche
NZZ-Infografik/cke.
seine Kollegen in einer soeben erschienenen Arbeit gezeigt, dass Senioren
nach sechsmonatigem kombiniertem
körperlich-geistigem Training bessere
kognitive Leistungen erbringen als nach
körperlichem Training allein. Sie konnten zum Beispiel bestimmte Aufgaben
schneller lösen. Ein videogesteuertes
Tanzprogramm schnitt dabei sogar besser ab als ein Laufbandtraining, bei dem
die Probanden gleichzeitig Wortabfolgen memorieren mussten. Die günstigen
Effekte liessen sich auch noch Monate
später nachweisen.
Doch wie lassen sich die Vorteile
eines kombinierten geistig-körperlichen
Trainings hirnphysiologisch erklären?
Zum einen führt körperliche Aktivität
im Hippocampus, der bei Lernprozessen
und der räumlichen Orientierung eine
Schlüsselrolle spielt, zur Bildung neuer
Nervenzellen. Das wurde bei Nagetieren und indirekt auch beim Menschen
nachgewiesen. Die meisten dieser Zellen sterben bei Nagern allerdings bald
wieder ab, wenn die Tiere keine anspruchsvollen mentalen Herausforderungen zu meistern haben. Zum anderen fördert Bewegung in Teilen der
Grosshirnrinde die Entstehung neuer
Nervenverbindungen (Synapsen), die
möglicherweise länger erhalten bleiben,
wenn sie durch kognitive Prozesse beansprucht werden.
Wie auch immer die Vorteile eines
kombinierten Trainings zu erklären
sind, sollte man diese Methode laut
Eling de Bruin, einem Mitautor der genannten ETH-Studie, bereits jetzt in
Freitag, 28. August 2015
FORSCHUNG UND TECHNIK
Die Krebsvorstufe,
die nicht immer eine ist
ebenso nachteilig auswirkt wie Bluthochdruck, Übergewicht
WEHNER-VON SEGESSER
Nicht jeder Brustkrebs entsteht aus einem
«Carcinoma in situ». Das hat Konsequenzen.
ALAN NIEDERER
Bei Frauen mit einer sehr frühen Form
von Brustkrebs wird heute standardmässig das veränderte Drüsengewebe
entfernt. Dazu wird meist eine brusterhaltende Operation mit Bestrahlung
durchgeführt oder die Brust amputiert –
gelegentlich auch beidseitig. Damit soll
verhindert werden, dass sich aus der
DCIS genannten Läsion (duktales «Carcinoma in situ») ein invasiver und potenziell tödlicher Brustkrebs entwickelt.
Dass dieses Vorgehen möglicherweise zu radikal ist, wird unter Fachleuten schon länger diskutiert. Denn
frühere Studien haben gezeigt, dass mit
dem Mammografie-Screening die Zahl
der diagnostizierten und behandelten
DCSI-Fälle stark zugenommen hat –
ohne dass die invasiven Brustkrebsfälle
im gleichen Ausmass abgenommen hätten. Eine Studie aus Kanada illustriert
dieses Dilemma nun mit neuen Zahlen.
Zusammenfassend legt die in der Fachzeitschrift «Jama Oncology» veröffentlichte Arbeit nahe, dass die Überlebenschance bei Frauen mit DCIS durch die
heutige Therapie kaum verbessert wird.
Die Untersuchung von Steven Narod
vom Women’s College Hospital in
Toronto und seinen Kollegen stützt sich
auf die Patientendaten eines nationalen
Krebsregisters. Darin fanden die Forscher über 100 000 Frauen, bei denen
zwischen 1988 und 2011 ein «Carcinoma
in situ» festgestellt worden war. Aus den
Angaben zu Therapie, Krankheitsverlauf und allfälliger Todesursache berechneten sie das Risiko der Frauen, an
einem Brustkrebs zu sterben.
Wie die Analyse zeigt, waren zwanzig
JahrenachderDCIS-Diagnoseinsgesamt
3,3 Prozent der Frauen an Brustkrebs gestorben. Das sei nur unwesentlich mehr
als bei Frauen ohne DCIS, schreiben die
Forscher. Ein klar höheres Sterberisiko
(über 7 Prozent) hatten indes Frauen, die
35 Jahre oder jünger waren, als bei ihnen
die Läsion entdeckt worden war, sowie
Afroamerikanerinnen.
Als wichtigstes Resultat ihrer Studie
bezeichnet Narod den Befund, dass die
wenigen Frauen, die an Brustkrebs gestorben waren, nicht wegen fehlender
Therapie, sondern trotz Therapie star-
rich –, desto höher steigt ihr Sterberisiko.
Trainingsprogramme für ältere Menschen integrieren.
Obwohl heute unbestritten ist, dass
Bewegungsarmut zu den wichtigsten beeinflussbaren gesundheitlichen Risikofaktoren zählt, bewegen sich breite Bevölkerungsschichten unzureichend. In
der Schweiz mit ihrer im internationalen
Vergleich recht guten Bewegungsbilanz
ist gemäss einer Erhebung von 2012
jeder vierte Erwachsene ungenügend
aktiv oder sogar gänzlich inaktiv. Bei
Jugendlichen liegt dieser Anteil noch
höher. Die Schwierigkeit, eindeutige
wissenschaftliche Erkenntnisse in eine
allgemeine Verhaltensänderung umzumünzen, erinnert an die zähen Bemühungen um die Eindämmung des
Rauchens. Nach den weitgehend vergeblichen Mahnungen durch Experten
waren es schliesslich handfeste Rauchverbote in Restaurants, Betrieben und
öffentlichen Räumen, die zu Fortschritten führten.
Politische Massnahmen
Auch im Falle der Bewegungsfaulheit
scheinen politische Bemühungen angezeigt – etwa in Form von verkehrs- und
städteplanerischen Massnahmen, die
der Mobilität zu Fuss oder mit dem
Fahrrad entgegenkommen. Dieses Ziel
verfolgt zum Beispiel das laufende EUProjekt Physical activity through sustainable transport approaches (Pasta), an
der auch die Schweiz unter Federführung des Instituts für Epidemiologie,
Biostatistik und Prävention der Univer-
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ben. Operation und Bestrahlung konnten bei ihnen einen tödlichen Brustkrebs
also nicht verhindern. Ebenfalls aufhorchen lässt die Erkenntnis, dass bei der
Mehrheit der 956 an Brustkrebs gestorbenen Frauen nie ein invasiver Primärtumor in der Brust nachgewiesen worden war. Laut den Forschern sollte deshalb das Konzept vom «Carcinoma in
situ» als Krebsvorstufe gründlich überdacht werden. Denn die Daten würden
nahelegen, dass die vermeintliche Kausalkette DCIS – lokaler invasiver Krebs
– Metastasierung nicht immer eingehalten werde und die DCIS-Entfernung in
diesen Fällen nichts bringe.
Der St. Galler Brustkrebsspezialist
Beat Thürlimann begrüsst die neuen
Studienergebnisse. Sie bestärkten ihn in
seinem Bemühen, Frauen mit DCIS zurückhaltend zu behandeln, sagt er. Er
spreche auch stets von einer gutartigen
Veränderung oder einer nichtobligaten
Krebsvorstufe. Damit will er ausdrücken, dass viele DCIS kein ernsthaftes
Gesundheitsproblem sind und ein Brustkrebs auch ohne DCIS entstehen kann.
Noch wird aber auch in St. Gallen
jedes «Carcinoma in situ» entfernt. Wie
aggressiv dabei die Therapie ausfällt,
hängt vom individuellen Krebsrisiko ab.
Dieses wird mit einem Prognose-Index
ermittelt, der neben dem Alter der Frau
auch die Grösse des DCIS, den chirurgischen Sicherheitsabstand sowie weitere
Kriterien wie die Ausdifferenzierung der
Zellen und ihre Abhängigkeit von Hormonen berücksichtigt. Auch Gentests
am Gewebe können heute zur Risikobeurteilung herangezogen werden.
Ganz auf die Chirurgie zu verzichten,
sei derzeit nicht möglich, sagt Thürlimann. Denn dafür fehlten noch die
Daten aus prospektiven Studien. Dass
daran gearbeitet wird, zeigt ein Blick in
das grösste Register für klinische Studien (ClinicalTrials.gov). Demnach soll
im Oktober eine europäische Untersuchung starten, bei der Frauen mit
Niedrig-Risiko-DCIS entweder konventionell behandelt oder nur beobachtend
betreut werden. Die Resultate solcher
Studien werden zeigen, ob künftig bei
einem Teil der Frauen mit «Carcinoma
in situ» auf Operation und Bestrahlung
verzichtet werden kann.
GORAN BASIC / NZZ
sität Zürich beteiligt ist. Dazu wird derzeit in sieben Städten – auch in Zürich –
eine Befragung zum Mobilitätsverhalten der Bevölkerung durchgeführt. Laut
Sonja Kahlmeier, Mitarbeiterin im Zürcher Team, sollen die Ergebnisse Entscheidungsgrundlagen für integrierte
Mobilitätskonzepte liefern.
Doch
auch
Medizinalpersonen
könnten bei der Bewegungsförderung
eine Schlüsselrolle übernehmen. Ärzte
ziehen es heute in aller Regel vor, bei
ihren Patienten Blutdruck- und Cholesterinwerte zu messen sowie Medikamente zu verschreiben, statt auf den
Fitnesslevel zu achten und mehr Bewegung zu verordnen. Daher fordern
manche Experten sogar die Medikalisierung körperlicher Inaktivität. In diesem Sinne schlägt Michael Joyner von
der Mayo-Klinik in Rochester, USA,
vor, Bewegungsmangel beziehungsweise den daraus resultierenden physiologischen Zustand des Körpers als
eigenständiges Krankheitsbild zu definieren. Der Bewegungsarmut als einer
Hauptursache vieler Krankheiten und
vorzeitiger Todesfälle könnte man auf
diese Weise einen anerkannten Status
verleihen.
Biochemische Muskelsignale
S. W. Vor drei Jahren sorgte ein neu
entdecktes Zellhormon für Aufsehen.
Irisin, wie es getauft wurde, wird laut
den Autoren einer Studie bei körperlicher Bewegung von den Skelettmuskeln in die Blutbahn abgegeben und
verwandelt unter anderem weisse Fettzellen in braune Fettzellen. Weil die
braunen Fettzellen eine vermehrte
Energiefreisetzung fördern, schien es,
als habe man eine Substanz gefunden,
die vor Stoffwechselstörungen und
Übergewicht schützt. Bereits war von
einer Wunderpille auf der Basis von Irisin die Rede. Doch der Mythos dieses
vermeintlichen Fitness-Hormons wurde
durch eine kürzlich erschienene Arbeit
jäh zerstört. Ungeeignete Messmethoden hatten die bewegungsabhängige
Ausschüttung der Substanz bloss vorgetäuscht. Dessen ungeachtet steht heute
ausser Zweifel, dass Skelettmuskeln auf
biochemischem Weg mit Körperorganen einschliesslich des Gehirns kommunizieren. Obwohl man bereits eine
Reihe sogenannter Myokine und anderer bioaktiver Stoffe kennt, die bei Muskelkontraktionen in die Blutbahn abgegeben werden, weiss man noch kaum
etwas darüber, auf welchen biochemischen Wegen die umfassenden Wirkungen von Bewegung zustande kommen.
Die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH hat deshalb vor kurzem ein
fünfjähriges Forschungsprojekt mit dem
Ziel lanciert, Schlüsselmoleküle zu
identifizieren, die für diese Wirkungen
verantwortlich sind.
Nachhaltig
in der Tiefsee fischen
«Tiefenlimiten» für Grundschleppnetze
kus. Die Tiefsee gilt als äusserst empfindlicher Lebensraum. Grund sind die dort
herrschenden Lebensbedingungen, die
keine schnelle Regeneration von Schäden erlauben. So wachsen viele Tiefseearten langsam und pflanzen sich spät
fort, was sie empfindlich auf Störungen
reagieren lässt. Die EU arbeitet denn
auch seit Jahren daran, die Fischerei in
der Tiefsee durch neue Regeln nachhaltiger zu gestalten. Diskutiert wurde dabei auch, die Grundschleppnetz-Fischerei, bei der Netze über den Meeresboden
gezogen werden, stufenweise zu verbieten oder ihr eine Tiefenlimite zu setzen.
Schottische Forscher haben dieser
Diskussion nun zu einer besseren wissenschaftlichen Basis verholfen. Jo
Clarke von der University of Glasgow
und ihre Kollegen analysierten Fänge
verschiedener wissenschaftlicher Expeditionen im nordöstlichen Atlantik und
berechneten dabei unter anderem den
Handelswert der gefangenen Fische pro
befischten Quadratkilometer und das
Verhältnis von kommerziell wertvollen
Arten zum verworfenen Beifang und zu
besonders schützenswerten Tiefseehaien. Bei der Auswertung der Daten, die
von 550 Fischzügen mit Grundschleppnetzen zwischen 1978 und 2013 stammten, zeigte sich ein klares Muster: Ab
400 Metern Wassertiefe sanken bei
gleichbleibendem Aufwand die (potenziellen) Erträge (sie stiegen ab 1300
Metern allerdings wieder an), gleichzeitig nahmen die ökologischen «Kollateralschäden» zu. So stieg etwa der Anteil des Beifangs im Vergleich zu jenem
der kommerziell nutzbaren Arten an;
zudem waren unterhalb von 400 Metern
mit zunehmender Tiefe immer mehr
Arten von der Fischerei betroffen.
Die Wissenschafter folgern aus ihrer
Analyse, dass eine Regulierung der Tiefseefischerei mit Grundschleppnetzen
nach Wassertiefe durchaus eine wissenschaftliche Basis hätte. Für sehr interessant hält die Arbeit auch Christopher
Zimmermann, der Leiter des ThünenInstituts für Ostseefischerei in Rostock.
Sie liefere eine wichtige, wissenschaftliche Diskussionsgrundlage, zumal nicht
nur der Schutz der Meere, sondern auch
die Interessen der Fischerei in die Analyse einbezogen worden seien.
Current Biology 25, 1–5 (2015).