FORSCHUNG UND TECHNIK 58 WOCHENENDE Freitag, 28. August 2015 Sitzen ist das neue Rauchen Bewegungsmangel ist ein eigenständiger Risikofaktor, der sich auf Gesundheit und Lebensspanne e und Diabetes. Fachleute fordern deshalb eine breite Förderung körperlicher Aktivität. VON SIBYLLE HAUPTSACHE, GESUND Die Butter bleibt auf dem Brot Von Nicola von Lutterotti Jahrzehntelang haben uns Wissenschafter die Butter und das Ei madig gemacht. Diese seien eine Gefahr für Leib und Leben, hiess es, und sollten daher vermieden werden. Dabei gehören beide zu einem gepflegten Frühstück, selbstverständlich mit knusprig aufgebackenem Weissbrot. Denn ohne die Gewissheit, beim morgendlichen Zeitunglesen von guten alten Freunden umgeben zu sein, könnte man die vielen unerfreulichen Meldungen des Tages kaum verdauen. Umso schwerer wiegt, mit welcher Nonchalance die Wissenschafter meine treuen Frühstücksbegleiter als gesundheitsschädliche Unholde darstellen. Als ob Eier oder Butterbrote jemandem ein Leid zufügen könnten! Mit der gleichen Selbstverständlichkeit geben die Forscher dann eines Tages wieder Entwarnung und sagen: «Es ist doch nicht so schlimm wie vermutet, ja sogar das Gegenteil könnte der Fall sein.» So ging es schon mit dem Kaffee, dem Weissbrot und dem Rotwein. Meine beiden Frühstückskameraden wurden der Körperverletzung bezichtigt, weil sie viel gesättigte Fettsäuren enthalten. Das sind Bestandteile von grösstenteils tierischen Fetten, die das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen sollen. Belege für diese Behauptung gibt es bis jetzt aber noch nicht. Einen solchen Beweis zu erbringen, ist freilich auch schwierig. Denn am Buttertod stirbt man nicht von heute auf morgen, sonst gäbe es hierzulande keinen Dichtestress. Und wer sich mit Eiern und Butterbroten derart den Bauch vollschlägt, dass er sich hinterher kaum noch rühren kann, hat auch aus anderen Gründen ein Überlebensproblem. Zu viel des Guten ist nie gut, das sagte schon meine Grossmutter, lange bevor die Wissenschafter darauf kamen. Dennoch, ein gewisses Misstrauen blieb. Bis dann vor kurzem die längst überfällige Entwarnung kam. So haben Forscher aus Kanada selbst nach mehrfachem Drehen und Wenden der Daten von zwölf grossen Ernährungsstudien keinerlei Hinweise dafür erhalten, dass gesättigte Fettsäuren die Entstehung von Herzinfarkten begünstigen oder gar das Leben verkürzen. Zugegeben, ein Beweis für die Unschuld von Eiern und Butter ist das nicht. Dennoch erscheinen mir die Erkenntnisse der Kanadier recht plausibel. Schliesslich sollen auch unsere steinzeitlichen Urahnen rund 65 Prozent ihres täglichen Energiebedarfs mit gesättigten Fettsäuren gedeckt haben. Eier dürften dabei zwar keine grosse Rolle gespielt haben, und Butter sowieso nicht. Aber dafür gab’s Cholesterinbomben wie Hirn, Leber und Speck. Vor diesem Hintergrund nehmen sich die Empfehlungen der amerikanischen Herzgesellschaft, die in Sachen Ernährung keinen Spass versteht, geradezu kleinlich aus: Weniger als 7 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs sollten demnach aus gesättigten Fettsäuren bestehen. Das reicht kaum für ein Frühstücksei mit Buttertoast, und schon gar nicht für den unerlässlichen Belag mit Käse oder Schinken. Den kanadischen Wissenschaftern sei gedankt. Sie haben das Frühstück gerettet, zumindest vorläufig. Denn wie wir alle wissen, kann sich das Blatt schon bald wieder wenden. Die genetische Ausstattung des Menschen wurde zu einer Zeit geprägt, als Agilität zu den zentralen Überlebensstrategien zählte: Stets waren unsere Vorfahren auf dem Sprung – sei es, um Beute zu jagen oder vor Gefahr zu fliehen. Mit der rasanten zivilisatorischen Entwicklung hin zu einfacherer Nahrungsbeschaffung, bequemen Fortbewegungs- und Arbeitsmitteln sowie globaler elektronischer Vernetzung vermochte unser genetisch-physiologisches Programm nicht Schritt zu halten. Die moderne Lebensweise steht quer zu unserem Erbe. Mit Busfahrern fing es an In der Tat bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen seit Jahrzehnten die negativen Folgen von Bewegungsmangel, die sich in Form erhöhter Erkrankungsraten und vorzeitigem Tod äussern. Am Anfang stand 1953 der Befund, dass Londoner Busfahrer doppelt so häufig an Herz-Kreislauf-Leiden starben wie die mobileren Billettkontrolleure. Seither gewannen die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Erkrankungsrisiken und Lebensspanne zunehmend an Kontur. Dabei erwies sich ein niedriger Fitnessgrad als Folge mangelnder Aktivität als eigenständiger Risikofaktor, der die Lebenserwartung ebenso stark einschränken kann wie Bluthochdruck, Rauchen, Übergewicht oder Diabetes. Wissenschafter der Harvard-Universität haben unlängst errechnet, dass Bewegungsarmut 6 bis 10 Prozent aller Fälle von nichtübertragbaren Krankheiten verursacht; etwa jeder elfte Todesfall geht auf ihr Konto. Andererseits senkt körperliche Aktivität auch per se – also nicht allein durch ihren günstigen Einfluss auf die altbekannten Risikofaktoren – das Erkrankungs- und Sterberisiko. Zudem zeigen sich die vorteilhaften Effekte weitgehend unabhängig von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand. Eine gesunde junge Frau profitiert demnach ebenso wie ein älterer Mann, der bereits einen Herzinfarkt erlitten hat oder unter Diabetes leidet. Auch Übergewicht oder Fettleibigkeit schmälert den Nutzen von Bewegung nicht: Dicke, die sich körperlich betätigen, sind gegenüber schlanken, aber bewegungsmässig passiven Couch-Potatoes sogar im Vorteil. «Sitzen gefährdet Ihre Gesundheit!» – So könnte man es auf Plakate schreiben; denn nicht nur mangelnde physische Aktivität, sondern auch langes Sitzen birgt laut neueren Untersuchungen Risiken. Je mehr Stunden jemand täglich im Sitzen verbringt – sei es am Schreibtisch, vor dem Computer oder dem Fernseher –, desto höher steigt sein Sterberisiko, selbst wenn er oder sie sich zusätzlich körperlich betätigt. Da nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage in Europa etwa jeder zweite Erwachsene täglich bis zu 5,5 Stunden und jeder zehnte sogar mehr als 8 Stunden sitzt, geben diese Befunde Anlass zur Sorge. Ab und zu vom Stuhl aufzustehen oder gar stehend zu arbeiten, dürfte sich jedenfalls lohnen. Konkreter als der Einfluss von Bewegung auf die allgemeine Sterblichkeit er- scheint der Blick auf spezifische Krankheiten. Hier standen lange Zeit HerzKreislauf-Leiden und andere klassische Zivilisationskrankheiten wie Diabetes im Vordergrund. Doch senkt regelmässige körperliche Aktivität auch das Risiko, an gewissen Krebsleiden zu erkranken. Übereinstimmend konnten grosse Erhebungen eine schützende Wirkung bei Dickdarmkrebs, bösartigen Tumoren der Gebärmutterschleimhaut und bei Brustkrebs nach der Menopause belegen. Einzelne Untersuchungen, wie auch eine kürzlich in der Zeitschrift «Jama Oncology» veröffentlichte Erhebung, legen zudem einen Zusammenhang zwischen Fitnessgrad und Lungenkrebsrisiko nahe. Uneinheitlich sind die Daten bis jetzt bei Prostatakrebs und weiteren Krebsarten. Generell besteht eine inverse Beziehung zwischen der Gesamtsterblichkeit in Bezug auf Krebs und dem Fitnesslevel, wie aus einer im Juni in «Jama Internal Medicine» erschienenen Arbeit hervorgeht: Hannah Arem vom amerikanischen National Cancer Institute und ihre Kollegen haben anhand der Daten von mehr als 600 000 Personen berechnet, dass regelmässige physische Aktivität die Krebssterblichkeit um mehr als ein Fünftel senken kann. Dosisabhängiger Nutzen Angesichts solcher gesundheitlicher Vorteile körperlicher Aktivität stellt sich die Frage, welches Mass den optimalen Nutzen verspricht. Gemäss Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation empfehlen die offiziellen Stellen vieler Länder einschliesslich der Schweiz heute für Erwachsene ein wöchentliches Mindestpensum von 150 Minuten mässig anstrengender Betätigung wie zügiges Gehen oder 75 Minuten intensiverer Aktivität wie Joggen oder Velofahren. Der entsprechende Energieaufwand von etwa 1000 Kilokalorien pro Woche erfordert also nicht zwingend schweisstreibendes Ausdauertraining. Jugendliche sollen sich täglich mindestens eine Stunde bewegen, Kinder deutlich mehr als eine Stunde. Den dosisabhängigen Nutzen von Bewegung belegt anschaulich die erwähnte Arbeit von Hannah Arem und ihren Kollegen. Das Ein- bis Zweifache des empfohlenen Minimalpensums senkt das Sterberisiko gegenüber völliger Inaktivität um 31 Prozent (vgl. Grafik). Eine weitere Erhöhung der Aktivität bringt einen vergleichsweise bescheidenen Zusatzgewinn, bis sich jenseits des Drei- bis Fünffachen der empfohlenen Minimaldosis keine weiteren Vorteile bezüglich der Lebensspanne erkennen lassen. Der steile Verlauf der Dosis-Wirkungs-Kurve zwischen der Komfortzone der Couch-Potatoes und jener der körperlich Aktiven zeigt, dass sich bereits mit geringem Aufwand ein gesundheitlicher Nutzen erzielen lässt. Das illustriert auch eine Studie aus dem Jahr 2011, an der mehr als 400 000 Taiwaner teilnahmen. Sie ergab, dass mässig anstrengende körperliche Aktivität von durchschnittlich nur 92 Minuten pro Woche, also etwa einer Viertelstunde pro Tag, jeden sechsten Todesfall zu ver- Je mehr Stunden ein Person täglich im Sitzen verbringt – etwa auf dem Sechseläutenplatz in Zü hindern vermag und die Lebenserwartung um drei Jahre erhöht. Körper und Geist trainieren Ein für unsere alternde Gesellschaft zunehmend wichtiges Thema ist der Einfluss, den körperliche Aktivität auf die geistige Leistungsfähigkeit hat. Wie vielfach gezeigt worden ist, kann physisches Training Lernen, Gedächtnis und andere kognitive Fähigkeiten verbessern. Studien der letzten Jahre legen zudem nahe, dass es auch das Auftreten von geistigem Abbau und Demenz hinauszögert. Noch stärkere Effekte lassen sich erreichen, wenn das Training neben dem Körper gleichzeitig auch das Gehirn beansprucht. So haben Patrick Eggenberger vom Institut für Bewegungswissenschaften und Sport der ETH Zürich und Reduktion des Sterberisikos in Abhängigkeit der Bewegungsintensität, in Prozent Empfohlenes Minimum 20% 0% Keine Bewegung 1–140 Min./ Woche 1–45 Min./ Woche Laufen (1 Meile in 10 Min.) 31% 140–280 37% Min./ 280–420 Woche Min./ Woche 45–90 Min./ 90–135 Woche Min./ Woche QUELLE: JAMA INTERNAL MEDICINE 2015 Gehen (1 Meile in 20 Min.) 39% 420–700 Min./Woche 135–240 Min./Woche 39% 700–1400 Min./Woche 240–450 Min./Woche NZZ-Infografik/cke. seine Kollegen in einer soeben erschienenen Arbeit gezeigt, dass Senioren nach sechsmonatigem kombiniertem körperlich-geistigem Training bessere kognitive Leistungen erbringen als nach körperlichem Training allein. Sie konnten zum Beispiel bestimmte Aufgaben schneller lösen. Ein videogesteuertes Tanzprogramm schnitt dabei sogar besser ab als ein Laufbandtraining, bei dem die Probanden gleichzeitig Wortabfolgen memorieren mussten. Die günstigen Effekte liessen sich auch noch Monate später nachweisen. Doch wie lassen sich die Vorteile eines kombinierten geistig-körperlichen Trainings hirnphysiologisch erklären? Zum einen führt körperliche Aktivität im Hippocampus, der bei Lernprozessen und der räumlichen Orientierung eine Schlüsselrolle spielt, zur Bildung neuer Nervenzellen. Das wurde bei Nagetieren und indirekt auch beim Menschen nachgewiesen. Die meisten dieser Zellen sterben bei Nagern allerdings bald wieder ab, wenn die Tiere keine anspruchsvollen mentalen Herausforderungen zu meistern haben. Zum anderen fördert Bewegung in Teilen der Grosshirnrinde die Entstehung neuer Nervenverbindungen (Synapsen), die möglicherweise länger erhalten bleiben, wenn sie durch kognitive Prozesse beansprucht werden. Wie auch immer die Vorteile eines kombinierten Trainings zu erklären sind, sollte man diese Methode laut Eling de Bruin, einem Mitautor der genannten ETH-Studie, bereits jetzt in Freitag, 28. August 2015 FORSCHUNG UND TECHNIK Die Krebsvorstufe, die nicht immer eine ist ebenso nachteilig auswirkt wie Bluthochdruck, Übergewicht WEHNER-VON SEGESSER Nicht jeder Brustkrebs entsteht aus einem «Carcinoma in situ». Das hat Konsequenzen. ALAN NIEDERER Bei Frauen mit einer sehr frühen Form von Brustkrebs wird heute standardmässig das veränderte Drüsengewebe entfernt. Dazu wird meist eine brusterhaltende Operation mit Bestrahlung durchgeführt oder die Brust amputiert – gelegentlich auch beidseitig. Damit soll verhindert werden, dass sich aus der DCIS genannten Läsion (duktales «Carcinoma in situ») ein invasiver und potenziell tödlicher Brustkrebs entwickelt. Dass dieses Vorgehen möglicherweise zu radikal ist, wird unter Fachleuten schon länger diskutiert. Denn frühere Studien haben gezeigt, dass mit dem Mammografie-Screening die Zahl der diagnostizierten und behandelten DCSI-Fälle stark zugenommen hat – ohne dass die invasiven Brustkrebsfälle im gleichen Ausmass abgenommen hätten. Eine Studie aus Kanada illustriert dieses Dilemma nun mit neuen Zahlen. Zusammenfassend legt die in der Fachzeitschrift «Jama Oncology» veröffentlichte Arbeit nahe, dass die Überlebenschance bei Frauen mit DCIS durch die heutige Therapie kaum verbessert wird. Die Untersuchung von Steven Narod vom Women’s College Hospital in Toronto und seinen Kollegen stützt sich auf die Patientendaten eines nationalen Krebsregisters. Darin fanden die Forscher über 100 000 Frauen, bei denen zwischen 1988 und 2011 ein «Carcinoma in situ» festgestellt worden war. Aus den Angaben zu Therapie, Krankheitsverlauf und allfälliger Todesursache berechneten sie das Risiko der Frauen, an einem Brustkrebs zu sterben. Wie die Analyse zeigt, waren zwanzig JahrenachderDCIS-Diagnoseinsgesamt 3,3 Prozent der Frauen an Brustkrebs gestorben. Das sei nur unwesentlich mehr als bei Frauen ohne DCIS, schreiben die Forscher. Ein klar höheres Sterberisiko (über 7 Prozent) hatten indes Frauen, die 35 Jahre oder jünger waren, als bei ihnen die Läsion entdeckt worden war, sowie Afroamerikanerinnen. Als wichtigstes Resultat ihrer Studie bezeichnet Narod den Befund, dass die wenigen Frauen, die an Brustkrebs gestorben waren, nicht wegen fehlender Therapie, sondern trotz Therapie star- rich –, desto höher steigt ihr Sterberisiko. Trainingsprogramme für ältere Menschen integrieren. Obwohl heute unbestritten ist, dass Bewegungsarmut zu den wichtigsten beeinflussbaren gesundheitlichen Risikofaktoren zählt, bewegen sich breite Bevölkerungsschichten unzureichend. In der Schweiz mit ihrer im internationalen Vergleich recht guten Bewegungsbilanz ist gemäss einer Erhebung von 2012 jeder vierte Erwachsene ungenügend aktiv oder sogar gänzlich inaktiv. Bei Jugendlichen liegt dieser Anteil noch höher. Die Schwierigkeit, eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse in eine allgemeine Verhaltensänderung umzumünzen, erinnert an die zähen Bemühungen um die Eindämmung des Rauchens. Nach den weitgehend vergeblichen Mahnungen durch Experten waren es schliesslich handfeste Rauchverbote in Restaurants, Betrieben und öffentlichen Räumen, die zu Fortschritten führten. Politische Massnahmen Auch im Falle der Bewegungsfaulheit scheinen politische Bemühungen angezeigt – etwa in Form von verkehrs- und städteplanerischen Massnahmen, die der Mobilität zu Fuss oder mit dem Fahrrad entgegenkommen. Dieses Ziel verfolgt zum Beispiel das laufende EUProjekt Physical activity through sustainable transport approaches (Pasta), an der auch die Schweiz unter Federführung des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Univer- WOCHENENDE 59 ben. Operation und Bestrahlung konnten bei ihnen einen tödlichen Brustkrebs also nicht verhindern. Ebenfalls aufhorchen lässt die Erkenntnis, dass bei der Mehrheit der 956 an Brustkrebs gestorbenen Frauen nie ein invasiver Primärtumor in der Brust nachgewiesen worden war. Laut den Forschern sollte deshalb das Konzept vom «Carcinoma in situ» als Krebsvorstufe gründlich überdacht werden. Denn die Daten würden nahelegen, dass die vermeintliche Kausalkette DCIS – lokaler invasiver Krebs – Metastasierung nicht immer eingehalten werde und die DCIS-Entfernung in diesen Fällen nichts bringe. Der St. Galler Brustkrebsspezialist Beat Thürlimann begrüsst die neuen Studienergebnisse. Sie bestärkten ihn in seinem Bemühen, Frauen mit DCIS zurückhaltend zu behandeln, sagt er. Er spreche auch stets von einer gutartigen Veränderung oder einer nichtobligaten Krebsvorstufe. Damit will er ausdrücken, dass viele DCIS kein ernsthaftes Gesundheitsproblem sind und ein Brustkrebs auch ohne DCIS entstehen kann. Noch wird aber auch in St. Gallen jedes «Carcinoma in situ» entfernt. Wie aggressiv dabei die Therapie ausfällt, hängt vom individuellen Krebsrisiko ab. Dieses wird mit einem Prognose-Index ermittelt, der neben dem Alter der Frau auch die Grösse des DCIS, den chirurgischen Sicherheitsabstand sowie weitere Kriterien wie die Ausdifferenzierung der Zellen und ihre Abhängigkeit von Hormonen berücksichtigt. Auch Gentests am Gewebe können heute zur Risikobeurteilung herangezogen werden. Ganz auf die Chirurgie zu verzichten, sei derzeit nicht möglich, sagt Thürlimann. Denn dafür fehlten noch die Daten aus prospektiven Studien. Dass daran gearbeitet wird, zeigt ein Blick in das grösste Register für klinische Studien (ClinicalTrials.gov). Demnach soll im Oktober eine europäische Untersuchung starten, bei der Frauen mit Niedrig-Risiko-DCIS entweder konventionell behandelt oder nur beobachtend betreut werden. Die Resultate solcher Studien werden zeigen, ob künftig bei einem Teil der Frauen mit «Carcinoma in situ» auf Operation und Bestrahlung verzichtet werden kann. GORAN BASIC / NZZ sität Zürich beteiligt ist. Dazu wird derzeit in sieben Städten – auch in Zürich – eine Befragung zum Mobilitätsverhalten der Bevölkerung durchgeführt. Laut Sonja Kahlmeier, Mitarbeiterin im Zürcher Team, sollen die Ergebnisse Entscheidungsgrundlagen für integrierte Mobilitätskonzepte liefern. Doch auch Medizinalpersonen könnten bei der Bewegungsförderung eine Schlüsselrolle übernehmen. Ärzte ziehen es heute in aller Regel vor, bei ihren Patienten Blutdruck- und Cholesterinwerte zu messen sowie Medikamente zu verschreiben, statt auf den Fitnesslevel zu achten und mehr Bewegung zu verordnen. Daher fordern manche Experten sogar die Medikalisierung körperlicher Inaktivität. In diesem Sinne schlägt Michael Joyner von der Mayo-Klinik in Rochester, USA, vor, Bewegungsmangel beziehungsweise den daraus resultierenden physiologischen Zustand des Körpers als eigenständiges Krankheitsbild zu definieren. Der Bewegungsarmut als einer Hauptursache vieler Krankheiten und vorzeitiger Todesfälle könnte man auf diese Weise einen anerkannten Status verleihen. Biochemische Muskelsignale S. W. Vor drei Jahren sorgte ein neu entdecktes Zellhormon für Aufsehen. Irisin, wie es getauft wurde, wird laut den Autoren einer Studie bei körperlicher Bewegung von den Skelettmuskeln in die Blutbahn abgegeben und verwandelt unter anderem weisse Fettzellen in braune Fettzellen. Weil die braunen Fettzellen eine vermehrte Energiefreisetzung fördern, schien es, als habe man eine Substanz gefunden, die vor Stoffwechselstörungen und Übergewicht schützt. Bereits war von einer Wunderpille auf der Basis von Irisin die Rede. Doch der Mythos dieses vermeintlichen Fitness-Hormons wurde durch eine kürzlich erschienene Arbeit jäh zerstört. Ungeeignete Messmethoden hatten die bewegungsabhängige Ausschüttung der Substanz bloss vorgetäuscht. Dessen ungeachtet steht heute ausser Zweifel, dass Skelettmuskeln auf biochemischem Weg mit Körperorganen einschliesslich des Gehirns kommunizieren. Obwohl man bereits eine Reihe sogenannter Myokine und anderer bioaktiver Stoffe kennt, die bei Muskelkontraktionen in die Blutbahn abgegeben werden, weiss man noch kaum etwas darüber, auf welchen biochemischen Wegen die umfassenden Wirkungen von Bewegung zustande kommen. Die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH hat deshalb vor kurzem ein fünfjähriges Forschungsprojekt mit dem Ziel lanciert, Schlüsselmoleküle zu identifizieren, die für diese Wirkungen verantwortlich sind. Nachhaltig in der Tiefsee fischen «Tiefenlimiten» für Grundschleppnetze kus. Die Tiefsee gilt als äusserst empfindlicher Lebensraum. Grund sind die dort herrschenden Lebensbedingungen, die keine schnelle Regeneration von Schäden erlauben. So wachsen viele Tiefseearten langsam und pflanzen sich spät fort, was sie empfindlich auf Störungen reagieren lässt. Die EU arbeitet denn auch seit Jahren daran, die Fischerei in der Tiefsee durch neue Regeln nachhaltiger zu gestalten. Diskutiert wurde dabei auch, die Grundschleppnetz-Fischerei, bei der Netze über den Meeresboden gezogen werden, stufenweise zu verbieten oder ihr eine Tiefenlimite zu setzen. Schottische Forscher haben dieser Diskussion nun zu einer besseren wissenschaftlichen Basis verholfen. Jo Clarke von der University of Glasgow und ihre Kollegen analysierten Fänge verschiedener wissenschaftlicher Expeditionen im nordöstlichen Atlantik und berechneten dabei unter anderem den Handelswert der gefangenen Fische pro befischten Quadratkilometer und das Verhältnis von kommerziell wertvollen Arten zum verworfenen Beifang und zu besonders schützenswerten Tiefseehaien. Bei der Auswertung der Daten, die von 550 Fischzügen mit Grundschleppnetzen zwischen 1978 und 2013 stammten, zeigte sich ein klares Muster: Ab 400 Metern Wassertiefe sanken bei gleichbleibendem Aufwand die (potenziellen) Erträge (sie stiegen ab 1300 Metern allerdings wieder an), gleichzeitig nahmen die ökologischen «Kollateralschäden» zu. So stieg etwa der Anteil des Beifangs im Vergleich zu jenem der kommerziell nutzbaren Arten an; zudem waren unterhalb von 400 Metern mit zunehmender Tiefe immer mehr Arten von der Fischerei betroffen. Die Wissenschafter folgern aus ihrer Analyse, dass eine Regulierung der Tiefseefischerei mit Grundschleppnetzen nach Wassertiefe durchaus eine wissenschaftliche Basis hätte. Für sehr interessant hält die Arbeit auch Christopher Zimmermann, der Leiter des ThünenInstituts für Ostseefischerei in Rostock. Sie liefere eine wichtige, wissenschaftliche Diskussionsgrundlage, zumal nicht nur der Schutz der Meere, sondern auch die Interessen der Fischerei in die Analyse einbezogen worden seien. Current Biology 25, 1–5 (2015).
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