Der Kuoni-Kapitän und die raue See Sterben ist

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Hummler
Standpunkte
8. November 2015 | sonntagszeitung.ch
Die andere Sicht von Peter Schneider
Gessler am
Strassenrand
... gingen natürlich
auch vier halbe.
Der Anspruch der
SVP auf zwei Bundesräte
ist gesetzt.
Was mir bei einer Autofahrt tief hinein in die
frühere DDR auffiel: Wie viel seltener als in der
Schweiz man in Deutschland von Radarfallen
behelligt wird. In dieser Hinsicht – und vielleicht
nicht nur in dieser – leben unsere nördlichen
Nachbarn freier als wir Eidgenossen, die meinen,
die Freiheit gepachtet zu haben. Gewiss, man
kann über den Sinn unbeschränkter Geschwindigkeit auf Autobahnen streiten. Aber dort, wo
dichterer Verkehr üblich ist, wo eine dritte Spur
fehlt oder bei einem Autobahnkreuz Gefahr
droht, ist auch in Deutschland die Geschwindigkeit begrenzt. Freie Fahrt gilt nur noch dort,
wo sie vertretbar ist.
Es stimmt, das wäre in der Schweiz nur an
ganz wenigen Stellen möglich. Nein, ich meine
etwas anderes: Es gibt in Deutschland – auch in
bewohnten Gebieten – deutlich weniger Kästen,
mit denen man die Bürger erwischen will. In der
Schweiz sind sie zur Obsession wohlmeinender
Lenkungspolitik und zur ertragreichen Hauptbeschäftigung der kantonalen und städtischen Verkehrspolizeikorps verkommen. Keine Fahrt auch
auf nur kurzen Strecken, ohne dass man froh
sein muss, nicht irgendwo geblitzt worden zu
sein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in
Polizeikreisen unausgesprochene Direktiven vorliegen, wie die Radarfallen zu platzieren sind:
Nicht zwingend dort, wo sie sinnvoll wären, nämlich an neuralgischen Stellen, wo Fussgängerund Strassenverkehr
aufeinandertreffen. Vielmehr dort, wo die Kästen am meisten Ertrag
bringen. Am Ortseingang, möglichst bei
abfallenden Strassen,
sodass man die ausrollenden Autos auch erwischt. Oder nach dem
Übergang von einer 80er- in eine 50er-Zone, in
30er-Zonen beziehungsweise am Beginn von
Stadtautobahnen, wo anstatt Tempo 120
lediglich 80 Stundenkilometer gelten. An solchen
Stellen schenkt eine Falle besonders ein, denn
da besteht die Chance, «Raser» zu erwischen.
Nebst einer saftigen Busse, dem Ausweisentzug
und einer administrativen Geldleistung, die in
Tausende von Franken gehen kann, muss man
auch noch eine verkehrspsychologische Untersuchung gewärtigen. Schikane über Schikane,
Kriminalisierung von Normalbürgern, all das lassen wir uns gefallen, einfach so. In meinem im
Übrigen als unauffällig und harmlos einzustufenden Bekanntenkreis beginnen sich die Klagen
über das hiesige Verkehrsregime zu häufen. Bei
der Polizei stapeln sich die unerledigten Fälle.
Die Stadt Zürich budgetiert jährlich 60 Millionen
Franken Einnahmen durch Verkehrsbussen. Da
stimmt einfach etwas nicht!
«Manchmal
vermisse
ich die
Auto-Partei»
Was in der Schweiz laufend verletzt wird, ist
das Prinzip der Angemessenheit. Diese dem
Verwaltungsrecht zuzuordnende Maxime gehört
zu den wichtigsten Schutzmechanismen des
Bürgers gegenüber der mit Macht versehenen
Obrigkeit. Deutschland und andere europäische
Staaten kennen ein Punktesystem zur Entschleunigung der autofahrenden Bürger. Geringfügige
oder auch seltene Übertretungen können durch
Wohlverhalten «abverdient» werden. Das entspricht einer angemessenen Behandlung des
fehlerbehafteten Wesens Mensch durch den
Staat. In der Schweiz hat ein Rigorismus Platz
gegriffen, wie man ihn, für andere Übertretungen,
nur aus totalitären Polizeistaaten kennt.
Ich meine: Die grösste Gefährdung des
Bürgers und seiner Freiheit ist noch immer
von innen gekommen, nicht von aussen. Der
Gessler am Strassenrand ist leider, leider ein
Schweizer. Wir hätten es in der Hand, ihn zu entfernen. Manchmal vermisse ich die Auto-Partei.
Konrad Hummler ist Verfasser der «Bergsicht»
und Strategieberater mehrerer Firmen.
... obwohl rein
arithmetisch
betrachtet, ...
Die Parteipräsidenten (v. l.): Christophe Darbellay (CVP), Philipp Müller (FDP) und Toni Brunner (SVP)
Foto: Keystone
Der Kuoni-Kapitän
und die raue See
Karin Kofler über den reichlich späten Befreiungsschlag
von Kuoni-Verwaltungsratspräsident Heinz Karrer
«Der Verwaltungsrat hat einstimmig bestimmt, dass ich das Unternehmen durch den Sturm führe.»
Klare Worte von Heinz Karrer in
der «Finanz und Wirtschaft». Der
Kuoni-Verwaltungsratspräsident
will zeigen, dass er den Reisekonzern aus der Krise führen kann.
Letzten Donnerstag untermauerte er seine Intention mit einem
Feuerwerk an Massnahmen. CEO
Peter Meier wurde abgesetzt und
durch den smarten Zubin Karkaria ersetzt, die GruppenreisenDivision wird restrukturiert. Der
Verwaltungsrat soll erneuert werden und weniger Lohn bekommen.
Schliesslich will das Gremium
an der Generalversammlung gar
Karin Kofler,
Autorin Wirtschaft
die Aufhebung der Stimmrechtsbeschränkung beantragen und so
die Aktionärsrechte stärken.
All dies ist richtig und nötig,
und Heinz Karrer hatte die Grösse, sich öffentlich für die miserable Performance des Managements
zu entschuldigen. Aber hat der
Wirtschaftskapitän damit auch bewiesen, dass er der Mann für die
raue See ist? Nein. Karrer, der auch
den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse führt, reagierte erst,
als die Wellen schon gefährlich
hoch schlugen. Der Befreiungsschlag, den er für Kuoni präsentierte, ist faktisch auf Druck unzufriedener Investoren entstanden.
Karrers eigene Manöver sind bis
dato nicht erkennbar oder gingen
schief. Mit Peter Meier setzte er auf
den falschen Konzernchef. Das
Reise-Endkundengeschäft musste
er verhökern. Restrukturierungen
ging er zu wenig zügig an. Die Remedur im Verwaltungsrat, die er
sofort nach der Übernahme des
Präsidiums vor eineinhalb Jahren
hätte anpacken sollen, schob er auf.
Seine Autorität ist angekratzt.
Ob der Kuoni-Präsident das Schiff
so langfristig weitersteuern kann,
ist fraglich. Er hat sich zwar Luft
verschafft, aber weitere Havarien
werden die Investoren nicht
dulden. Das nächste Opfer könnte er selber sein.
Wirtschaft — 42
Sterben ist Privatsache,
warum eigentlich gebären nicht?
Nach dem deutschen Verbot der geschäftsmässigen Sterbehilfe wundert sich Arthur Rutishauser,
wie unterschiedlich in der Schweiz mit Leben und Tod umgegangen wird
In Sachen Sterbehilfe ist die
Schweiz eines der fortschrittlichsten Länder der Welt. Trotz teilweise massiver Kritik aus dem Inund dem Ausland ist das Recht auf
Suizid im Alter in der Schweiz
praktisch nicht geregelt – aber
mittlerweile breit akzeptiert.
Natürlich gab es in den Medien immer wieder Geschichten um
Ludwig A. Minelli, der seine Dignitas nicht gerade transparent führt
und nie offengelegt hat, wie viel er
am letzten Gang seiner Klienten
verdient. Und es gab hin und wieder Fälle, bei denen die Sterbehilfe
nicht richtig durchgeführt wurde
und der Tod erst nach viel zu langer Leidenszeit eintrat.
Arthur Rutishauser,
Chefredaktor
Doch insgesamt gab es in den bald
einmal 30 Jahren, seitdem die
Sterbehilfe in der Schweiz mehr
oder weniger frei zugelassen ist,
keine wirklichen Skandale. Und
an die Tatsache, dass viele Briten
dafür in die Schweiz reisen, hat
man sich inzwischen gewöhnt.
Nun haben die Deutschen ihr
Sterberecht massiv verschärft und
schon fordern in der Schweiz
Politiker von links bis rechts wieder Einschränkungen und Regeln,
damit es keinen Sterbetourismus
gibt. Es bleibt zu hoffen, auch dieses Mal vergebens. Denn Sterben
ist für alle Privatsache, dafür
braucht es auch keine Passkontrolle.
Vielmehr könnte man sich fragen,
warum es eigentlich so sein muss,
dass die Touristen in die Schweiz
kommen, um zu sterben, Schweizer Frauen aber nach Spanien
reisen, um schwanger zu werden.
In der Schweiz ist es verboten, Eizellen einer anderen Frau einzusetzen. In Spanien darf man das
und so manche glückliche Mutter
machte eine Spanienreise, über die
sie nicht sprechen darf.
Wir sind in der Schweiz inzwischen viel restriktiver, wenn es
darum geht, ob eine Frau schwanger werden darf, als bei der Frage
des Suizids im Alter. Das ist ein
Anachronismus, der nach Deregulierung durch die Politik ruft.