Buß- und Bettag, 18. November 2015 „Siehe, ich stehe vor der Tür

PREDIGT BEIM ÖKUMENISCHEN GOTTESDIENST
Buß- und Bettag, 18. November 2015
„Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ (Offb 3, 20)
Texte: Offb 3, 14-22 – Mt 12, 33-35
Liebe Schwestern und Brüder,
in Freiburg gibt es seit dem Sommer ein interessantes Projekt. Bewohner der Stadt sind
eingeladen, zu Sonnenaufgang und –untergang für jeweils eine Stunde auf einen Turm zu
steigen, der auf dem Dach des Städtischen Theaters errichtet wurde. „Die Türmer von
Freiburg“ sollen Gelegenheit haben, in einer einsamen Stunde dem geschäftigen Alltag zu
entfliehen und sozusagen „Wächter-Funktion“ zu übernehmen. 730 Stunden stehen auf der
Liste zur Verfügung; sie waren innerhalb weniger Tage vergeben. Was die „Türmer von
Freiburg“ entdecken, wenn sie sich Zeit nehmen, von einer neuen Warte aus wachsam für
sich selbst auf das Leben der Stadt zu blicken, das können sie im Gästebuch einer
Homepage notieren.
Ich finde das sehr sympathisch, denn häufiger habe ich mir in den vergangenen Monaten
schon gewünscht, auf so einen Turm steigen zu können – hoch genug, um einen Überblick
zu bekommen bei all der Unübersichtlichkeit, die da herrscht; aber nah genug dran, um
nicht der Versuchung zu erliegen, ich könnte Abstand gewinnen und stoisch gelassen
unbeteiligt bleiben. Ich gebe zu, liebe Schwestern und Brüder, mich irritiert die Wucht der
Probleme, vor denen wir stehen, und das berührt auch meinen Glauben. Manchmal frage ich
mich: Hat Gott eigentlich noch den Überblick über seine Welt? Weiß er, wohin das alles
führt und wozu es gut sein soll? Und dann zweifle ich, ob ich wohl so fragen darf?
Wo sind wir nur hingeraten in wenigen Jahren? Der Dank für die vor einem
Vierteljahrhundert wiedererlangte Einheit unseres Volkes und für das Ende einer
martialischen Blockbildung nach dem Zweiten Weltkrieg – dieser Dank bleibt uns ja fast im
Halse stecken angesichts der Größe der Herausforderung, vor die wir mit 1 Million
Flüchtlingen gestellt sind. Unser ungläubiges Staunen angesichts des arabischen Frühlings
war nur von kurzer Dauer, starren wir doch schon längere Zeit gebannt auf mehr als ein
Dutzend Kriege und wenigstens ein halbes Dutzend zerfallender Staaten in der Welt; wir
sind entsetzt über den unmenschlichen Terror, mit dem der IS seine Präsenz auf der
Weltbühne bis in unsere nächste Nachbarschaft dokumentiert. Und unsere Freude über die
wirtschaftlich und politisch gewachsene Einheit Europas hat nicht nur oberflächlich Kratzer
bekommen durch die Banken- und Finanzkrise, die Griechenlandkrise, die Flüchtlingskrise.
Die Einheit Europas steht auf dem Spiel. Statt Sicherheit und Optimismus wachsen
Irritationen und Ängste – und wir können sie nicht mit einem Federstrich als irrational
beiseite tun. „Die Krise wird zur Lebensform“, wurde neulich behauptet. Wer sich davon
unberührt zeigen wollte, den hat doch wohl das Bild des toten syrischen Jungen Aylan am
Strand von Bodrum in der Türkei auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
Mitten in alle Unsicherheit hinein stellte die Kanzlerin ihr Wort der Selbstermutigung: „Wir
schaffen das!“, wohl wissend, dass die geforderten Anstrengungen kein kurzlebiges
Soldaritätsprojekt sein werden, sondern Kräfte der Gestalt erforderlich machen, wie sie an
einer Epochenwende im wahrsten Sinne not-wendig sind. Und, als wären wir nicht schon
genug gefordert, ja überfordert, erinnert Papst Franziskus in seiner zweiten Enzyklika
„Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ daran, das Problem des
Klimawandels als ein Problem der Bekämpfung der Armut zu begreifen und rasch und konsequent zu handeln; andernfalls seien die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen nur
Vorboten von ganz anderen Dimensionen.
Gott sei Dank halten zigtausende Christinnen und Christen in unserem Land der dumpfen
Abwehrhaltung fremdenfeindlicher Gruppierungen durch ihr beherztes Engagement das
überzeugende Bild herzlicher Menschlichkeit entgegen. Gott sei Dank gibt es in unserer
Stadt mit ihren Erstaufnahmeeinrichtungen Johanniter und Malteser, Diakonie und Caritas.
Was wir da an Kompetenz und Kapazität eines zuverlässigen Einsatzes erleben, liebe
Schwestern und Brüder, das bestärkt mich in der Überzeugung, dass in der Ökumene zwei
doch mehr sind als einer, dass es eine „kreative Kraft der konfessionellen Differenz“ gibt,
wie es der Heidelberger Kirchenhistoriker Christoph Strohm betont – aktuell deutlich
wahrnehmbar im diakonischen Bereich, aber ebenso gültig, was den Erfahrungsschatz in
Glaubenslehre und Frömmigkeitspraxis, in Fragen der Kirchenorganisation und der
geistlichen Entscheidungsfindung anbelangt. Die ersehnte Einheit als Ziel unseres
ökumenischen Bemühens wird den reichen Schatz der konfessionellen Differenzierung
klugerweise hegen und pflegen. Denn was die Einheit nicht hindert, das darf in seiner
Vielfalt bleiben – als Gottes Gabe und sein Geschenk.
Aber zurück zum Wunsch nach einem Überblick im Wirrwarr der Probleme dieser
offenkundigen Zeitenwende. So einfach wie die „Türmer von Freiburg“ haben wir es nicht,
aber als Christenmenschen erinnern wir uns, dass Gott in Zeiten der Not als „fester Turm“
erfahren wird; der Psalm 61 nennt ihn so; „uralter Turm“ sagt Rilke in seinem berühmten
Gedicht (Rainer Maria Rilke, Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, 1899).
So lassen wir uns heute in guter evangelischer Tradition einladen zu Gebet und Buße –
wissend, dass uns Orientierung nur zuwachsen wird, wo wir als gläubige Menschen
innehalten, unser Denken und Handeln ins Licht des Wortes Gottes stellen – und umdenken, um-kehren lernen. Deshalb, liebe Schwestern und Brüder, zwei Fragen an Sie, an
uns: Wie bin ich hier – wozu bin ich gekommen? Gehört dieser abendliche Gottesdienst
einfach so „dazu“ – am Ende eines Kirchenjahres, zur guten Kultur, als ökumenisches
Zeichen; oder bringe ich auch die Bescheidenheit mit, die notwendig ist, um wirklich zu
beten, mit Worten weit über mich hinaus bis hin zu Gott; bringe ich den Mut auf, der
erfordert ist, um wirklich Buße zu tun – d.h. zu bekennen: Ich bin Teil all der übermächtigen
Probleme, durch meinen Lebensstil, meine Gleichgültigkeit, meinen Unglauben. Alle
ersehnte Erneuerung kann ja nur anfangen bei mir.
Wenn Sie klar sind, liebe Schwestern und Brüder; wenn wir in diesen Fragen gemeinsam
entschieden sind, dann bin ich sicher, dass die Worte der Heiligen Schrift, die uns an diesem
Abend treffen, ihre Wirkung nicht verfehlen. „Gottes Wort – wie Licht in der Nacht; es hat
Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten
– wie ein Stern in der Dunkelheit.“ Also, „Türmer von Trier“, steigen wir hinauf, um zu
hören und zu verstehen und einen Anfang zu machen mit der Umkehr!
Die Worte Jesu im Evangelium hören sich an wie eine kluge Lebensweisheit: Guter Baum,
gute Frucht; schlechter Baum, schlechte Frucht. Es geht also nicht um einzelne Taten. Die
Haltung, die Prägung, das Sein eines Menschen bestimmen ihn. Die Weisheit dieser Worte
könnten wir an den täglichen Nachrichten gut belegen. Für uns selbst aber würden wir es
wohl differenzierter und großzügiger betrachten wollen. Hat nicht schon der Apostel Paulus
von den Schwierigkeiten berichtet, das Gute zwar zu wollen, aber nicht zu vollbringen; und
das Böse doch gerade nicht zu wollen, aber immer wieder hervorzubringen (vgl. Röm
7,19)? Immer neue und gute Gründe finden wir, uns zu entschuldigen und andere
verantwortlich zu machen, wenn etwas daneben geht; wenn wir nicht so gradlinig sind, wie
wir es uns wünschen; wenn wir schuldig werden. Und in der Tat: Ich glaube, als
Lebensweisheit, die immer und für alle gilt, taugt das Wort nicht. So führt es nämlich in die
Falle der Schwarz-Weiß-Malerei. Es führt ins Polemisieren und Polarisieren – und das
erleben wir in der letzten Zeit zuhauf. Nur hilft das nicht viel angesichts einer immer
komplexeren Wirklichkeit. Als Christen sollten wir uns diesem allzu simplen Spiel
verweigern, gerade weil das Mitmachen so verführerisch ist.
Im Zusammenhang des 12. Kapitels bei Matthäus nutzt Jesus das Bild aus der Natur zur
Verteidigung seiner eigenen Legitimität. Er hat das Sabbatgebot überschritten und einen
Besessenen geheilt. Daraufhin greifen ihn die Pharisäer an und unterstellen ihm einen Pakt
mit dem Satan. In seiner Verteidigung appelliert er an den gesunden Menschenverstand, der
doch erkennen wird, dass Böses nichts Gutes hervorbringen kann. Der Spitzensatz seiner
Verteidigungsrede ist ein Bekenntnis: „Das Reich Gottes ist schon zu euch gekommen!“
(Mt 12, 28). Es geht also um Jesus und um seine Autorität, um seine göttliche Sendung. Und
es geht darum, ob wir für ihn entschieden sind – und dafür, dass die neue Zeit des Reiches
Gottes bereits angebrochen ist, eine Zeitenwende ganz grundlegender Art. Es geht darum,
ob wir uns einspannen lassen für seine Barmherzigkeit. Insofern kommt es darauf an, zu den
Guten gehören zu wollen. Denn wir sind, was wir wollen; wir sind, was wir glauben; wir
sind, wie wir handeln: weil wir durch unsere Taufe schon erlöste Bürger des Reiches Gottes
sind.
Denn das Ringen um die Macht auf Erden ist entschieden. Der Gewinner steht fest. Darin
sind sich Jesus und der Verfasser der Apokalypse des Johannes vollkommen einig. Doch in
der Zeit zwischen Ostern und der Wiederkunft des Herrn stehen wir Jüngerinnen und Jünger
Jesu in einem geistlichen Entscheidungskampf zwischen dem Anspruch Gottes und den
vielen mit ihm konkurrierenden Mächten, die uns zu korrumpieren versuchen; ihnen kommt
es zupass, wenn wir lau und unentschlossen bleiben. In diese Situation spricht der Seher Johannes ernste Worte der Ermahnung und des Trostes für die Gemeinden Kleinasiens – sie
gelten den Christen aller Zeiten. Die Apokalypse ist alles andere als eine Geheimschrift mit
Drohkulisse. Sie beschreibt die Welt, wie sie ist. Sie stellt die Folgen des Unrechts klar vor
Augen. Sie deckt das Böse auf als Lüge und Verlorenheit. Sie leistet „Aufklärung“ im
wahrsten Sinn des Wortes, damit wir wieder Sicherheit gewinnen, auf wessen Seite wir
stehen, und was es in den ganz konkreten Entscheidungssituationen heißt, dem Gott des
Friedens und der Liebe zu vertrauen: Wir können mit Gottes Hilfe der Wandel sein, den wir
in der Welt zu sehen wünschen, liebe Schwestern und Brüder. Ein großer Auftrag ist das,
aber das Zutrauen Gottes, das dahinter steht, ist noch viel größer. Amen.
Georg Bätzing