Predigt im Pontifikalamt - St. Georg, Poppenhausen

DER BISCHOF VON FULDA
Predigt im Pontifikalamt
am Sonntag, 12. Juli 2015, 10.00 Uhr,
in St. Georg Poppenhausen
(850 Jahre Ortsjubiläum)
In Israel gibt es zwei große Seen: der eine im Norden, der See Genezareth, der andere im Süden,
am Rand der Wüste, das Tote Meer. Beide Seen werden durch ein und denselben Fluss gebildet,
durch den Jordan, der mit seinen Quellflüssen im Hermongebirge entsteht, durch den See
Genezareth und die Jordansenke fließt und am Ende im Toten Meer verdunstet.
Aber beide Seen sind grundverschieden. Der See Genezareth enthält frisches, klares Wasser. In
ihm wimmelt es von Fischen und Wassertieren. In seiner Umgebung wächst, zumal im Frühjahr,
eine üppige Vegetation wie ein Paradiesesgarten. Dies ist die eigentliche Heimat Jesu Christi.
Ganz anders das Tote Meer. In ihm lebt kein einziger Fisch. Kaum eine Pflanze wächst an seinem
Ufer. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes ein „totes Meer“.
Der Unterschied beider Seen rührt von zwei Gründen her. Der See Genezareth nimmt das
Jordanwasser auf, lässt sich erfrischen und gibt es dann weiter. Er ist geöffnet zum Empfangen
und zum Geben. Das Tote Meer dagegen nimmt das Jordanwasser nur auf, gibt es aber nicht
mehr ab, sondern lässt es bei sich selbst verdunsten.
Dazu kommt noch: Sein Untergrund besteht aus salzigem Gestein. Es ist so versalzen und
verbittert, dass das Wasser selbst ganz stark versalzen ist und weder in ihm noch in seiner Nähe
Leben gedeihen kann. Selbst tot und unfruchtbar tötet es sogar anderes Leben.
In diesem Bild der beiden Seen Israels scheint mir unser persönliches Leben und das einer
christlichen Gemeinde dargestellt zu sein: Leben kann nur sein, wenn es einerseits geöffnet,
empfangsbereit ist – und wenn es andererseits auch Empfangenes bereitwillig weiterschenkt, dem
See Genezareth gleich. Wenn das nicht gelingt, muss Leben verkümmern.
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Jesus, unser Herr, konnte sich deswegen „das Leben“ nennen, weil er beides wie kein anderer
sonst realisierte: Er war ganz offen Gott gegenüber. Seine Speise war es, „den Willen seines
Vaters zu tun“. Andererseits war er aber auch in unübertrefflicher Weise offen für seine
Mitmenschen, schenkte die von Gott empfangene Liebe an andere weiter. ER verschenkte sich
bis zur Todeshingabe am Kreuz.
Es wird Ihnen, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, sicher auch schon einmal aufgefallen
sein, dass das so genannte „moderne Denken“ einen Begriff ausformuliert hat, der vor rund 50
Jahren in unserer Sprache noch gänzlich unbekannt war: Selbstverwirklichung.
Das an sich richtige und notwendige Ziel der Selbstverwirklichung wird aber von vielen sowohl
atheistisch als auch egozentrisch missverstanden. Autonom halten sie sich selbst für die erste und
letzte Instanz ihrer Lebensentscheidung. Individualistisch dreht sich bei ihnen fast alles um das
eigene Ich – und das nicht ohne Folgen: Es zerbrechen Ehen, weil jede und jeder nur die eigene
Verwirklichung sucht, koste es, was es wolle.
Die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, sich für andere in Gesellschaft und Kirche ehrenamtlich
zu engagieren, weil dadurch ihr Privatleben beeinträchtigt würde, wächst rapide.
Ich-zentrierte Selbstverwirklichung aber gleicht dem Toten Meer, das in sich verschlossen und tot
ist und in dessen Nähe deshalb auch kein Leben gedeihen kann. Genau das ist es, was der
Apostel Paulus in seinen Briefen immer wieder mit den Worten „Sünde“ und „Tod“ bezeichnet.
„Wir dürfen nicht für uns selber leben…, denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt “ (Röm
15, 1). Was für uns, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, als Einzelne gilt, hat auch und
besonders für eine christliche Gemeinde Bedeutung.
Ein Jubiläum, wie Sie es heute hier feiern, sollte wohl auch eine Gelegenheit sein, sich zu
vergewissern, worin wahres Leben einer Gemeinschaft begründet, wo deren Quelle zu finden ist.
Ich glaube fest, dass eine Kirchengemeinde mit all ihren Einrichtungen nur in dem Maße lebendig
ist, als auch in ihr ein dauerndes Empfangen und Weitergeben gelebt wird. „Empfangen“
allerdings nicht in dem gewöhnlichen Sinne, dass jede und jeder Einzelne nur für sich allein einen
optimalen kirchlichen Service erwartet: also ansprechende Gottesdienste, sozial-caritative
Hilfeleistung und die religiöse Überhöhung bestimmter zentraler Lebensereignisse wie Geburt,
Eheschließung und Tod.
Nein, solche passive Erwartungshaltung widerspricht dem Leben, das uns Jesus Christus geöffnet
hat, ist wie ein totes Meer. Dagegen müssen wir in unseren Gemeinden Formen finden, wie alle
Getauften und Gefirmten sich ihrer Würde und Kompetenz gemäß einbringen, wie sie mittragen
können. Nur so wird die kleiner werdende Zahl bekennender katholischer Christen in einer Welt
zum Sauerteig, die einen immer dichteren Vorhang vor den Himmel ziehen möchte. Dazu kommt
noch: Der derzeitige Umbruch in allen deutschen Diözesen, auch im Bistum Fulda, muss gestaltet
werden, auf dass er nicht zu einem Zusammenbruch wird. Der Aufbruch darf nicht mit einer
Negativstimmung belastet werden. Wir können mit den Steinen, die uns in den Weg gelegt
werden, verschieden umgehen: Wir können darüber klagen, uns vom Weg abbringen lassen und
enttäuscht umkehren. Wir können resignieren und uns darauf setzen, uns sogar festsetzen. Wir
können sie aber auch als Bausteine verwenden und Brücken bauen, damit Jesu Christi
Verheißung Gestalt werden kann: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20).
Aus alledem ergibt sich auch, dass eine christliche Gemeinde gemeinsam und im Gebet danach
fragen muss, was Gott von ihr konkret will, wohin er sie führen möchte; und dann das Erkannte
auch in die Tat umzusetzen versucht. Das wird nur möglich sein im Vertrauen auf Gottes
Beistand, den Hl. Geist. Lassen Sie sich anstecken von seiner Kraft, vertrauen Sie seiner
Führung, dem „Finger Gottes, der uns führt“!
Seit unserer Taufe und Firmung sind wir alle „Geistbegabte“, „Geistliche“, wenn wir es richtig
verstehen und zulassen. Das ist der eigentliche Energievorrat unseres Lebens und unseres
Wirkens als Christinnen und Christen.
Gottes Geist möge Ihnen hier in Poppenhausen helfen, ein See Genezareth zu sein: eine
Dorfgemeinschaft, lebendig und geöffnet zum Empfangen und Geben, bloß kein Totes Meer,
verbittert und versalzen.
Das ist heute mein erster Wunsch an Sie.
Ich habe noch einen zweiten: Sie feiern ein großes Jubiläum. Seit 850 Jahren haben Menschen
am Leben der anderen Anteil genommen. Seitdem haben sich in diesem Raum und in den
Kirchen zuvor immer wieder Menschen versammelt, um ihr Leben in den verschiedenen
Grenzsituationen vom Glauben an Jesus Christus her zu deuten. Menschen zogen hier ein mit
strahlenden Gesichtern beim Fest der Trauung, der Erstkommunion und der Firmung. Aber auch
mit Tränen in den Augen, wenn es darum ging, von einem lieben Menschen auf dieser Erde
Abschied zu nehmen. Sie, liebe Schwestern und Brüder in Poppenhausen, haben im Raum der
Kirche Ihr Leben ausgedrückt, haben Gott in Angst und Leid bestürmt, haben Dank und Lob zur
Sprache gebracht. Sie haben je neu Halt gefunden durch die Communio mit Christus im
Brotbrechen. So bekamen Sie immer wieder Halt und Stütze besonders in Krisenzeiten. Es wurde
Ihnen immer wieder ein kurzer Blick in den Himmel geschenkt, in jenes Reich des Lichtes, das uns
hilft, in einer Welt der Schatten und Zwielichtigkeiten nicht unterzugehen.
Sie, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, feiern ein „Jubiläum“. Im Hintergrund dieses
Wortes steht das hebräische „Jobel-Jahr“, das in Israel alle 7 mal 7 Jahre im folgenden 50.
gefeiert wurde und je ein Jahr des Neuanfangs war. Alles im gesellschaftlichen Leben des Volkes
Israel wurde im Jobeljahr in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt: Schulden wurden
aufgehoben, Sklaven wurde die Freiheit geschenkt.
Das Jobeljahr wurde als das Geschenk eines neuen Anfangs und einer sich stets erneuernden
Geschichte verstanden. So erfuhr das Volk Israel, dass es gerade in der Tradition und Treue
seines Weges mit Gott nicht auf seine eigene Vergangenheit festgelegt, sondern von der Zukunft
Gottes her bewegt war. Meine herzlichen Glück- und Segenswünsche möchte ich in diesem
Zusammenhang verbinden mit dem zweiten Wunsch: dass Sie aus der Feier Ihres Jubiläums Kraft
erhalten, die nächsten notwendigen Schritte in die Zukunft zu tun. Dazu segne Sie der gute Gott!
Amen.