Wenn das Gehirn sich formen lässt

SE IT E N 2 · M I T T WO C H , 2 3 . S E P T E M B E R 2 0 1 5 · NR . 221
D
as menschliche Gehirn besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen, die über
etwa hundert Billionen Verknüpfungen
miteinander
kommunizieren und das hervorbringen,
was wir als Wahrnehmung (Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken),
Denken, Sprache, Motorik, Emotion etc.
bezeichnen. Hier muss die Frage gestellt
werden, wie es allem Anschein nach ganz
mühelos gelingt, dass sich ein menschliches Gehirn während der Entwicklung
„richtig“ verdrahtet und solche hochkomplexen Leistungen fast wie selbstverständlich im Alltag erledigt.
Während bei der Geburt die meisten
Nervenzellen (Neurone) im Gehirn vorliegen (nur in wenigen Bereichen des Gehirns, zum Beispiel denen, die entscheidend für die Gedächtnisbildung sind, werden nach der Geburt noch neue Nervenzellen gebildet), kommt es nach der Geburt
zu einer explosionsartigen Zunahme der
Verbindungen (Synapsen). Dabei entsteht
unabhängig von der Umwelt oder spezifischen Erfahrungen ein riesiger Überschuss an Verbindungsstellen zwischen
Neuronen. Im Laufe der Entwicklung wird
dieses Überangebot an Synapsen in Abhängigkeit von deren Nutzungsgrad wieder abgebaut. Für die Selektion von Verbindungen sind demnach Erfahrungen essentiell. Die sich für die Verarbeitung als
nützlich erweisenden Kommunikationsstellen werden weiter verstärkt und differenzieren sich funktionell aus. Für die Gehirnentwicklung sind also Selektion,
Wachstum und Differenzierung charakteristische Merkmale. Dabei spielen Erfahrungen, das heißt die Umwelt des heranwachsenden Systems, eine entscheidende
Rolle. Diese, so die Annahme, garantieren, dass sich unsere neuronalen Systeme
bestmöglich auf die Anforderungen in einer bestimmten Umwelt einstellen.
Die Frage, wie sich das (menschliche)
Gehirn und parallel dazu mentale Funktionen (Wahrnehmung, Kognition, Emotion,
Persönlichkeit etc.) entwickeln, wird unter anderem mit zwei Untersuchungsansätzen erforscht: Prospektive Studien untersuchen die funktionelle Entwicklung und deren neuronale Korrelate vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenenalter. So lässt
sich erschließen, welche Veränderung im
Gehirn mit welchen funktionellen Fortschritten, etwa dem Erwerb von Wahrnehmungsleistungen, kognitiven oder motorischen Fähigkeiten, einhergeht. Die enormen Fortschritte in nicht-invasiven neurowissenschaftlichen Verfahren, beispielsweise der Messung von Gehirnströmen
(Elektroenzephalographie), erlauben es
mittlerweile, Hirnfunktionen bei Neugeborenen und Säuglingen zu verfolgen.
Während diese Forschung Aufschluss
über die typische Entwicklung gibt, kann
die Frage der Erfahrungsabhängigkeit,
das heißt die Rolle der Umwelt für die Entfaltung des Entwicklungsprogramms,
nicht vollständig beantwortet werden.
Dies liegt daran, dass es sich aus ethischen
Gründen verbietet, Umwelten von Säuglingen und Kindern systematisch zu manipulieren. Erfahrungsabhängig ist ein neurokognitiver Prozess dann, wenn gezeigt werden kann, dass dieser sich nur in bestimmten Erfahrungskontexten entwickelt. Man
spricht von sensiblen Phasen in der Entwicklung, wenn während bestimmter Lebensphasen spezifische Erfahrungsmöglichkeiten gegeben sein müssen, damit
sich eine Funktion voll entwickelt. Sensible Phasen sind also Zeitfenster erhöhter
Plastizität. Plastizität bedeutet, dass das
HIRN
FORSCHUNG
HEUTE
FOLGE 17
Gehirn während dieser Zeit besonders anfällig für funktionelle und strukturelle Veränderungen ist. Für Kognition und Verhalten bedeutet dies, dass das System besonders leicht und schnell lernt. Lernen ist
also eine psychische Funktion, die aus der
Neuroplastizität des Gehirns hervorgeht.
Um sensible Zeitfenster der Entwicklung beim Menschen identifizieren zu können, müssen Menschen untersucht werden, die in der Vergangenheit, entweder
von Geburt an oder zu einem späteren Lebensalter, einer atypischen Umwelt ausgesetzt waren. Retrospektive entwicklungspsychologische Studien erforschen zum
Beispiel die Anpassungsfähigkeit des neurokognitiven Systems an eine permanente
Blindheit oder Gehörlosigkeit. Hier wird
untersucht, wie das neurokognitive System kompensatorisch auf diese für den
Menschen unerwartete Umwelt reagieren
kann. Indem unterschiedliche Wahrnehmungsleistungen und kognitive Funktionen untersucht werden, erhält man Aufschluss über das Plastizitätspotential unterschiedlicher Funktionsbereiche und
der damit assoziierten Hirnregionen.
Vergleicht man diese kompensatorischen Reaktionen bei Menschen, die beispielsweise bei Geburt blind waren, mit
solchen, die erst im Erwachsenenalter erblindet sind, kann man Rückschlüsse auf
sensible Phasen für die Entwicklung spezifischer Funktionen ziehen. Um sensible
Phasen für die „typische“ Entwicklung
und die zugrundeliegenden neuronalen
Mechanismen zu identifizieren, muss jedoch die Erholung neurokognitiver Funktionen nach einer atypischen Erfahrung
bei Wiederherstellung der typischen Umwelt erforscht werden. Als Modell im Humanbereich werden hier Personen betrachtet, die durch eine Operation nach einer
kongenitalen oder später eingesetzten
Blindheit das Augenlicht wiedererlangen.
Dies sind Menschen, die mit einer dichten
beidäugigen Linsentrübung (Katarakt) ge-
Natur und Wissenschaft
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Wenn das Gehirn
sich formen lässt
Das Gehirn hat sensible Phasen, in denen es intensiv lernt. Ist die Umwelt aber ungünstig,
bleiben manche Entwicklungsschritte aus, etwa bei zeitweilig Erblindeten. Doch es gibt den Traum von
einer Pille, die das Gehirn auch später noch wieder plastisch werden lässt. Von Brigitte Röder
tenzieren sich Investitionen in die frühkindliche Entwicklung mit jedem weiteren Lebensjahr. Wird während sensibler
Phasen die strukturelle und funktionelle
Ausformung von neuronalen Systemen
nicht „angestoßen“, etwa durch ungünstige Umwelten, kann dies während späterer Entwicklungsphasen nicht mehr vollständig nachgeholt werden; Kompensationsmaßnahmen sind dann mühsam, zeitaufwendig und damit kostenintensiv. Aus
ökonomischer Sicht ist damit die frühkindliche Entwicklung mit ihren sensiblen Phasen für die Lebensqualität von
Menschen und für den Wohlstand einer
Gesellschaft von besonderer Bedeutung.
N
ichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass sensible Phasen häufig nicht bedeuten,
dass ein Lernen nach deren
Ende absolut nicht mehr möglich ist. Zum Beispiel kann jeder Mensch
bis ins hohe Alter eine Fremdsprache lernen, jedoch ist deren Erwerb deutlich
mühsamer und das Ergebnis nur relativ unvollständig im Vergleich zum Erwerb während der frühen Kindheit. Dies gilt analog
auch für andere Funktionen. Hier ergibt
sich die Frage, wie die Plastizität nach
Ende der sensiblen Phasen gesteigert werden kann. So wünschenswert auf den ersten Blick eine solche Steigerung der Neuroplastizität auf das Niveau von sensiblen
Phasen erscheinen mag, so sind damit
doch auch Risiken verknüpft. Es kann vermutet werden, dass die Plastizität bestimmter neuronaler Systeme auch deswegen abnehmen muss, damit neue Systeme
diese als Teilfunktion für komplexere
Funktionen nutzen können. So kann man
am Fundament eines Hauses auch nur eingeschränkt Veränderungen vornehmen,
wenn man nicht riskieren will, dass das gesamte Haus in sich zusammenfällt. Das bedeutet, dass die Stabilität von bestimmten,
insbesondere sich früh entwickelnden Systemen eine Voraussetzung für die Entstehung höherer kognitiver Funktionen ist
oder allgemein von Funktionen, die aus
der Aktivität verteilter neuronaler Systeme bestehen. Deswegen müssen Interventionen sicherstellen, dass sie funktionell
spezifisch und nicht systemdestabilisierend wirken. Pharmakologische Interventionen (eine „Plastizitäts-Pille“) erfüllen
diese Voraussetzungen häufig nicht.
Dagegen sind Verhaltensinterventionen vielversprechender, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, die Daphne
Bavelier von der Universität Genf im Jahr
2010 im „Journal of Neuroscience“ beschrieb: Interventionen müssen selbstverstärkend sein, sie müssen Aufmerksamkeit binden, und sie müssen vielseitige Erfahrungen innerhalb des anvisierten
Funktionsbereiches bieten. So konnte
etwa in tierexperimentellen Modellen für
die sogenannte Amblyopie gezeigt werden, dass sich das Sehen durch das betrofANZEIGE
Mädchen in einer Blindenschule: Mit Hilfe von Blinden, die bessere Tast- und Hörleistungen zeigen als Sehende, erforscht man die Plastizität des Gehirns.
boren wurden oder diese im Laufe ihrer
Kindheit entwickelt hatten. Ein anderes
Beispiel sind Studien an Gehörlosen, die
durch eine Hörprothese, ein Cochlea-Implantat, Höreindrücke wiedererlangen.
Kompensatorische Leistungen bei blinden Menschen sind schon seit langem bekannt. Erst die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung konnte die
funktionellen Bereiche und die neuronalen Mechanismen solcher Anpassungen offenlegen. Für Menschen, die vollständig
blind geboren wurden, wurden mittlerweile in einer Vielzahl von Studien bessere
Hör- und Tastleistungen nachgewiesen. So
gelingt es blinden Menschen, das Sprachsignal gerade in einer Umwelt mit vielen
Störgeräuschen schneller zu enkodieren.
Sie weisen ein besseres Gedächtnis für
Umweltgeräusche und Stimmen auf und
können Geräusche präziser orten. Studien
haben gezeigt, dass verschiedene neuronale Mechanismen zu diesen Leistungsverbesserungen beitragen. So wurde berichtet, dass die Abstimmung räumlicher Repräsentationen im Hörkortex und im
Scheitellappen (der Ort der räumlichen
Wahrnehmung auf der Basis multipler Sinneseindrücke) präziser ist als bei sehenden Probanden und Informationen zur
Identität eines Sprechers und zum Inhalt
des Gesagten im Gehirn geburtsblinder
Menschen schneller verfügbar werden als
bei sehenden Kontrollpersonen.
Hier stellt sich die Frage, ob solche Anpassungen auch noch zu beobachten sind,
wenn die Blindheit zu einem späteren Zeitpunkt einsetzt. Dies wäre dann nicht in
gleichem Umfang zu erwarten, wenn die
Anpassung an eine untypische Umwelt an
eine sensible Phase gekoppelt wäre. Eine
späte Blindheit trifft auf ein Gehirn, das
sich auf ein Leben mit Sehen hin entwickelt hat. So kann man feststellen, dass
spät erblindete Menschen für die räumliche Kodierung der Umwelt ähnliche Repräsentationen verwenden wie sehende
Personen und dass sie sich hier von geburtsblinden Menschen unterscheiden.
Häufig findet man für spät erblindete Menschen kompensatorische Anpassungen,
die vom Umfang jedoch geringer sind als
bei geburtsblinden Menschen. In manchen Funktionsbereichen sind spät erblindete und geburtsblinde Menschen hinsichtlich ihrer Leistung nicht zu unterscheiden,
zum Beispiel beim Orten von Schallquellen oder Wiedererkennen von Stimmen.
Aus letzterem Befund würde man schließen, dass die jeweilige Funktion ein Leben lang plastisch bleibt und sich kompensatorisch auch noch im Erwachsenenalter
verändern kann. Diese Schlussfolgerung
ist jedoch oft verfrüht: Unser Gehirn kann
verschiedene Strategien anwenden, um
zum gleichen Ergebnis, das heißt Verhalten, zu kommen. Welcher Verarbeitungsmodus und damit welche neuronalen Systeme zum Einsatz kommen, kann auf der
Basis der reinen Beobachtungen von Verhalten nicht entschieden werden. Hier
müssen neurowissenschaftliche Verfahren zum Einsatz kommen, um die neuronalen Systeme direkt zu beobachten. So
konnte etwa gezeigt werden, dass geburtsblinde Menschen ihre in sensorischen
Arealen kodierten räumlichen Repräsentationen für die Schalllokalisation verfeinern. Dagegen verbessern spät erblindete
Menschen eher spätere, die höheren Assoziationsareale involvierenden Selektionsprozesse. Diese Daten sprechen dafür,
dass ersterer Plastizitätsprozess nur während der frühen Entwicklung anpassungsfähig ist, also eine sensible Phase hat, letztere jedoch Anpassungen ein ganzes Leben lang ermöglicht.
A
n diesem Beispiel wird auch
klar, dass ein Einbeziehen
neurowissenschaftlicher Methoden für die Identifikation
von sensiblen Phasen in der
Entwicklung unabdingbar ist. Sensible
Phasen in der Entwicklung bedeuten aber
in erster Linie auch, dass, wenn bestimmte Lernmöglichkeiten in der frühen Entwicklung fehlten, neuronale Systeme und
assoziiertes Verhalten sich nicht mehr
vollständig entwickeln können. Das
heißt, dass für eine typische Entwicklung
typische Lernumwelten zu einem bestimmten Zeitpunkt unabdingbar sind.
Analog zu Studien an permanent blinden
Menschen kann diese Frage an Personen
untersucht werden, die aufgrund einer
beidäugigen dichten Linsentrübung (Katarakt) seit Geburt blind waren, bevor die
geschädigten Linsen durch Kunstlinsen
oder spezielle Sehhilfen ersetzt wurden
und Sehinformationen so wieder aufgenommen werden konnten.
Ebenfalls analog zum Modell der permanent blinden Menschen werden als
Vergleichsgruppe Menschen untersucht,
bei denen sich die Katarakte erst später,
zum Beispiel im Laufe der Kindheit, entwickelt hatten. Bei diesen Probanden hat
sich zumindest für einige Zeit die Gehirnentwicklung als sehender Mensch vollzogen; nach der Beseitigung der Linsentrübung erreichen die Sehinformationen ein
visuell „geprägtes“ Gehirn. Im Falle der
Personen mit kongenitalen Katarakten dagegen treffen Sehinformationen das erste
Mal auf ein Gehirn, das sich vorher auf
ein Leben ohne Sehen eingestellt hatte.
Kann, und wenn ja, bis wann, das neurokognitive System zur typischen Entwicklungstrajektorie zurückkehren? Stu-
dien an diesen Menschen haben gezeigt,
dass schon eine Blindheit von relativ kurzer Dauer nicht nur elementare Sehfunktionen wie die Sehschärfe dauerhaft vermindert, sondern auch eine Reihe von
komplexeren Sehleistungen wie die Wahrnehmung von Gesichtern und Objekten.
Dabei wurde beobachtet, dass auch Funktionen betroffen sein können, die sich
erst spät in der Entwicklung zeigen, das
heißt zu einem Zeitpunkt, als schon keine
Katarakte mehr existierten. Dieses Phänomen wird als „Sleeper“-Effekt bezeichnet
und deutet darauf hin, dass Erfahrungen
erst latent die Entwicklung neuronaler
Systeme verändern können, was zu bleibenden Veränderungen in sich später entwickelnden Systemen führt.
Doch nicht nur Sehfunktionen sind bei
Personen nach kongenitaler Katarakt permanent verändert; auch die Kommunikation des Sehsystems mit anderen Sinnessystemen. So verstehen wir andere Menschen bei lauten Hintergrundgeräuschen
besser, wenn wir ihre Lippenbewegungen
verfolgen können. Dieser Prozess des Bindens von Eingängen aus verschiedenen
Sinnessystemen wird multisensorische Integration genannt. Menschen, die eine
kongenitale Katarakt hatten, können
zwar Lippen lesen, sie können diese aber
nicht mehr mit der Hörinformation so
kombinieren, dass sie ihr Sprachverstehen dadurch verbessern könnten. Bildgebende Studien haben gezeigt, dass die
Sehinformation nicht im Hörkortex an-
Foto Andrea Kuenzig/laif
kommt, wo sie normalerweise mit den
Höreingängen verknüpft wird. Diese Studien zeigen, dass nicht nur das Vorhandensein von bestimmten Erfahrungen für
die Entwicklung und die Interaktion von
neuronalen Systemen erforderlich ist, sondern auch die Reihenfolge oder die „Orchestrierung“ dieser Erfahrungen eine
große Rolle für die Gehirnentwicklung zu
spielen scheint. Es kann angenommen
werden, dass die am Modell von Menschen mit sensorischen Beeinträchtigungen identifizierten Prinzipien der menschlichen Gehirnentwicklung auch für andere Funktionsbereiche wie die emotionale,
motivationale und soziale Entwicklung
gelten, die einer wissenschaftlichen Untersuchung weniger gut zugänglich sind.
In einer Übersichtsarbeit von Eric
Knudsen von der Stanford University aus
dem Jahr 2004 fasst der Autor Ergebnisse
überwiegend tierexperimenteller Arbeiten zusammen, die die Rolle frühkindlicher Erfahrungen für die funktionelle Gehirnentwicklung und die Plastizität des
Gehirns und damit die Lernfähigkeit zu
einem späteren Zeitpunkt im Leben belegen. Zusammen mit Kollegen aus der Soziologie und der Ökonomie leitete der
gleiche Autor zwei Jahre später Konsequenzen für die Gesellschaft ab. In diesem Artikel wird eindrücklich dargelegt,
dass frühkindliches Lernen und frühkindliche Lernumwelten einen entscheidenden Einfluss auf das spätere Leistungsund Lernpotential haben. Demnach po-
Prof. Dr. Brigitte Röder
Die Vortragsreihe
Brigitte Röder studierte Psychologie
an der Universität
Marburg. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der University of Oregon wurde
sie eine der ersten
Leiterinnen im damals neuen Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 2004 ist Brigitte Röder Professorin für Biologische Psychologie und Neuropsychologie an der
Universität Hamburg. Sie ist Mitglied
der Leopoldina; ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die
Neuroplastizität des Gehirns und die
Interaktion der Sinnessysteme.
Die Erwartungen an die Neurowissenschaften, aber auch die Versprechungen der Hirnforschung selbst sind
hoch. Aber was kann sie wirklich? In
dieser Artikelserie stellen wir die Frage nach Erfolgen und Möglichkeiten,
aber auch Rückschlägen und Grenzen
der modernen Neurowissenschaften in
gesellschaftlich interessierenden Bereichen. Basierend auf einer Vortragsreihe, die in Frankfurt von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung als größtem
privaten Förderer der Hirnforschung
organisiert wird, publizieren wir in losen Abständen Beiträge führender
Hirnforscher zu den Themen Sprache,
Technik, Wirtschaft, Krankheit, Kunst,
Denken, Musik, Bewusstsein, Gefühle,
Schule, Gedächtnis und Psyche.
N AT U R U N D
WISSENSCHAFT ONLINE.
VON 1993 BIS ZUR AKTUELLEN AUSGABE.
W W W.FA Z-W I S S E N S C H A F T.D E
A B 24,90 €
PRO JAHR
fene Auge nach Ende der sensiblen Phase
besser erholt, wenn die Tiere in angereicherte Käfige mit reichlich Explorationsmöglichkeit gesetzt wurden. Amblyopie
bezeichnet ein Auge mit sehr geringer Sehleistung durch zentrale (im Gehirn entstehende) Unterdrückung der Eingänge für
dieses Auge zum Beispiel nach frühkindlicher Schielstellung. Auf diesen Ergebnissen aufbauende erste Studien am Menschen haben gezeigt, dass Videospiele zu
bisher nicht beobachteten Steigerungen
der Sehleistung bei Menschen mit Amblyopie führen können. Videospiele erfüllen
die Ansprüche an eine effiziente und effektive Verhaltensintervention: Sie „machen
Spaß“ (sie sind also selbstverstärkend), sie
sind fesselnd (sie binden also Aufmerksamkeit), und sie sind häufig durch sukzessiv ansteigende Schwierigkeit und Komplexität gekennzeichnet (sie bieten also
vielseitige Erfahrungen). Deswegen werden heute „Gamification“-Möglichkeiten
im therapeutischen Kontext für maßgeschneiderte Interventionen diskutiert.
Die emotionalen und motivationalen
Aspekte solcher therapeutischen Spiele
führen möglicherweise zusätzlich zu einer allgemein gesteigerten Plastizität, diese kommt aber nur in den neuronalen Systemen zur vollen Expression, die durch
ein zusätzliches (Wahrnehmungs- oder
kognitives) Training angesprochen werden. Man nimmt an, dass so die gewünschte Selektivität erzielt werden kann. Ähnliche Wirkungsmechanismen schreibt man
anderen Interventionen zu, zum Beispiel
körperlicher Bewegung. Ob Pharmaka
ähnliche Wirkungen erzielen könnten,
muss zukünftige Forschung zeigen.
Der Mensch verfügt also ein ganzes Leben lang über ein gewisses Niveau an Neuroplastizität und damit Lernfähigkeit, die
möglicherweise weiter in bestimmten
Grenzen ausgebaut werden kann. Diese
individuellen Grenzen, das legen die Studien zur Entwicklungsplastizität nahe,
werden für jedes Individuum auch durch
seine frühkindlichen Lernmöglichkeiten
gesetzt. Damit sind beide, sich auf den ersten Blick widersprechende Volksweisheiten wahr: „Was Hänschen nicht lernt,
lernt Hans nimmermehr“ (sensible Phasen) und „Zum Lernen ist es nie zu spät“
(Erwachsenenplastizität).