FASD: Betreff: aus HAZ 09.09.2015 1. Betrunken

FASD: Betreff: aus HAZ 09.09.2015
1. Betrunken geboren
Drama im Verborgenen: Jedes Jahr kommen 10 000 Kinder geistig behindert
zur Welt, weil ihre Mütter Alkohol getrunken haben Von Heike Manssen
Erst neulich hat sie ihrer Tochter mal wieder erklärt, wie das geht mit dem Staubsauger.
Gefühlt zum 100. Mal, sagt sie: Kabel ausrollen, Stecker in die Steckdose, Startknopf
drücken. Das Mädchen – nennen wir es Jasmin, es will wie seine Mutter seinen Namen
nicht in der Zeitung lesen – wird den Ablauf wieder vergessen. „Dann steht meine
Tochter vor dem Staubsauger und sieht das Ding an, als hätte sie so etwas noch nie im
Leben gesehen“, erzählt die Mutter.
Die 14-jährige Jasmin ist krank. Eingeschränkt in ihrer Lernfähigkeit, in ihrer
Selbstständigkeit, in ihrer Fähigkeit, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist. Jasmin ist
krank, weil ihre damals erst 18-jährige Mutter während der Schwangerschaft Alkohol
getrunken hat.
Viel Alkohol, erzählt die Frau am Telefon, und ihre Stimme hört sich etwas heiser an.
Warum und weshalb, darüber möchte sie nicht reden. Mehr als einen Kontakt am Telefon
will sie auch nicht. Manchmal tauscht sie sich über das Netz mit anderen Müttern aus,
viele davon sind Pflegemütter. Meist geht es um die Kinder, weniger darum, warum ihre
leiblichen Mütter getrunken haben.
Jasmin stand schon bei ihrer Geburt die Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes ins
Gesicht geschrieben: Ihr Kopf war klein, Stirn und Kinn fliehend, der Nasenrücken
verkürzt, die Augenlider herabhängend – alles äußere Hinweise auf das Fetale
Alkoholsyndrom (FAS), die ausgeprägteste Form von FASD, der Fetalen
Alkoholspektrumsstörung. Die körperlichen Besonderheiten haben sich bei Jasmin etwas
verwachsen. Die Schädigung des Gehirns durch den Alkohol, den sie im Mutterleib
aufnehmen musste, ist geblieben.
Je nach Schwere der Krankheit können die Kinder leichte kognitive Störungen bis hin zu
gravierenden Einschränkungen der Denkleistung haben. Vielen sieht man es nicht an,
dass sie an FASD leiden. Experten sprechen von einer unsichtbaren Behinderung. Die
allzu oft gar nicht oder falsch diagnostiziert wird.
Gisela Michalowski kennt das Problem. Die 53-Jährige aus Lingen im Emsland hat acht
Kinder: vier eigene, drei Pflegekinder und ein Adoptivkind. Ihre leiblichen Kinder sind
gesund und selbstständig, die Pflegetöchter und der Adoptivsohn leiden an FASD und
brauchen Hilfe. Doch das zu erkennen hat lange gedauert.
Der Adoptivsohn, mittlerweile über 30, und eine leibliche Tochter sind gleich alt: „Ich
habe mich immer gefragt, warum viele Dinge bei meiner Tochter funktionieren, bei
meinem Sohn aber überhaupt nicht. Da fragt man sich schon, was man falsch macht.“ So
kam es vor, dass sich der Junge zwei Wochen lang prima selbst die Schuhe habe
zubinden können, in der dritten plötzlich nicht mehr. Und das, obwohl er einen IQ von
über 100 hat und besonderes Talent in naturwissenschaftlichen Fächern an den Tag
legte. Erst im Alter von 19 Jahren wurde bestätigt, dass er FAS hat. „Eine frühere
Diagnose hätte ihm viel Leid erspart“, sagt die Mutter. Immerhin: Er hat die mittlere Reife
geschafft, eine Ausbildung beendet, arbeitet. Aber bis heute steht dem jungen Mann, der
kürzlich Vater geworden ist, ein gesetzlicher Betreuer zur Seite, der ihm im Alltag bei
komplexeren Dingen hilft.
Bei den Töchtern war die Sache weitaus früher klar. Eines der Mädchen hatte noch bei
der Geburt Alkohol im Blut. Das jüngste Pflegekind ist jetzt zehn Jahre alt. Es ist das
einzige, bei dem die Michalowskis von Beginn an wussten, dass es FAS hat. Auch das
Gehirn dieses Mädchens wurde durch Alkohol schwer geschädigt, die Kleine geht in eine
Förderschule, das Lesen fällt ihr schwer, sie beherrscht nicht einmal ansatzweise das
kleine Einmaleins. Sie ist unkonzentriert, ziemlich laut, hyperaktiv und auch nachts
extrem unruhig, weil sie wie viele ihrer Leidensgenossen am Restless-Legs-Syndrom,
also unruhigen Beinen, leide, erzählt Michalowski.
Die Sozialpädagogin weiß mittlerweile viel über die Krankheit, seit zehn Jahren ist sie
Vorsitzende des Vereins FASD Deutschland. Aber es gibt Momente, da klingt selbst
diese tatkräftige Frau fassungslos. Da rutschen ihr Sätze wie dieser hinaus: „FASD ist die
einzige Behinderung eines Kindes, die zu 100 Prozent vermieden werden kann.“
Gestern, bei einer Pressekonferenz der Bundesdrogenbeauftragten zum „Tag des
alkoholgeschädigten Kindes“ am heutigen Mittwoch, hat sie diesen Satz gesagt. Da ging
es um die neuesten Zahlen.
Jedes Jahr kommen nach Angaben der Drogenbeauftragten rund 10 000 Kinder mit
geistigen und körperlichen Schädigungen zu Welt, weil ihre Mütter in der
Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. Mehr als 2000 Neugeborene sind besonders
schwer geschädigt. 18 Prozent der Bundesbürger halten ein Gläschen Sekt oder ein Bier
während der Schwangerschaft für vertretbar. Fast jede fünfte Schwangere trinkt Alkohol.
Warum machen die Mütter das? Viele, weil sie nicht anders können, manche, weil sie es
nicht besser wissen. Ärzte warnen davor, diese Frauen an den Pranger zu stellen: Als
Alkoholsüchtige sind sie selbst krank. Und der Rest der Gesellschaft ist auch nicht
klüger. 56 Prozent der Bevölkerung ist einer Studie der Privaten Krankenversicherungen
zufolge gar nicht bewusst, dass Alkohol das heranwachsende Kind so schwer und so
dauerhaft schädigen kann. Politiker von CDU und SDP werben deshalb dafür, auf
Flaschen mit alkoholischen Getränken einen gesetzlich vorgeschriebenen deutlichen
Warnhinweis anzubringen. Eine Forderung, die immer wieder mal erhoben wird. Passiert
ist nichts.
Auch der FASD-Verein plädiert schon lange für große Warnhinweise. Vor allem aber
suchen die betroffenen Eltern Hilfe. Wie werden die Kinder am besten gefördert? Wo
können Erwachsene mit FASD in Sicherheit leben? 80 Prozent der geschätzt 500 000 bis
600 000 alkoholgeschädigten Erwachsenen sind nicht in der Lage, ein eigenständiges
Leben zu führen. 30 Prozent entwickeln selbst ein Suchtproblem.
Strukturen und Regeln haben für viele keine Bedeutung. Zeit, Wissen, Konsequenzen,
Zusammenhänge sind Dimensionen, in denen sie sich kaum zurechtfinden. Michalowski
nennt ein Beispiel: „Wenn im Winter die Sonne scheint, wollen meine Mädchen mit Top
und kurzer Hose nach draußen.“ Kälte und Sonne gleichzeitig, das ist für die jungen
Frauen nicht nachvollziehbar.
Fremde merken es übrigens meist gar nicht, dass Jasmin Probleme hat. Sie redet munter
mit in Unterhaltungen, hat gelernt, Schwächen zu überspielen. Zu ihrem eigenen
Nachteil. Sie wird leicht überschätzt, wie so viele FASD-Menschen. Das erzeugt Druck –
der sich in Aggressivität, in heftigen Wutausbrüchen äußert. Und Jasmin nicht gerade
beliebt macht.
Die Pflegekinder von Gisela Michalowski wissen alle, warum sie anders als andere sind.
Sie wissen, dass ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben.
Sind sie wütend auf ihre Mütter? Hadern sie mit ihnen? Jasmin will es nicht zulassen.
„Sie war doch alkoholsüchtig. Sie war doch krank.“
2. „Sie quälen sich“: Babys auf Entzug
Bei 32 bis 43 Prozent liegt das Risiko, dass eine alkoholabhängige Schwangere ein
körperliche oder geistig behindertes Kind zur Welt bringt. Und fast immer muss das Kind
unmittelbar nach seiner Geburt auf Entzug gesetzt werden – weil sein Organismus sich
schon im Mutterleib an die tägliche Dosis Alkohol gewöhnt hat.
Es sind grauenvolle Tage für die Neugeborenen. Sie schreien viel, sind unruhig,
schwitzen. „Ja, sie quälen sich“, beschreibt eine Hebamme diesen „schwer zu
ertragenden Zustand“. Trotzdem werden Mütter viel zu selten gewarnt. Das sogenannte
Fetale Alkoholsyndrom ist immer noch eine wenig bekannte Krankheit, auch unter
Ärzten. Längst nicht immer ist das Syndrom schon bei der Geburt eindeutig erkennbar.
Die wissenschaftliche Fachgesellschaft für Neuropädiatrie stellte aber auch fest, dass die
Diagnose zu selten gestellt wird, da „die professionellen Helfer im Gesundheitssystem
Hemmungen haben, einen diesbezüglichen Verdacht auszusprechen oder zu wenig über
das Krankheitsbild informiert sind“. Dabei beruhige die richtige Diagnose häufig auch die
Situation in den Familien.
3. „Ein Vollrausch ist fatal“ Interview: Heike Manssen
Wenn Schwangere ab und zu ein Gläschen Sekt oder Wein trinken – ist das wirklich so
schlimm?
Auch geringe Mengen können das ungeborene Kind schädigen. Doch so genau lässt
sich das nicht sagen, die Studien dazu zeigen da eine erhebliche Bandbreite auf. Klar ist,
dass Alkoholmissbrauch die häufigste Ursache angeborener geistiger Behinderung in
Deutschland ist. Von 1000 Kindern kommen jährlich etwa acht mit dem
schwerwiegenden Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) zur Welt. Hinzu kommt noch die große
Gruppe derjenigen, die einzelne Anzeichen der Schädigung aufweisen. Um all das
auszuschließen, sollten Frauen in der Schwangerschaft komplett auf Alkohol verzichten.
Sind es eher Frauen mit wenig Bildung, die in der Schwangerschaft trinken?
Nein, FASD ist nicht nur ein Problem der Unterschicht. Gerade ältere Akademikerinnen
greifen gerne zu Sekt und Wein. Oft werden Frauen sogar noch ermuntert, trotz
Schwangerschaft mal ein Glas zu trinken.
In welcher Phase der Schwangerschaft ist das Risiko besonders groß?
Eigentlich in der gesamten Schwangerschaft. Im ersten Drittel wirkt sich der
Alkoholkonsum deshalb stark aus, weil in dieser Zeit die Organe angelegt werden.
Danach reift das Gehirn über den gesamten Zeitraum und ist daher besonders gefährdet.
Fatal wirkt sich ein Vollrausch aus, denn bei dem Fötus bleibt der Alkohol viel länger im
Körper, weil die Leber noch nicht so ausgebildet ist.
Sind Cannabis oder Zigaretten ähnlich gefährlich?
Natürlich schaden auch Nikotin und andere Drogen dem Kind. Nikotin geht
beispielsweise an die Rezeptoren für das Wachstum heran, die Kinder von Raucherinnen
kommen oft kleiner zur Welt. Doch Alkohol wirkt sich dramatischer aus, da der Stoff ein
Zellgift ist und in den Zellstoffwechsel und wahrscheinlich sogar in die Genetik eingreift.
Alkohol schädigt das Gehirn, und die Schäden sind nicht mehr zu reparieren.
Glauben Sie, dass Warnhinweise auf Alkoholflaschen sinnvoll sind?
Aufklärung und Prävention sind wichtig, aber nicht alles. Wir müssen auf die vielen
Kinder schauen, die schon da sind, sie gezielt fördern und versorgen.
4. Gespräche über das FAS-Syndrom HAZ 10.09.2015
Welche Förderungen, Grenzen und Unterstützungen brauchen Kinder mit
vorgeburtlichen Alkoholschäden? Welche Perspektiven bieten sich im
Erwachsenenalter? Um sich über diese Fragen auszutauschen, veranstaltet die
Selbsthilfegruppe für Menschen mit Fetalem Alkoholsyndrom (FAS) am Dienstag, 29.
September, ein Gruppentreffen in der Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle im
Selbsthilfebereich (Kibis), Gartenstraße 18. Von 15 bis 16.30 Uhr können sich betroffene
Angehörige über ihre Erfahrungen austauschen.
Anmeldungen nimmt Claudia Walderbach unter Telefon (05 11) 66 65 67 montags,
dienstags und donnerstags von 9 bis 12 und von 13 bis 16 Uhr sowie mittwochs von 16
bis 19 Uhr oder im Internet auf der Seite kibis-hannover.de entgegen. lea