Spuren des Alkohols

M e d iz i n
Vo rg e b u rtl i c h e s Trauma
Spuren des Alkohols
Auch Schwangere, die nur ab und zu »ein Glas zu viel« trinken, gefährden das
­Ungeborene. Die Folgen einer Hirnschädigung werden erst später sichtbar
und oft nicht auf den Alkoholkonsum zurückgeführt. Wie erkennt man betroffene Kinder, und ­welche Unterstützung brauchen sie?
Von R e i n h o ld Fe ldma n n
D
er fünfjährige Leon sitzt im
schen Veränderungen im Gesicht (siehe »Ins Ge-
­Restaurant keine fünf Minuten
sicht geschrieben«, rechts) und Minderwuchs er-
still. Plötzlich greift er sich das
kennbar sein. Diese eindeutigen Fälle stellen aber
Besteck und rennt damit wild
nur die Spitze des Eisbergs dar: Alkohol hemmt
herumfuchtelnd durch die Ge-
beim Ungeborenen das Wachstum sämtlicher
gend. Seine Mutter will ihn zurückhalten, aber er
Organe. Und das trifft besonders das komplexe
reagiert nicht auf ihr Schimpfen. Die anderen
Gehirn. Sehr viel häufiger als äußerlich sichtbare
Gäste sind irritiert: Was ist denn mit dem Kind
Folgen sind daher alkoholbedingte Hirnschädi-
los? Eine Frau sagt kopfschüttelnd: »Der ist aber
gungen, die später zu geistigen, sozialen und
frech – und offenbar sehr schlecht erzogen!«
emotionalen Beeinträchtigungen führen können.
Einmal mehr beschleichen Leons Eltern
Sind die körperlichen Anzeichen nur schwach
Schuldgefühle. Der Junge ist ihr Adoptivkind,
ausgeprägt oder gar nicht erkennbar, muss für
und sie wissen: Er hatte keinen guten Start. Ein
die Diagnose eines »partiellen FAS« oder von
paar Tage nach der Geburt wurde er von seiner
»entwicklungsneurologischen Schäden nach
Mutter getrennt, kam in ein Heim, erst ein halbes
vor­­geburtlicher Alkoholexposition« zwingend
Jahr später zu ihnen. Sind diese traumatischen
die Vorgeschichte herangezogen werden. Das ist
Au f ei n en B lic k
Erlebnisse die Ursache für Leons Verhalten? Oder
aber oft schwierig bis unmöglich: Welche Mutter
Unterschätzte
Gefahr
müssten sie mit ihm wirklich viel strenger sein?
gibt schon offen zu, dass sie während der Schwan-
1
In Deutschland k­ ommen jährlich etwa
6500 Kinder zur Welt, die
im Mutterleib durch Alkohol geschädigt wurden.
2
Oft sehen sie unauffällig aus, ihr Gehirn
wurde aber in Mitleidenschaft gezogen. Das kann
später zu gravierenden
geistigen, sozialen und
emotionalen Problemen
führen.
3
In diesem Fall brauchen die Betroffenen
bis ins Erwachsenenalter
hinein eine besondere
Förderung, Betreuung
und Unterstützung.
66
Viele Adoptiv- und Pflegeeltern, die Rat in un-
gerschaft getrunken hat? Rund 80 Prozent der
serer Ambulanz (Tagesklinik Walstedde) suchen,
in unserer Ambulanz vorgestellten Kinder sind
schildern ähnliche Erfahrungen und ahnen be-
Pflege- oder Adoptivkinder. Oft sind die leibli­
reits: Die Probleme könnten noch tiefer wurzeln,
chen Mütter nicht erreichbar. Darüber, ob und
nämlich schon in der Zeit vor der Geburt. Nicht
wie viel Alkohol sie konsumiert haben, können
selten bestätigt sich der Verdacht. Nach unseren
wir dann nur spekulieren.
Schätzungen leiden von den jährlich in Deutsch-
Die Studienergebnisse zu den Folgen mäßi-
land geborenen Kindern zirka 6500 unter den
gen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft
Folgen mütterlichen Alkoholkonsums in der
sind widersprüchlich. Deshalb bezweifeln man-
Schwangerschaft. Die Symptome sind sehr unter-
che, dass er eine ernsthafte Gefahr darstellt (sie-
schiedlich ausgeprägt. Rund 2000 davon, also
he Beitrag ab S. 72). Fest steht aber: Nicht nur
etwa 3 von 1000 Kindern, zeigen das Vollbild – das
­alkoholkranke Frauen gebären Kinder mit FAS.
»fetale Alkoholsyndrom«, kurz: FAS (siehe »Kurz
Selbst bei Kindern, deren schwangere Mütter
erklärt«, S. 68). Zahlen aus den USA und Frank-
glaubhaft versichern, lediglich ein Glas pro Wo-
reich bewegen sich in ähnlicher Größenordnung.
che getrunken haben, häufen sich laut verschie-
Bei der Diagnose FAS muss die Schädigung an
denen Studien FAS-typische Verhaltensprob­le­me.
körperlichen äußerlichen Merkmalen, etwa typi­
Die Gefahr durch moderaten Alkoholkonsum be­
Gehirn und Geist
Gehirn und Geist / Martin Burkhardt
SPEZIAL
Schwanger­
schaft
Ins Gesicht geschrieben
A
lkohol in der Schwangerschaft kann
wobei die Rinne (das »Philtrum«) undeut­
ausgeformt (in der Zeichnung nicht
bei den Kindern zu Fehlbildungen
lich wirkt. Die Oberlippe ist ­schmäler,
zu sehen).
sämtlicher Körperteile führen, etwa an
eingezogen und weniger geschwungen.
Händen und Füßen. Besonders charak­­te­
Außerdem weisen die Nasenlöcher
anderen Kriterien machen es meist recht
ris­tisch für das »fetale Alkohol­syndrom«
­auffallend nach vorne. Die Augen sind
einfach, das voll ausgeprägte Krankheits­
sind allerdings Anomalien des Kopfes,
kleiner, wodurch der Eindruck ent­stehen
bild zu erkennen. Sehr oft schwächen
von denen hier einige illustriert sind.
kann, als würden sie extrem weit aus­
sich die äußerlichen Merkmale aber mit
Als markantes Zeichen gilt der größere
einanderstehen. Häufig setzen die Ohren
der Zeit so stark ab, dass ältere Kinder die
­Abstand zwischen Nase und Mund,
tief an, gelegentlich sind sie nicht gut
Diagnosekriterien nicht mehr erfüllen.
9_2015
Solche Fehlbildungen zusammen mit
67
stätigte 2014 auch eine unserer eigenen Unter­
Die Folgen des Alkoholkonsums in der
suchungen. Wir werteten Befragungsdaten von
Schwangerschaft fielen schon vor mehr als 150
mehr als 7000 Kindern im Alter zwischen drei
Jahren auf. Bereits 1865 beschrieb Wilhelm Busch
und zehn Jahren und ihren Eltern aus. Dabei fan-
(1832 – 1908) in seiner Bildergeschichte »Max
den wir Hinweise darauf, dass sich Auffälligkei­
und Moritz« erstmals ein vorgeburtlich alkohol-
ten bereits mehrten, wenn die Mütter während
geschädigtes Kind. Buschs Werke entstanden in
Ku rz er kl ärt
der Schwangerschaft mäßig getrunken, und noch
der künstlerischen Epoche des Realismus. Fern
Fetales Alkoholsyndrom
(FAS)
bezeichnet das voll
ausgeprägte Krankheitsbild einer Schädigung des
Embryos durch Alkohol
im Mutterleib. Bei jüngeren Kindern ist es an
typischen äußerlichen
Merkmalen im Gesicht zu
erkennen (siehe auch
»Ins Gesicht geschrieben«, S. 67). So sieht man
im Profil bei diesem
dreijährigen Mädchen
(unten) gut den verkürz­
ten Nasenrücken und das
fliehende Kinn. Weitere
Diagnosekriterien neben
solchen Veränderungen
sind eine Wachstums­
verzögerung sowie
Anomalien des Gehirns.
Beim »partiellen FAS«
fallen die Betroffenen
lediglich in zwei dieser
drei B
­ ereiche auf. Sehr
viele alkoholgeschädigte
Kinder sehen aber auch
ganz unauffällig aus und
zeigen »nur« ein charakteristisches Muster an
kognitiven, sozialen und
emotionalen Störungen.
verstärkt, wenn sie zusätzlich geraucht hatten.
von idealisierenden Darstellungen des Men-
Weltweit sind sich FAS-Forscher darin einig,
schen und seines Schicksals gab der Dichter und
dass Schwangere Alkohol ganz meiden sollten.
Zeichner präzise und oft zugespitzt wieder, was
Denn bis heute ließ sich kein linearer Zusammen-
er in der Wirklichkeit seinerzeit vorfand. Im
hang zwischen der Menge des getrunkenen Alko-
19. Jahrhundert hatte in Deutschland mit der
hols und dem Ausmaß der Symptome nachwei-
Aufhebung alter Schank- und Zunftgrenzen der
sen. Deshalb existiert auch kein Grenzwert, der
Konsum von hochprozentigen Spirituosen er-
ein Risiko für das ungeborene Kind ausschließt.
heblich zugenommen. Der beliebte und billige
Der Einfluss der Gene
Kartoffelschnaps führte zu einer regelrechten
»Branntweinpest«. Mit Sicherheit begegnete
Die Wirkung dieses Zellgifts (siehe »Wie wirkt
Busch häufiger alkoholgeschädigten Kindern. Er
­Alkohol auf das Ungeborene?«, rechts) ist sehr
zeichnete Moritz’ Gesichtszüge mit zahlreichen
vielschichtig: Sie hängt nicht nur davon ab, wann
Kennzeichen eines Jungen mit FAS, etwa fehlt
in der Schwangerschaft und damit in welcher
ihm – im Gegensatz zu Max – die Rinne zwischen
Phase der Entwicklung der verschiedenen Or-
Nase und Mund, die auffallend weit voneinander
gane und Körperteile getrunken wurde. Schon
entfernt sind. Auch einige Verhaltensmerkmale
in den 1990er Jahren legte eine Zwillingsstudie
illustrierte er treffend: Der clevere Max plant
von Ann Streissguth und Philippe Dehaene in
die Streiche, der arglose, nicht gerade schlaue
den USA zusätzlich eine genetische Komponente
Moritz macht mit, wobei er die Konsequenzen
nahe: Während sich die Symptome bei eineiigen
der Missetaten offenbar nicht abschätzen kann.
alkohol­exponierten Geschwistern nach der Ge-
Eine erste französische Studie von Jacqueline
burt sehr ähnelten, variierten sie bei den zwei­
Rouquette zur Symptomatik im Jahr 1957 blieb
eiigen Zwillingen deutlich – manchmal galt eines
zunächst unbeachtet. Erst ein Jahrzehnt später
der Zwillingsgeschwister sogar als gesund. So
griff sie der französische Kinderarzt Paul Le­moine
kann es auch passieren, dass von zwei Frauen, die
auf und veröffentlichte eine eigene Untersu-
ähnlich viel Alkohol getrunken haben, nur eine
chung an 127 Kindern alkoholkranker Mütter.
ein FAS-Kind zur Welt bringt.
Er formulierte die Bestimmungskriterien des
FAS so exakt, dass sie noch heute die Grundlage
der verschiedenen Diagnoseschemata darstellen. Die Amerikaner Ken Jones und David Smith
beschrieben 1973 gleich lautende Forschungs­
ergebnisse zu nur acht Kindern mit Alkoholschädigung auf Englisch und gaben dem Phänomen
seinen Namen. Erst diese Publikation weckte in-
beide Fotos: mit frdl. Gen. von Reinhold Feldmann
ternational Interesse und löste auch in Deutschland Forschung zum FAS aus.
Häufig kann man nur in den ersten drei Lebensjahren den Schweregrad der Alkoholschädigung bestimmen. Viele körperliche Merkmale
schwächen sich im Lauf des Lebens ab. Dennoch
konzentrieren sich die Diagnosesysteme auf
­äußerliche Symptome, festgestellte Anomalien
68
Gehirn und Geist
Wie wirkt Alkohol auf das Ungeborene?
A
lkohol kann wegen seiner geringen
während der Schwangerschaft nicht gut
Gehirn, das sich während der gesamten
molekularen Masse und guten
wachsen. Bei Geburt sind sie daher meist
Schwangerschaft stark entwickelt.
zu leicht und zu klein.
Zahlreiche Schäden wurden beobachtet:
Fett- und Wasserlöslichkeit problemlos die
Plazentaschranke passieren. Dadurch
Alkohol und seine Abbauprodukte
Wasserkopf, Veränderungen im Hirn­
stellt sich beim Embryo schnell die gleiche
wirken zudem unmittelbar giftig auf alle
stamm, in den Basalganglien, eine dün­
Blutalkoholkonzentration ein wie bei der
Körperzellen und behindern die Zell­
nere Ummantelung der Nervenfortsätze
Mutter. Bei ihr wird der Alkohol von der
teilung. Da sich die kritischen Schwanger­
und noch viel mehr.
Leber relativ rasch abgebaut, die unreife
schaftsphasen für einzelne Körperteile
Leber des Kindes ist dazu nicht in der
und Organe zeitlich unterscheiden,
exposition weniger Nervenzellen, dazu ist
Lage. Daher wandert das Zellgift nur sehr
­hängen mögliche Fehlbildungen vom
ihre Entwicklung in die verschiedenen
langsam zurück in den mütterlichen
Zeitpunkt der Alkoholeinwirkung ab:
Zelltypen gestört. In Tierversuchen gingen
Blutkreislauf.
Alle Körperteile können betroffen sein –
außerdem bis zu 30 Prozent der heran­
Alkohol behindert den Transport von
Insgesamt entstehen bei Alkohol­
neben dem Gesicht etwa auch das
wachsenden Hirnzellen unter Alkohol­
Eiweißbaustoffen (den Aminosäuren) über
Skelett, das Herz, die Atemwege, die
einfluss wieder zu Grunde. Das »Massen­
die Plazenta. Dadurch kommt es zu einem
Leber und der Verdauungstrakt.
sterben« könnte eine der Ursachen für
verminderten Aufbaustoffwechsel, so dass
Ganz besonders empfindlich auf die
FAS-Kinder trotz angemessener Ernährung
Wirkung des Alkohols reagiert aber das
ein geringeres Hirnvolumen bei den be­troffenen Kindern sein.
im Gehirn und bekannten mütterlichen Alkohol-
filtern und unwichtige Reize schlecht ausblen-
konsum in der Schwangerschaft. Wie wir 2015
den können, werden ihnen Lärm und Trubel –
bei einer Unter­suchung von 30 betroffenen
etwa im Kindergarten – schnell zu viel.
­zweijährigen Kindern feststellten, entwickelt
Beim Sprechenlernen tun sich alkoholgeschä-
sich aber die Hälfte von ihnen motorisch und
digte Kinder typischerweise schwerer als Gleich-
auch geistig deutlich verzögert. Dies fällt bei den
altrige. Sie artikulieren sich schlechter, machen
(eher selten) termingerecht geborenen FAS-Kin-
mehr Fehler beim Satzbau, und ihr Wortschatz
dern sogar noch stärker auf als bei FAS-Frühchen.
wächst nicht so schnell an. Früher oder später
Letztere profitieren offenbar davon, nicht ganz
sprechen die Kinder aber meist normal und oft
so lange dem Alkohol ausgesetzt gewesen zu sein.
auch sehr viel.
Veränderte Wahrnehmung
Jedoch können sich FAS-Kinder oft nur auf­
fällig kurz konzentrieren. Dann fehlt ihnen die
Unserer Ansicht nach sollten neuropsychologi­
Geduld, und sie brechen Tätigkeiten vorzeitig ab.
sche Auffälligkeiten künftig schon bei der Diag­
Zusammen mit einem eingeschränkten Kurz-
nose stärker beachtet werden. So können Kinder
zeitgedächtnis führt das meist zu Lernschwierig-
mit FAS bereits im Kleinkindalter bei Tests For-
keiten in der Schule: Sie vergessen schnell wie-
men und Figuren schlechter erkennen und Hö-
der, was sie zuvor gelernt haben, können daher
hen nicht so gut einschätzen wie Gleichaltrige.
schlecht Zusammenhänge von aufeinander auf-
Auch übersehen sie häufig Hindernisse, stolpern
bauenden Aufgaben erkennen oder zuvor ge-
oder stoßen sich beispielsweise immer wieder an
lernte Lösungswege auf Neues anwenden. Selbst
der Tischkante. Dabei scheinen sie bemerkens-
alltägliche Pflichten müssen vielen Kindern
wert wenig Schmerzen zu spüren.
­immer wieder aufs Neue erklärt werden. »Das
Ebenso ist das Wärme- und Kälteempfinden
oft gestört, und noch im Jugendalter bemerken
haben wir dir doch schon 100-mal gesagt!«, entfährt es auch Leons Eltern hin und wieder.
die Betroffenen meist nicht, wenn sie nicht wit-
Vor allem aber bereiten logisches Denken und
terungsgemäß angezogen sind. Da sie weniger
komplexe Probleme Schwierigkeiten. Am Univer­
aufnahmefähig sind, Informationen nicht gut
sitätsklinikum Münster testeten wir 135 Kinder
9_2015
FAS-Frühchen
profitieren
­offenbar davon,
nicht ganz so
lange dem Alkohol ausgesetzt
gewesen zu sein
69
mit Alkoholschäden im Alter von 2 bis 18 Jahren.
baren Personen zu wenden. Während aber bei
Nur ein Viertel erzielte annähernd normale Intel-
diesen Kindern die Distanzlosigkeit und andere
ligenzwerte (IQ  80), durchschnittlich erreich-
Folgen eines frühkindlichen Traumas in einer
ten die Kinder lediglich einen IQ von 75. Dieses
fürsorglichen Pflegefamilie zusehends schwin-
Minus von im Schnitt 25 IQ-Punkten fanden wir
den, halten sich solche Symptome bei alkohol­
auch bei den äußerlich unauffälligeren Kindern
geschädigten Kindern oft hartnäckig.
mit der Diagnose »partielles FAS«. Insofern kann
In der Pubertät suchen sie vermehrt den Kon-
man dieses nicht als abgeschwächte Form des
takt zu Altersgenossen, werden aber häufig abge-
Syndroms verstehen. Langzeitstudien belegen
lehnt oder verspottet. Trotz allem können die
vielmehr, dass sich die kognitiven und emotio-
Kinder und Jugendlichen durchaus beliebt sein.
nalen Fähigkeiten ähnlich ungünstig entwickeln
Denn sie sind meist sehr fröhlich und außer­
wie bei Kindern mit dem Vollbild.
ordentlich hilfsbereit. So ist auch Leon zwar an-
Zu wenig Angst
mit frdl. Gen. von Reinhold Feldmann
Auf den ersten Blick vermuten Außenstehende
70
findet sie, ist er ein »gutmütiges Kerlchen«.
Wir haben 125 Biografien betroffener Kinder
­Hyperaktivität, also motorisch unruhiges und
bis ins Erwachsenenalter hinein analysiert. Un-
unkontrolliertes Verhalten, ist bei ihnen unge-
ser Fazit: Die Folgen einer Alkoholschädigung
mein häufig. Auch Leon ist immer in Bewegung,
bleiben lebenslang spürbar. In der Schule tun
springt, rennt, tobt. »Einfach mal still spielen,
sich die Kinder häufig sehr schwer, sie müssen
das schafft er einfach nicht«, erzählen seine El-
eine Klasse wiederholen, wechseln die Schul-
tern. Den Kindern fehlt zudem oft die natürliche
form oder brechen die Schullaufbahn ganz ab.
Angst vor Gefahren. So sind sie waghalsig, über-
Mehr als zwei Drittel der von uns untersuchten
mütig und bringen sich im Straßenverkehr oder
FAS-Kinder besuchten eine Förderschule.
schlechten Erfahrungen wenig zu lernen.
Solche Kärtchen helfen
alkoholgeschädigten
­Kindern dabei, alltägliche
Aufgaben wie das
­An­ziehen einzuüben.
unter zur Verzweiflung – im Grunde jedoch, so
vielleicht, FAS-Kinder litten »nur« an ADHS.
beim Klettern in Gefahr, scheinen aber aus
Schritt für Schritt
strengend und bringt die Kindergärtnerin mit-
Die Betroffenen sind außerdem leider oft
sehr leichtgläubig. Noch als Jugendliche begeg-
Stets versuchen die Kinder die Aufmerksam-
nen sie anderen Menschen arglos und lassen sich
keit auf sich zu lenken. Im Kindergarten stören
finanziell, sexuell oder als Mitläufer bei Straf-
sie im Stuhlkreis, in der Schule den Unterricht,
taten ausnutzen. Jugendliche mit FAS geraten
und geben den Klassenclown. Trotzdem schlie-
zwar aus eigenem Antrieb nicht häufiger mit
ßen Gleichaltrige die impulsiven und un­
dem Gesetz in Konflikt als ihre Altersgenossen.
geduldigen FAS-Kinder häufig vom Spiel aus.
Sie lassen sich aber leichter von anderen für kri-
­Ohnehin verlieren Letztere schnell die Lust, vor
minelle Zwecke wie Diebstahl oder Sachbeschä-
allem, wenn ihnen die Regeln zu kompliziert
digung einspannen.
sind. Selbst wenn sie älter werden, spielen sie da-
Bei einer Studie mit 60 jungen Erwachsenen
her lieber mit deutlich Jüngeren, denen sie sich
beobachteten wir: Selbst als Volljährige sind
weniger unterlegen fühlen. Dennoch gehen die
­ehemalige FAS-Kinder überwiegend nicht in der
Kinder auf mögliche Spielkameraden oft sehr un-
Lage, ein selbstständiges Leben zu führen. Sie
befangen zu und suchen Körperkontakt. Manch-
laufen Gefahr, sich zu verschulden und zu ver-
mal halten sie sich an anderen fest, um das Ge-
wahrlosen. Die jungen Frauen zeigten vermehrt
schehen genauer mitverfolgen zu können, und
depressive Symptome, und ein Viertel der Er-
bemerken nicht, wenn das nicht gut ankommt.
wachsenen hatte keine Freunde. Beunruhigen-
Das geringe »Distanzgefühl« fällt bei den
derweise waren drei von vier der betroffenen
meis­ten betroffenen Kindern auf: Sie suchen
­Erwachsenen selbst Opfer von Straftaten gewor-
spontan die Nähe sogar unbekannter Erwachse-
den, darunter am häufigsten sexueller Miss­
ner und setzen sich beispielsweise bei ihnen auf
brauch. Dies macht klar, dass die Kinder auch als
den Schoß. Gerade bei ehemaligen Heimkindern
junge Erwachsene Anleitung, alltagspraktische
liegt ein solches Verhalten nahe: Sie sind daran
Hilfe und Schutz durch eine wachsame Bezugs-
gewöhnt, sich an alle möglichen, gerade verfüg-
person brauchen.
Gehirn und Geist
Trotz dieses bedrohlichen Szenarios sollten
gestellt. Er enthält kurze, leicht verständliche
Eltern nicht resignieren. Unsere Studie von 2012
­Erklärungen zum typischen Verhalten und zu-
bestätigt: Eine frühe Diagnose (die heute leider
gleich praktische Tipps zum Umgang damit. Fes-
noch selten ist) beugt der Erfahrung von Miss-
te Strukturen und ­Rituale, etwa beim Aufstehen,
brauch vor und führt insgesamt zu einer besse-
Essen oder Zubettgehen, sind im Alltag sehr hilf-
ren sozialen und emotionalen Entwicklung. Zum
reich. Positiv sind auch eine insgesamt ruhige
einen werden dadurch unnötige Untersuchun­
­Atmosphäre sowie eine eher reizarme Umge-
gen und unwirksame Therapien vermieden so-
bung mit wenig Spielzeug und klar strukturier­
wie schneller eine geeignete Betreuung und
ten Bereichen im Kinderzimmer. Belohnungs­
­Förderung gefunden. Zum anderen reduziert
systeme (Punkte oder Smileys für gewünschtes
der Wechsel in eine geeignetere Schulform Lern-
Verhalten) funk­tionieren – im Gegensatz zu
probleme, und die Kinder fühlen sich weniger
­Kindern mit ADHS – bei solchen mit Alkohol­
überfordert. Außerdem berichten die Eltern, dass
schä­digungen nicht gut. Sie vergessen die an­
sie ihre Kinder nun besser verstehen und nicht
gekün­digte Belohnung oft wieder.
mehr so viel Angst haben, bei der Erziehung zu
versagen.
Wege in ein gutes Leben
Anweisungen an das Kind sollten schrittweise
erfolgen: eine einfache und präzise Anforderung
nach der anderen, die zweite erst, wenn die erste
beendet ist. Statt viel zu erklären, ist es besser,
Obwohl die Alkoholschäden nicht »heilbar« im
das gewünschte Verhalten vorzumachen und es
engeren Sinn sind, bestehen gute Möglichkeiten,
mit dem Kind praktisch einzuüben. Beim Start
die Kinder auf ­ihrem Lebensweg zu unterstüt-
einer neuen oder auch bei einer schon bekann-
zen. Eine auf FAS zugeschnittene Therapie gibt
ten Aufgabe darf und soll geholfen werden. Gut
es zwar nicht. Durch therapeutische Maßnahmen
angenommen werden beispielsweise Kärtchen,
lassen sich ­jedoch Begleiterscheinungen wie
die zu Lernendes abbilden (siehe »Schritt für
­Aggressionen, Störungen von Impulskontrolle,
Schritt«, links). Auch Leon macht es Spaß, die
Wahrnehmung, Spracherwerb und Motorik ge-
aufgemalten Tätigkeiten zu imitieren und die
zielt positiv be­einflussen. Nutzbringend sind
einzelnen Handlungsschritte erfolgreich abzu­
Frühförderung, Krankengymnastik, Logopädie,
arbeiten.
Ergotherapie sowie therapeutisches Reiten. Auch
Es ist wichtig, den Kindern auf die bestmög-
verhaltens­therapeutische Maßnahmen sind er-
liche Weise zu helfen. Nach unseren Berech-
gänzend sinnvoll, wenn sich die Inhalte sehr eng
nungen belaufen sich die Kosten in Deutschland
am Alltag orientieren und die Kinder das ge-
pro FAS-Patient bis zum Alter von 24 Jahren
wünschte Verhalten dabei konsequent einüben.
auf ungefähr eine Million Euro. Die Unter­
Medikamente können helfen, Probleme der
bringung im Heim oder in Pflegefamilien, der
Aufmerksamkeit und Hyperaktivität zu mil­
Besuch einer Förderschule, vielfältige Therapie-
dern. Viele Kinder mit FAS toben so wild und
maßnahmen, betreutes Wohnen und Arbeiten
ohne jegliches Bewusstsein für Risiken, dass sie
im frühen Erwachsenenalter – all das kostet viel
sich und andere Kinder gefährden. Das führt zu
Geld. Das ist nicht der wichtigste, aber auch ein
häufigen Ver­letzungen, und die Sorge um das
Grund, warum der Genuss von Alkohol in der
Kind kann die Familie erheblich belasten. Man-
Schwangerschaft auf keinen Fall verharmlost
che Eltern befürchten, ein Medikament wie
werden sollte. Ÿ
­Methylphenidat (»Ritalin«) würde die Persönlichkeit ihres Kindes verändern. Aus meinen
­Erfahrungen heraus sehe ich das anders: Es ermöglicht manchen von ihnen erst, zu den Persönlichkeiten zu reifen, die sie ohne diese Beeinträchtigungen eigentlich wären.
Für Eltern mit FAS-Kindern haben wir in
Müns­ter einen »Erste-Hilfe-Koffer« zusammen9_2015
Reinhold Feldmann ist promovierter
Psychologe und psychologischer
Psychotherapeut. Er forscht am
Universitätsklinikum Münster und
leitet die FAS-Ambulanz der Tages­
klinik Walstedde in Drensteinfurt.
Webtipp
Weitere Informationen zum
Krankheitsbild FAS und zur
Forschung am Universitätsklinikum Münster:
www.fetalesalkoholsyndrom.de
Literaturtipp
Feldmann, R. et al.: Fetales
Alkoholsyndrom (FAS). In:
Monatszeitschrift Kinderheilkunde 155, S. 853 – 865,
2007
Der Beitrag gibt einen
umfassenden Überblick.
Quellen
Alex, K., Feldmann, R.:
Children and Adolescents
with Fetal Alcohol Syndrome
(FAS): Better Social and
Emotional Integration after
Early Diagnosis. In: Klinische
Pädiatrie 224, S. 66 – 71, 2012
Feldmann, R., Girke, N.:
Mental and Motor Development of Children with
Preterm Birth and Children
with Fetal Alcohol Syndrome. In: Klinische Pädiatrie
2015, im Druck
Freunscht, I., Feldmann R.:
Young Adults with Fetal
Alcohol Syndrome (FAS):
Social, Emotional and
Occupational Development.
In: Klinische Pädiatrie 223,
S. 33 – 37, 2011
Pfinder, M. et al.: Impact of
Moderate Prenatal Alcohol
Exposure on Problem
Behaviors in Preschool and
School Children. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische
Psychologie 46, S. 89 – 100,
2014
Weitere Quellen im Internet:
www.spektrum.de/artikel/
1356156
71