DIE ZEIT - Pädagogische Hochschule Freiburg

7. J A N U A R 2 0 1 6
D I E Z E I T No 2
GLAUBEN & ZWEIFELN
54
RELIGION IN NAHOST
Abb.: Brooklyn Museum/Corbis; Fotos: Shahzaib Akbar/dpa/Picture-Alliance; Arta FM 99.5 (u.)
Schlacht von
Kerbala im ­
heutigen Irak.
Im Jahr 680
töteten Sunniten
einen Enkel ­
Mohammeds.
Wir zeigen
eine schiitische
Darstellung
Die Erben des Propheten
D
Weil Mohammed keinen Nachfolger bestimmte, bekriegen sich Sunniten und Schiiten seit Jahrhunderten VON ABDEL- HAKIM OURGHI
ie Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten ist fast so
alt wie der Islam selbst. Sie
entbrannte nach dem Tod
des Propheten, entzündete
sich am Problem seiner
Nachfolge. Und doch ist sie
nur ein Beispiel für jenen ewigen innerislamischen
Streit, den Mohammed selbst prophezeite: »Die
Kinder Israels spalteten sich in 71 Gruppen und
die Gemeinde Jesu in 72. Meine Gemeinde wird
sich in 73 spalten, von denen alle in die Hölle gehen – bis auf eine.«
Tatsächlich hat sich die muslimische Gemeinde
im Laufe ihrer Geschichte in zahlreiche größere
und kleinere Konfessionen oder Sekten aufgespalten. Manche von ihnen bestanden nur kurzzeitig,
andere existieren bis heute – und mit ihnen der
Streit darum, welcher Weg zum Heil führt. Zwar
berufen sich alle Muslime auf den Koran als wichtigste Quelle ihres Glaubens und in un­ter­schied­
lichem Maße auch auf Taten und Aussprüche des
Propheten – die Sunna. Zudem sind sich viele
muslimische Reformer einig, dass die Sunna ein
ideologisches Konstrukt ist, das zwei Jahrhunderte
nach dem Tod des Propheten kompiliert wurde.
Trotzdem kreist der Streit zwischen den islamischen
Gruppierungen weiter um die ur­alten Fragen: Wie
authentisch sind die Prophetenworte? Wie muss
der Koran ausgelegt werden? Welches ist die eine,
wahre Gemeinde Mohammeds?
Versetzen wir uns in die historische Gründungszeit des Islams im 7. Jahrhundert. Am 8. Juni
632 starb Mohammed nach kurzer Krankheit. Er
hatte nicht nur in Mekka als Prophet gewirkt, sondern in Medina auch als Staatsmann. Das Problem: Er hinterließ keine männlichen Nachkommen, die sein religiöses und politisches Lebenswerk hätten fortführen können. Sunnitische Geschichtsquellen sagen: Der Prophet bestimmte
weder einen Nachfolger, noch hinterließ er Richtlinien für die Suche. Das führte rasch zum Schisma
der ersten Gemeinde und zu einem regelrechten
Bürgerkrieg (fitna). Schon die Epoche der vier
Die Heimat ist
eine Falle
Drei Anschläge trafen kurz vor
Silvester die Christen in der syrischen
Stadt Kamischli VON EVELYN FINGER
»rechtgeleiteten Kalifen«, die dem Propheten direkt
nachfolgten (632–661), war also keine goldene
Zeit, auch wenn fromme Sunniten sie immer noch
als vorbildlich verklären.
Was sagt nun der Koran zur »richtigen« Nachfolge? Zunächst, dass alle Muslime ihrem Gott,
dem Propheten und den islamischen Autoritäten
gehorchen müssen (Koran 4:59). Auch werden die
Muslime zu gegenseitiger Beratung in praktischen
Lebensbelangen aufgerufen (Koran 3:159 und
42:38). Dies schien anfangs zu gelingen: Die konkurrierenden Gefährten des Propheten benannten
durch eine Art Ältestenrat den ersten Kalifen Abu
Bakr al-Sidiq. Er galt als treuer Anhänger Mohammeds und war ihm durch seine Tochter Aischa, die
sogenannte Lieblingsehefrau Mohammeds, als
Schwiegervater verbunden. Allerdings war Abu
Bakrs zweijährige Regierungszeit (632–634) durch
die blutige Niederwerfung abtrünniger arabischer
Stämme gekennzeichnet.
Nach sunnitischer Überlieferung soll Abu Bakr
vor seinem Tod einen Nachfolger ernannt haben,
nämlich Umar Ibn al-Khattab, der dann auch zehn
Jahre lang (634–644) mit eiserner Hand die zerstrittenen Vertreter des Islams unter seine Kontrolle brachte. Durch die Eheschließung des Propheten mit Umars Tochter Hafsa war auch er ein
Schwiegervater Mohammeds. Er wurde schließlich von einem unzufriedenen muslimischen Sklaven getötet. Noch auf dem Totenbett berief er ein
sechsköpfiges Beratungsgremium aus Gefährten
der ersten Stunde ein, darunter Ali und Uthman
Ibn Affan – auf Letzteren fiel die Wahl zum Nachfolger. Auch in seiner Regierungszeit (644–656)
kam es zu politischen Tumulten, denn man warf
ihm Nepotismus vor: die Besetzung der wichtigsten Positionen im neu entstehenden Reich mit Angehörigen seines Clans. Am Ende wurde Uthman
von unzufriedenen Muslimen in seinem Haus belagert und dort ermordet.
Und weiter? Nachfolger wurde der Vetter und
Schwiegersohn des Propheten Ali Ibn Abi Talib
(600–661). Er spielte keine große politische ­Rolle,
galt aber als religiöse Autorität. Würde er die­
W
wachsenden Konflikte entlang der Stammes- oder Imame wichtige Pilgerstätten, und der Tag der ErClangrenzen befrieden? Den Forderungen nach mordung Alis wird mit Passionsspielen gefeiert.
Wenn sich jetzt also schiitische Dynastien und
Blutrache am Mörder Uthmans gab er nicht ­nach,
doch auch seine Amtszeit (656–661) war ein­ sunnitische Machthaber gegenüberstehen, dann ist
Desaster mit drei blutigen Kriegen. Auch Ali ­wur­ das für Muslime nicht neu. Es ist Normalität. Schon
in den Jahren 909 bis 1171 etablierte sich in Ägypde ermordet.
Daraufhin vollzog sich das eigentliche Schisma ten die schiitische Dynastie der Fatimiden, benannt
zwischen Sunniten und Schiiten. Nach Meinung nach Fatima, der Tochter des Propheten und Eheder Schiiten (der Partei Alis) nämlich hatte der frau Alis. Sie riefen ein Gegenkalifat zum sunnitiProphet drei Monate vor seinem Tod den Vetter schen Kalifen in Bagdad aus. Doch bleibende poliAli zum rechtmäßigen Nachfolger ernannt. Zwei tische Macht erlangte die Schia erst mit der Dynaskoranische Stellen (Koran 33:33 und 42:24) bele- tie der Safawiden im Iran, von 1501 bis 1722. Weil
gen laut späterer schiitischer Koranexegese den diese die Mehrheit der persischen Bevölkerung von
der Sunna zur Zwölferschia
Leitungsauftrag an die blutsbekehrten, ist der Iran bis heuverwandte Familie des Prophete schiitisch geprägt und sieht
ten (ahl al-beit). Dass Ali trotzsich seit der »Islamischen Redem nicht unmittelbar dem
volution« 1979 als SchutzPropheten nachfolgte, sahen
macht der Schiiten weltweit.
die Schiiten als Ergebnis sunBedeutende schiitische Genitischer Intrigen. Nach dem
meinschaften außerhalb des
Tod Alis richteten sich ihre
Irans existieren im Irak, im LiHoffnungen nun auf dessen
banon, in Bahrain und einigen
Söhne Hassan und Hussein.
Regionen des indischen SubDoch die kamen nicht an die
Macht, und im Jahr 680 wurkontinents, aber auch im Osten
de Hussein, der jüngste Sohn,
Saudi-Arabiens, wo etwa 12 bis
im Irak durch sunnitische
15 Prozent Schiiten leben. Die
Machthaber grausam getötet, Pakistanische Schiiten protestieren
Staatsreligion des Königreichs
2016 gegen Saudi-Arabiens Politik
ebenso sämtliche männliche
ist indes der sunnitische Islam in
Begleiter. Diese Morde beseiner erzkonservativen wahhagründeten den Märtyrerkult der Schiiten.
bitischen Auslegung. Also wird die schiitische MinSeither sehen sie sich als verfolgte Minderheit. derheit diskriminiert und steht unter dem GeneralTatsächlich sind heute nur etwa 15 Prozent aller verdacht, Sympathien für den Erzfeind Iran zu hegen.
Muslime Schiiten. Die bedeutendste und zahlenWie in der Frühzeit des Islams befeuert das Stremäßig größte Gruppe unter den Schiiten ist die ben nach Herrschaft den sunnitisch-schiitischen
»Zwölferschia«. Der Name bezieht sich auf eine Konflikt. Ging es damals um die Leitung der früh­
Reihe von zwölf Imamen, religiösen Führern aus islamischen Gemeinde, so geht es heute um die Vorder Familie des Propheten, beginnend mit Ali. Der herrschaft im Nahen Osten. In einer umstrittenen
zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi, ist nach ihrer arabischen Allianz führt Saudi-Arabien seit März
Auffassung nicht gestorben, sondern lebt seit früher 2015 einen erbitterten Krieg gegen die schiitischen
Kindheit durch Gottes Wunder im Verborgenen. Huthi im Jemen. Diese wiederum werden vom Iran
Mit seiner Rückkehr verbinden die Schiiten die militärisch unterstützt, ebenso Hisbollah im LibaHoffnung auf eine gerechte Herrschaft. Unter­ non, die schiitische Regierung im Irak oder der
dessen bleiben die Grabmäler der anderen elf ­ alawitische Diktator Baschar al-Assad in Syrien.
enn Issa Hanna seine Heimat rechtzeitig mesih 1967 als Kind nach Deutschland und arbeitet
verlassen hätte, wäre er jetzt noch am Le- als medizinisch-technische Assistentin. Später wird sie
ben. Leider wohnte der Unternehmer am sagen, sie sei von der Nachricht wie gelähmt gewesen.
30. Dezember, einen Tag vor Silvester, noch immer Am 27. Dezember hatte sie noch mit ihrem Cousin
in der syrischen Stadt KamischIssa telefoniert, weil nach Weihli. Die Christen dort feiern den
nachten die Netze nicht mehr so
letzten Tag des Jahres aufwenüberlastet waren und man länger
dig, mit Besuchen und Festessprechen konnte. Issa sagte: »Es
sen, die von den Frauen groß
ist ruhiger geworden. Die Stravorbereitet werden – auch jetzt,
ßen sind geschmückt. Wir
in kargen und kalten Zeiten.
schöpfen neue Hoffnung, dass
Deshalb saß Issa, 64, wie so
die Dschihadisten uns nicht erviele Männer am Vorabend im
reichen.«
Café. Sie spielten BackgamJanet sagt: »Immer, wenn wir
mon, tranken etwas, erzählten.
glauben, es kann nicht mehr
Dann detonierte die Bombe,
schlimmer kommen, zieht sich
die ein unauffälliger Gast in eidie ­Schlinge weiter zu.« Mit wir
nem Paket unter einem Tisch
meint sie alle Christen im Nahen
Beisetzung ermordeter syrischer
hatte stehen lassen. Im nächsOsten, die momentan von IslaChristen am 31. Dezember 2015
ten Augenblick war das Café
misten bedroht werden. Die
Miami ein Trümmerhaufen aus
Assyrer verteilen sich auf fünf
Möbeln, Scherben, Toten und Verletzten.
Kirchen, die sich mehr denn je als eine fühlen: ob
Seine Cousine in München bekam die schlimme syrisch-orthodox, chaldäisch, assyrisch, syrisch-kathoNachricht fast sofort. Sie verbreitete sich über Viber, lisch oder syrisch-evangelisch.
Facebook, Twitter, Telefon. Wie eine weitere FernAm 31. Dezember werden in Kamischli 13 Assyrer
zündung, die Tausende Kilometer entfernt ein Desas- begraben, unter ihnen Issa. Die Bombe, die ihn töteter anrichtete, in den Familien der Opfer, in den te, ging kurz nach neun Uhr abends hoch. Wenige
Herzen. Janet Abraham kam wie ihr Bruder Abdul- Minuten später detonierte eine zweite im Café­
Gabriel, dort stand eine Tasche am Fenster. Dann kam
die dritte Explosion vor einem Restaurant. Janet, die
20 Jahre lang ehrenamtlich bei der Gesellschaft für
bedrohte Völker aktiv war, saß zu Hause vor ihrem
Laptop und sah die Zerstörung. Ihr Bruder Abdulmesih, ein Ingenieur, zitierte die assyrische Redewendung:
»Jetzt trifft das Messer auf den Knochen.« Zu Deutsch:
Jetzt wissen wir wirklich nicht mehr weiter.
Denn Kamischli war die letzte Stadt, in der sich
syrische Christen noch einigermaßen sicher fühlten.
Mit Betonung auf einigermaßen. Der IS rückte ja
immer näher heran, eroberte zeitweise die nächste
größere Stadt Hassaka. Zwischen Hassaka und Kamischli liegen nur 70 Kilometer und jene 35 christlichen Dörfer am Fluss Chabur, die letzten Februar
vom IS überfallen wurden (die ZEIT berichtete in
der Ausgabe Nr. 52/15). Viele Vertriebene sind nun
in Kamischli, wo sie mit christlichen Flüchtlingen
aus Sadad, Homs, Aleppo aushalten. Niemand weiß,
wie viele Christen jetzt hier leben. Janet schätzt,
vielleicht 150 000? Sympathisanten des IS gibt es in
nächster Nähe. Aber auch die Kurden der PJD, die
Kamischli kontrollieren, sind den Christen nicht
nur freundlich gesinnt. So versuchten sie, einen von
Issas Söhnen zum Kampf zu zwingen.
Daraufhin beantragte die Familie Hanna ein­
Visum für Deutschland. Janet schrieb eine Ver­
pflichtungserklärung, für alle hier anfallenden
Opfer dieser Kriege ist und bleibt die Zivilbevölkerung beider Konfessionen.
Und jetzt? Könnte alles noch schlimmer werden. Am 2. Januar wurden in Saudi-Arabien 47
Menschen hingerichtet, darunter der schiitische
Kleriker Nimr Baqir al-Nimr, der als Prediger der
Gewaltlosigkeit bekannt war und die Marginalisierung der Schiiten im Königreich anprangerte. Seine Hinrichtung verschärft nun eine urislamische
Feindschaft. Und die scheint unabänderlich.
Christen mögen entgegnen, dass auch die blutigen Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten
beigelegt wurden. Der Vergleich führt aber in die
Irre: Denn die Entstehung der muslimischen Konfessionen verlief völlig anders. Es ging von Anfang
an um die Deutungshoheit über die Heilsgeschichte
des 7. Jahrhunderts – und solange beide Seiten auf
ihren jeweiligen Belegen beharren, kann der Streit
nicht enden.
Ironie des Konflikts: Die theologischen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten sind für
die Glaubenspraxis nahezu unwesentlich. Daher
rührt auch das bislang konfliktfreie Nebeneinander
der Muslime in Deutschland. Die hier geborenen
und sozialisierten Muslime definieren sich meist
nicht als Sunniten oder Schiiten, sondern schlicht
als Muslime. Sie könnten zeigen, dass kein Muslim
sich sklavisch den Regeln einer Konfession unterwerfen muss – und so den Weg zum Frieden ebnen.
Dies wäre auch für das Verhältnis zu Andersgläubigen wichtig. Erst wenn Sunniten und Schiiten­
einander Respekt erweisen, werden sie zu Respekt
außerhalb der eigenen Religion imstande sein.
Was ist dazu nötig? Aus theologischer Sicht
muss der Islam seine Wahrheitsansprüche relativieren, zuallererst den Anspruch der Konfessionen,
im Besitz einer exklusiven Wahrheit zu sein. Vorher gibt es weder einen innerreligiösen noch einen
interreligiösen Dialog. Und erst recht keinen Frieden mit nicht religiösen Menschen.
Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich
Islamische Theologie und Religionspädagogik an der
Pädagogischen Hochschule Freiburg
Kosten aufzukommen. Das ist offizielle Bedingung
für eine legale Einreise. Inoffiziell muss man sich einen
Termin in der deutschen Botschaft in Beirut über
Mittelsmänner erkaufen. Issa, der wie so viele Syrer
wegen des Krieges längst nichts mehr verdiente, ­zahlte
1000 Euro. Die Ablehnung seines Antrages lautete:
Er könne nicht nachweisen, dass er nach Ablauf des
Visums nach Syrien zurückkehren werde. Janet sagt:
»Wäre er illegal hierher gekommen, hätte er bleiben
dürfen.« Vorausgesetzt, die Familie wäre nicht auf der
Balkanroute oder im Mittelmeer umgekommen. So
sind jetzt die Alternativen.
Issas Vorfahren haben Kamischli mit aufgebaut
nach der Christenvertreibung aus dem Osmanischen Reich. Sie gehörten zu den Überlebenden
des Völkermords an Armeniern, Aramäern und
Assyrern vor hundert Jahren. Und jetzt? Janet sagt,
Issas Frau, ihre Schwägerin, sei völlig verstummt.
Und sie selber habe auch allmählich keine Tränen
mehr. Issa hatte nach der Ablehnung des Visums
gesagt: »Die wollen uns nicht in Deutschland. Dann
ist es eben unser Schicksal, in der Heimat auszu­
harren. Vielleicht ist das besser.« Vielleicht.
Spenden: Europäisch-Christliches Entwicklungswerk für
Syrien e. V., Kreissparkasse Augsburg,
BLZ 720 501 01, Konto-Nr. 030397467, IBAN
DE86 7205 0101 0030 397 467, BIC BYLADEM1AUG