Falsche Propheten

Falsche Propheten
Karin Scheiber
Gottesdienst in St. Georgen, 8. November 2015
Lesung aus dem Lukasevangelium Kapitel 17
Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes
komme, antwortete er ihnen: «Das Reich Gottes kommt nicht so, dass
man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist
es! oder: Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.»
Zu den Jüngern aber sagte er: «Es werden Tage kommen, da werdet
ihr danach verlangen, auch nur einen der Tage des Menschensohnes
zu sehen, und ihr werdet ihn nicht sehen. Und man wird zu euch sagen: Dort ist er! oder: Hier ist er! Geht nicht hin, lauft nicht hinterher!
Denn wie der Blitz, wenn er aufflammt, von einem Ende des Himmels
bis zum anderen leuchtet, so wird es mit dem Menschensohn sein an
seinem Tag.»
Predigttext Mk 13,21-23
Und wenn dann einer zu euch sagt: Schau, da ist der Messias, schau,
dort ist er, so glaubt es nicht.
Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet
aufstehen, und sie werden Zeichen und Wunder tun, um wenn möglich
die Erwählten in die Irre zu führen.
Ihr aber, gebt acht! Ich habe euch alles vorhergesagt.
Karin Scheiber
Falsche Propheten
Predigt
Liebe Gemeinde
Anders als sonst meistens, erhielt ich auf die Ankündigung des Themas für den heutigen Gottesdienst mehrere Reaktionen, mündlich und
schriftlich, unverhohlen politische Erwartungen an das Thema im einen
Fall, konkrete Vorschläge zur Identifizierung der falschen Propheten in
einem anderen Fall – namentlich die Zeugen Jehovas und der Prophet
Muhammad.
«Falsche Propheten» – diese beiden Wörter scheinen eine Brisanz zu
haben, die mich offen gestanden etwas überrascht hat. Was sind denn eigentlich «richtige Propheten» und wodurch unterscheiden sich die «falschen» von ihnen? Ich möchte versuchen, mit Ihnen dieser Frage etwas
auf die Spur zu kommen. Und auch der Frage, die sich mir stellt, wenn
ich bei Markus die Warnung vor den falschen Propheten lese: Woran
können wir uns halten, was gilt, worauf ist Verlass?
Und wenn dann einer zu euch sagt: Schau, da ist der Messias [der Christus], schau, dort ist er, so glaubt es nicht.
Denn es wird mancher falsche Messias [Pseudochristus] und
mancher falsche Prophet [Pseudoprophet, wörtlich Lügenprophet] aufstehen, und sie werden Zeichen und Wunder tun.
Was macht einen richtigen Propheten aus? Dass andere auf ihn verweisen, sich für ihn verbürgen, genügt nicht. Den Lügenpropheten laufen
die Leute scharenweise nach. Dass einer Zeichen und Wunder tun kann,
beweist auch nichts. Offenbar kann das manch ein dahergelaufener
Scharlatan. Skepsis ist also angesagt, eine wachsame Vorsicht gegenüber jenen, die sich selbst als Messias oder Prophet sehen oder von andern als das angepriesen werden. Ist die Warnung vor falschen Propheten ein Hinweis auf die Glaubwürdigkeit des Sprechers? Wohl kaum!
Gerade die falschen Propheten verwenden viel Mühe und Sorgfalt darauf, alle andern zu verunglimpfen. Ist Jesus womöglich auch ein Lügenprophet, ein Pseudochristus? Oder woran wäre zu erkennen, dass er es
nicht ist?
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Falsche Propheten
Wenn wir heute von Propheten sprechen, verbinden wir das oft mit der
Fähigkeit, Dinge vorherzusagen, die sich erst in der Zukunft ereignen
werden – so z.B. wenn jemand sagt: «Woher soll ich das wissen? Ich bin
doch kein Prophet!» Zur Zeit Jesu war die Rolle des Propheten stark mit
der Vorstellung des nahen Weltendes verknüpft. Ein Prophet sagt nicht
irgendetwas voraus, sondern eben das Ende der Welt; das gehäufte Auftreten von Propheten wurde als ein Zeichen gesehen, dass dieses Ende
nahe ist. Diese Erwartung war zur Zeit Jesu weit verbreitet in Israel;
es gab unzählige Gurus und Gruppierungen, welche in unterschiedlichen Variationen den Weltuntergang vorhersagten. Bei Propheten, welche die Zukunft oder das Weltende vorhersagen, lassen sich die wahren
und die falschen Propheten leicht unterscheiden – im Nachhinein. Die
Welt ist auch 2000 Jahre nach Christus nicht untergegangen, also lagen
die damaligen Verkünder des Weltendes allesamt falsch – wie auch die
Uriellas und Sonnentempler unserer Tage.
Aber wenn wir all den Propheten und Messiassen nicht nachlaufen
sollen – was sollen wir dann glauben? Wir erhalten von Markus in diesen Versen nicht einen einzigen positiven Hinweis – er wiederholt nur,
was nicht richtig ist, um dann mit den Worten zu schliessen: «Ihr aber,
gebt acht! Ich habe euch alles vorhergesagt.»
Wenn wir hören wollen, was ist, dann müssen wir uns Lukas zuwenden,
den wir in der Lesung hörten. Auch Lukas sagt einiges zu dem, was
nicht ist, oder was wir nicht tun sollen:
• Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte.
• Man wird nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es!
• Ihr werden den Tag des Menschensohnes nicht sehen, auch wenn
ihr danach verlangt.
• Ihr sollt nicht hinlaufen, wenn zu euch gesagt wird: Dort ist er!
oder: Hier ist er!
Aber anders als Markus gibt Lukas eine Begründung an, weshalb das
alles nicht so ist. Es ist nicht so, weil es anders ist – anders als wir erwarten, anders als immer wieder gesagt wird. Von welcher Art dieses
«anders» ist, sagt Lukas ebenfalls. Er sagt es gleich zweimal, aber das
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macht die Sache erst recht verwirrend. Zu den Pharisäern sagt er:
Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten
könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder:
Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Zu den Jüngern sagt er dagegen:
Man wird zu euch sagen: Dort ist er! oder: Hier ist er!
Geht nicht hin, lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz,
wenn er aufflammt, von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet, so wird es mit dem Menschensohn sein an
seinem Tag.
Das sind zwei völlig andersartige, ja gegensätzliche Auskünfte! Bei den
Pharisäern: Das Reich Gottes ist schon da, mitten unter euch, ohne
Spektakel und Klamauk. Bei den Jüngern: Der Tag des Menschensohns
kommt mit soviel Spektakel, dass bei niemandem auch nur der geringste Zweifel aufkommen kann.
Weshalb diese gegensätzlichen Begründungen? Es dürfte mit den unterschiedlichen Adressaten zusammenhängen – die Pharisäer im einen,
die Jünger im andern Fall. Vor allem aber ist die thematische Verschiebung zu beachten: Zuerst spricht Jesus vom Reich Gottes, nachher vom
Tag des Menschensohns.
Der «Tag des Menschensohns» ist ein alttestamentlicher Ausdruck für
das grosse Finale, den «Weltuntergang», wenn Sie so wollen. Für den
jüdisch-christlichen Glauben ist klar, dass die Welt nicht ewig ist, sie hat
einen Anfang und ein Ende. Das Ende ist aber nicht einfach das Ende.
Es ist das Ende der Zeit, das Ende der Welt, wie wir sie kennen, aber
nicht das Ende Gottes und seiner Beziehung zu seiner Schöpfung. Es ist
vielmehr das Ende der Trennung zwischen Gott und Schöpfung, das
Ende jenes Risses, der zwischen Gott und Schöpfung durchgeht, und
den wir theologisch Sünde nennen. Das Ende ist somit eigentlich der
Anfang, der Anfang der Welt, wie sie von Gott von jeher gedacht ist, der
Anfang der vollkommenen Beziehung zwischen Gott und Welt – wenn
es nicht so wäre, dass «Anfang» selbst schon wieder ein zeitlicher und
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deshalb unpassender Begriff wäre. Vielleicht müssten wir eher sagen:
Es ist der Sprung in die Ewigkeit, wobei aber Ewigkeit wiederum nicht
als eine unendlich lange (und damit bedrohlich langweilige) Zeitdauer
zu verstehen ist, sondern als der ganz und gar erfüllte Augenblick, in
welchem Zeit völlig abhanden kommt.
Diesen Wechsel kann niemand übersehen. Der ist so grundlegend
und alles umfassend, dass es keine Diskussion darüber geben kann, ob
er jetzt eingetreten ist, oder doch nicht, oder vielleicht nur halb. Solange wir uns noch so fragen können, ist er nicht da, denn so zu fragen,
ist selbst schon Beweis, dass er noch nicht eingetreten ist. Wenn dieser Wechsel kommt, dann plötzlich und unübersehbar und jede weitere
Diskussion erübrigend. Es gibt nicht den geringsten Grund, so Jesus, irgendwelchen Endzeitphantasien nachzuhängen und Zeichen und Hinweise erkennen und deuten zu wollen. Er erteilt allen Spekulationen,
allen Geheimwissenschaften, allen esoterischen Sonderpraktiken eine
Absage. Er vertröstet auch niemanden auf ein Später. Vielmehr verweist
er seine Jünger radikal aufs Hier und Jetzt. Hier und jetzt gilt es, Öl in
der Lampe zu haben – um es mit dem Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen zu sagen –, bereit zu sein, wenn der Bräutigam kommt.
Hier und jetzt zu leben im Wissen, dass das Hier und Jetzt nicht alles
ist.
Aufs Hier und Jetzt verweist Jesus auch die Pharisäer, die fragen, wann
und in welcher Gestalt denn das Reich Gottes kommt.
Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten
könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder:
Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Das Reich Gottes ist keine jenseitige Grösse! Es ist, oder ereignet sich,
hier und jetzt – allerdings nicht so, dass man es beobachten könnte.
Beobachten – dieses Wort drückt präzise aus, worum es geht: Beobachten heisst, die Position eines Unbeteiligten einnehmen, der «von aussen» auf etwas schaut, es möglichst «objektiv» betrachtet, «Neutralität»
wahrt, sich nicht involvieren lässt, einfach feststellt, was ist. Solches Be-
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obachten ist eine grosse wissenschaftliche Tugend, wenngleich nicht
zuletzt in den Wissenschaften immer wieder Zweifel laut werden, ob
es überhaupt möglich ist. Nicht nur in den Sozialwissenschaften werden diese Zweifel geäussert, auch in den Naturwissenschaften, besondere Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang Schrödingers Katze
erlangt – aber ich erspare Ihnen die Ausführungen. Denn auf jeden Fall
ist es mit dem Reich Gottes so, dass es nicht in den Blick bekommt, wer
sich wie ein unbeteiligter Beobachter dazu verhält. In Bezug auf das
Reich Gottes gibt es keine Beobachterinnen und Beobachter, nur Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass wir
uns davon distanzieren können und sage: Schau da! Schau dort! «Denn
seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.» Martin Luther übersetzte:
«… es ist inwendig in euch» und machte es damit zu einer subjektiven,
verinnerlichten Angelegenheit. Exegeten haben die darauf folgenden
langen Streitigkeiten über die rechte Übersetzung längst beigelegt und
sind sich einig, dass es «mitten unter euch» heissen muss – die Lutherbibel von 1984 hat sich dieser Übersetzung ebenfalls angeschlossen. Das
Reich Gottes ist nicht etwas, das wir distanziert von aussen betrachten
und kartografieren könnten, es ist aber genauso wenig eine rein innerliche, subjektive Angelegenheit. Es ist vielmehr etwas, das sich unter
uns Menschen ereignet, wenn wir uns darauf einlassen, uns involvieren lassen, Teil werden davon. Es geht um eine Qualität des Erfahrens,
des Wahrnehmens, eine Qualität dessen, wie wir leben und in der Welt
stehen. Das hat unweigerlich eine soziale und damit immer auch politische Dimension, auch wenn es sich nicht parteipolitisch vereinnahmen lässt. Das darf jetzt aber nicht dahingehend verharmlost werden,
als wäre das Reich Gottes etwas, das sich immer da ereignet, wo Menschen nett sind miteinander. Wir würden das Ganze damit seiner theologischen Pointe berauben. Denn diese besteht für Lukas in der Person
von Jesus Christus. In ihm ist das Reich Gottes mitten unter uns. In ihm
haben wir die vollkommene Verbindung zwischen Gott und Mensch,
an unserem Verhältnis zu ihm entscheidet sich die Teilhabe am Reich
Gottes. Dass dies den interreligiösen Dialog für uns heute nicht einfacher macht, darf kein Grund sein, die Aussageabsicht von Lukas zu
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verschleiern und in belanglose Nettigkeiten aufzulösen.
Auch bei Markus ist vorausgesetzt, dass der echte Prophet, der wahre
Messias, im Gegensatz zu den Lügenpropheten und Lügenmessiassen,
Jesus Christus ist. Aber wieso soll gerade er ein wahrer Prophet sein
und nicht einer der vielen falschen? Damit schliesst sich der Kreis dieser Predigt wieder. Wir bekommen weder von Markus noch von Lukas
ein unabhängiges, neutrales Kriterium an die Hand, es gibt keinen Lügendetektor für Propheten und Messiasse. Damit würden wir die Beobachterperspektive einnehmen, die für das Reich Gottes unmöglich
ist. Es gibt nur die Teilnahme, das rechte Verhältnis zu Gott in Jesus
Christus. Dieses Verhältnis lässt sich vergleichen mit jenem von Planeten zur Sonne: Die Sonne ist der Mittelpunkt und Anziehungspunkt,
um sie wandern die Planeten, mal näher, mal weiter weg, aber immer in
der Orientierung auf den Mittelpunkt. Den Mittelpunkt verlieren, das
ist es, wovor Markus warnt, wenn er sagt, die Lügenpropheten wollten
die Erwählten in die Irre führen. αποπλαναω ist das Wort, das Markus
hierfür verwendet: πλαναω, griechisch wandern, davon kommt unser
Wort «Planet», die Vorsilbe απο bedeutet soviel wie «weg-». αποπλαναω
bedeutet damit in etwa «abwandern», «fehlgehen», «vom rechten Weg
abkommen», oder hier eben in der passiven Form: «vom rechten Weg,
der rechten Umlaufbahn abgebracht werden». Von der Ausrichtung auf
den rechten Mittelpunkt hängt alles ab, dann ist das Reich Gottes mitten unter uns und über falsche Propheten und den Weltuntergang brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.
Amen.
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