LERNEN 14 Umfassende und kompetente medizinische Entscheidungen bestehen aus drei Teilen Entscheiden: mit Kopf, Herz und Bauch! Stefan Neuner-Jehle a , Edouard Battegay b a Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich; b Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, UniversitätsSpital Zürich Unsere medizinischen Entscheidungen basieren häufig auf lückenhaften Informationen aus Anamnese oder Untersuchungsbefunden. Weitere wesentliche Limitationen beim Entscheiden sind durch die Funktionsweise unseres Gehirns bedingt. Um die Resultate unserer Entscheidungen zu optimieren, lohnt es sich, über diese Prozesse nachzudenken. Der Patient len nicht immer eindeutig aus. Unsicherheit über die Faktenlage und Umgang mit fehlenden Informationen Ein 81-jähriger ehemaliger Bankdirektor kommt mit sowie die Bedeutung von Kommunikationsinhalten neu aufgetretener Angina pectoris in die Sprech- sind also bei medizinischen Entscheidungen omni- stunde. Folgende Zusatzinformationen lassen sich in präsent. der Anamnese erheben: Gleichzeitig besteht Unsicherheit über die Konsequen- – Seit zwei Jahren fällt eine leichtgradige Demenz auf, zen von Entscheidungen in der Zukunft – wir operieren zudem wirke er oft depressiv, ausserdem ist eine hier mit Wahrscheinlichkeiten, die man z.B. beim leichtgradige Anämie bekannt. Abwägen von verschiedenen Optionen mathematisch – Es besteht eine Gewichtsabnahme von 7 kg seit ei- in Entscheidungsbäumen berechnen kann. Entschei- nem halben Jahr (über 10% des Körpergewichts). dungen entstehen meist unter Zeitdruck und führen – Auf Nachfragen bei der Haushälterin: Der Patient auch wegen der grossen Zahl pro Zeiteinheit zu Belas- spricht häufiger vom Sterben, seine Ehefrau ist vor tung und Anstrengung. Entscheide entstehen unter 4 Jahren verstorben, er ist vereinsamt. Beizug sämtlicher Sinne und des Settings (z.B. Ent- Die neu aufgetretene Angina pectoris ist vielleicht scheidungen auf der Notfallstation, in der Praxis, beim durch die leichtgradige Anämie (in Kombination mit Hausbesuch). Auch entscheiden wir in Abhängigkeit einer KHK) erklärbar. Der erste Eindruck macht eine der verbal oder averbal ausgedrückten Präferenzen, psychische Problematik plausibel, und die Gewichts- Möglichkeiten und Wertsysteme von Patienten und abnahme ist durch Inappetenz im Rahmen der Depres- auch unserer eigenen Haltung. sion durchaus erklärbar – allenfalls ein nicht diagnostiziertes Malignom. Eine leichtgradige Anämie im höheren Lebensalter ist häufig. Das Alter und die Gesamtsituation sprechen für eine zurückhaltende Mali- Entscheiden aufgrund komplexer Informationen Unsere Technologie- und sicherheitslastige Medizin gnom-Abklärung. generiert eine Vielzahl an Informationen. Diese Kom- Nach einer Keynote Lecture von Prof. Entscheiden aufgrund lückenhafter Informationen plexität überfordert unser Hirn. Denken Sie an seitenlange Diagnoselisten in Austrittsberichten, an überlange Medikationslisten bei polymorbiden Patienten. Naturgemäss präsentiert sich ein Patient mit lücken- Der Grund, warum die Medikamente im Einsatz sind, SwissFamilyDocs hafter Information, mit Fragen über seine Erkrankun- wird von Patienten nicht mehr verstanden und von Conference 2015. Teile dieser gen oder mit einer definierten Problemstellung. Wich- Ärzten nur noch unvollständig wahrgenommen. Die finden sich auch in Kapitel 1 tige anamnestische Angaben können von Patient oder mit der Alterung von Patienten zunehmende Multi- der Neuauflage des Buches Arzt als bedeutungslos eingeschätzt werden und kom- morbidität erfordert – wenn nicht klar priorisiert wird men erst mit Verzögerung zum Vorschein. Befunde – Behandlungen, die zueinander oder zur bestehenden werden in der Regel erst schrittweise erhoben und fal- Komorbidität in Konflikt stehen (z.B. Antikoagulation E. Battegay an der Gedanken und Beispiele «Siegenthalers Differenzialdiagnose», (Thieme Verlag, 2012). PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2016;16(1):14–16 LERNEN 15 Sekunde bewusst verarbeiten können. Dieser Auswahlprozess befähigt uns überhaupt erst, bewusst zu entscheiden [3]. Dieser bewusste Entscheidungsprozess benötigt Zeit und eine hohe Fokussierung (Konzentration). Bei Patienten mit «mild cognitive impairment (MCI)» oder Demenz ist dieses Multitasking dann durch den Ausfall kognitiver Funktionen gar nicht mehr möglich. Wenn Entscheidungen in komplexen Situationen rasch fallen sollen, springt die Intuition ein (auch halb-/unbewusste Erfahrungen). Die Kombination beider Entscheidungswege führt zu den besten Ergebnissen: Rasches, intuitives Entscheiden wird begleitet von langsam-kognitivem «Überdenken». Dieses erhält damit auch eine Kontrollfunktion über den allzu raschen «Hüftschuss». Andererseits rettet uns das unbewusste versus Blutungsrisiko): Bei etwa einem Drittel multi- Entscheiden vor allzu viel Reflexion, mit immer wieder morbider Patienten, die auf die Innere Medizin im neuen Deutungen und Ablenkungen, die eine «Nebel- UniversitätsSpital Zürich eintraten, bestanden solche wand» über Lösungswege legen können [4]. «major therapeutical conflicts» [1]. Die Dichte an verschiedenen und teilweise komplexen Perspektivenwechsel verhindert Fehlentscheidungen Entscheidungen in einer hausärztlichen Sprechstunde ist hoch: Drei Viertel der Patienten präsentieren mindestens zwei oder mehr Probleme aus ver- Unsere Entscheidungsprozesse sind also in hohem schiedenen medizinischen Disziplinen gleichzeitig [2]. Mass unbewusst und damit unseren subjektiven Wer- Simplifizierende Massnahmen (die wir teilweise auto- ten, Erfahrungen und Erinnerungen ausgesetzt. Das matisiert machen, um in der Komplexität zu über- hat durchaus seine Berechtigung und sein Gutes, kann leben!) sind gefragt und in unserem Hirn auch vor- aber zu vorgefassten Meinungen und «blinden Fle- programmiert. Ausblenden von Irrelevantem und die cken» führen. Der Austausch mit Peers, das Einholen Fähigkeit zu priorisieren können fürs Entscheiden von Konsilien oder die Kommunikation zwischen nützlich sein. Spitalarzt und Hausarzt erlauben den Einbezug von anderen Perspektiven, die zu adäquateren Resultaten (Diagnosen) führen können. Exkurs über neuronale Entscheidungsprozesse Bei der Diagnosefindung stehen mehrere Entschei- Aktivitätsmessungen zeigen, dass bei der Entschei- wenig Abklärungen kann die korrekte Diagnose und dungsfindung besonders der präfrontale Kortex akti- Behandlung verpasst oder verschleppt werden; bei den dungen an: Welche Abklärungen sind adäquat? Bei zu viert ist. Im Umkehrsinn löst ein Ausfall dieser Funktionen, z.B. bei frontaler Demenz oder frontal lokalisierten Tumoren, Probleme bei der Entscheidungsfähigkeit aus. Wie gut ist nun unser kogniti- Wir entscheiden mit Kopf (kognitiv), Bauch (intuitiv) und Herz (Wertesystem von Arzt und Patient) ves System für die Verarbeitung komplexer Informationen, mit der Absicht einer Entscheidung, falschen Abklärungen ebenso, zum Preis verschwen- gerüstet? Zwar verfügt unser Hirn über eine giganti- deter Ressourcen; bei zu vielen ungezielten Abklärun- sche Kapazität, Erfahrungen und Erkenntnisse ab- gen wird das Gesundheitswesen unbezahlbar und der zuspeichern: 80 bis 100 Milliarden Nervenzellen mit je Untersuchte potentiell mit irrelevanten Befunden eti- bis zu 10 000 neuronalen Verknüpfungen. Im Ver- kettiert oder geschädigt. Ein wichtiges Instrument bei gleich zu dieser riesigen «Festplatte» ist unser «Ar- der Diagnosefindung und beim Einsatz adäquater beitsspeicher» für das bewusste Ausführen von zwei Diagnostik ist das «differentialdiagnostische Denken». oder mehr Handlungen stark beschränkt. Von 11 Milli- Letztlich ist es nichts anderes als ein Perspektiven- onen Bits, die pro Sekunde auf unser Hirn einprasseln, wechsel. (Nehmen wir einmal an, die getroffene Ar- selektioniert es eine verschwindend kleine Menge von beitshypothese sei nicht zutreffend, auch wenn sie als nur 7 Bytes (1 Byte ist eine Folge von 8 Bits), die wir pro die aktuell wahrscheinlichste erscheint.) PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2016;16(1):14–16 LERNEN 16 Weitere Fallgruben, die den diagnostischen Denkpro- Evidenz: Bringt es einen Nutzen für die Lebensqualität, zess unbewusst modulieren können, sind die «Anker- für die Zufriedenheit mit der Entscheidung, für die Ad- heuristik» (blockiert in der ersten Vermutung), das härenz zur getroffenen Entscheidung? Hat SDM einen «framing» (die Diagnose passt zur Vorgeschichte) und Einfluss auf «harte» Endpunkte der Gesundheit und der «Konfirmationsbias» (was passt, wird aufgewertet, des Überlebens? Aktuell führen wir am Institut für was nicht passt, ausgeblendet) [5]. Hausarztmedizin Zürich eine Metaanalyse zu diesem Kehren wir nun zu unserem eingangs beschriebenen Thema durch, auf deren Resultate man gespannt sein Patienten zurück: Auf die intuitive Erstbeurteilung darf. (depressive Verstimmung) folgte der reiflich überlegte Entscheid zu einer aktiven Diagnostik. Diese enthüllte schliesslich einen schweren Vitamin-B12-Mangel mit perniziöser Anämie. Nach B12-Substitution verschwanden Anämie und Angina pectoris, und der Patient Gibt es Forschungsbedarf zu Entscheidungsprozessen bei multimorbiden Patienten? Entscheidungsprozesse bei multimorbiden Patienten fühlte sich deutlich fitter! hängen nicht nur von deren Eigenschaften ab, sondern Philosophischer Exkurs: selbstbestimmtes Entscheiden? auch von den Persönlichkeitsstrukturen, die wir als Ärztinnen und Ärzte mitbringen. Dabei sind wir keine einheitlich funktionierenden «Maschinen», sondern Wir Ärzte und Ärztinnen sind selber Produkt unserer entscheiden sehr unterschiedlich: Je nach Persönlich- Gene und unserer Prägung durch gelernte Erfahrun- keitsstruktur, genetischem Hintergrund, Prägung, gen und Vorbilder, also weit weg von selbstbestimm- Umgebung und weiteren Variablen fallen Entscheide tem Entscheiden [6]. Weitere Einflussfaktoren sind das verschieden aus. Hier sehen wir einen Forschungs- Umfeld, wie z.B. die Interaktion mit der Gruppe; das bedarf zu Entscheidungsprozessen, der den Fokus von Setting der Entscheidung (Notfallstation im Spital ver- Patienten weg auf uns Ärztinnen und Ärzte richtet. sus Sprechstunde in der Praxis); die Persönlichkeit und Ein saloppes Beispiel gefällig? Vergleichen Sie Ihre ihre Stressresistenz und Lernbereitschaft. Zudem eigenen Entscheide am Freitagabend, kurz vor Sprech- wissen wir als Ärzte nicht exakt, was der Patient denkt, stundenschluss, mit solchen Anfang Woche, wo Ihnen und er weiss nicht exakt, was wir denken (Spieltheo- mehr Geduld zur Verfügung steht. Sich dessen bewusst rie): Zwei Personen entscheiden, von denen die eine sein bedeutet, am Freitagabend besonders sorgfältig nicht weiss, was die andere denkt und entscheiden und geduldig hinzuhören. will. All diese Faktoren sind im prozeduralen, unbewusst agierenden Gedächtnis abgespeichert und kommen – unbewusst – zum Einsatz, wenn eine Ent- Fazit scheidungssituation sie erfordert. Der unbewusste, in- Umfassende und kompetente medizinische Entschei- tuitive Anteil an Entscheidungen ist also nicht wirklich dungen bestehen aus drei Teilen (wobei die Reihen- selbstbestimmt, seine Voraussetzungen aber sehr folge der Anwendung variabel ist): einem Kopf-, einem wohl: Wir haben mitbestimmt, mitgefühlt, zugelassen, Bauch- und einem Herzensentscheid. Komplexe Ent- was früher an Erfahrungen und Werten abgespeichert scheidungen, wie sie im Umgang mit multimorbiden wurde. Patienten die Regel sind, erfordern den Einsatz aller drei Kompetenzen, um zu einem optimalen Resultat Alleine entscheiden versus «shared decision making» Inzwischen ist gesetzlich verbrieft, dass Patienten als autonome Individuen an Entscheidungen zu ihrer Person, zu ihrer Gesundheit teilnehmen: «shared decision making (SDM)». Dieses unbestrittene Recht ist im klini- zu kommen. Literatur 1 2 3 4 Korrespondenz: schen Alltag nicht einfach umzusetzen, auch hier Dr. med. Stefan Neuner- droht Überforderung. Die Informationen, auf deren 5 Facharzt für Innere Medizin Grundlage der Patient mitentscheiden soll, sind mitsamt ihren Optionen und Unsicherheiten komplex. 6 FMH Jehle, MPH Schmidgasse 8 CH-6300 Zug sneuner[at]bluewin.ch Zum konkreten Nutzen, den die Integration von SDM in die Sprechstunde bewirkt, besteht bisher keine klare PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2016;16(1):14–16 Markun S, et al. Therapeutic conflicts in emergency department patients with multimorbidity. PLoS One. 2014;9(10):e11030. Salisbury C, et al. Epidemiology and impact of multimorbidity in primary care. B J Gen Pract. 2011;e12-e21. Lutz Jäncke. Ist das Hirn vernünftig? Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Verlag Hans Huber, Bern 2015. Dijksterhuis A, et al. On making the right choice: the deliberationwithout-attention effect. Science. 311(5763):1005–7. Dean Buonomano. Brain Bugs. Verlag Hans Huber, Bern 2012; und persönliche Mitteilung von Dr. Med. Sven Stenner. Neuner-Jehle S. Wir selbstbestimmte Menschen? PrimaryCare. 2013;13(16):302. Bildnachweis © Fabio Berti | Dreamstime.com
© Copyright 2024 ExpyDoc