«UNSER ÜBERLEBEN WAR PURES GLÜCK» Reporterin Bettina Ullmann und Fotograf Georgios Kefalas von der Coopzeitung waren in Sri Lanka für eine Reportage, als die Flut über Südostasien stürzte. Bettina Ullmann Coopzeitungs-Fotograf GeorgiosKefalas im Auffang lager in Colombo: «Wir verdanken unser Leben unseren Schutzengeln, den Hotelbesitzern, die immer zuerst für ihre Gäste sorgten.» Coopzeitungs-Fotograf Georgios Kefalas hat die Flutkatastrophe in Sri Lanka überlebt: «Vor Ort dachten wir nur ans Überleben. Erst zu Hause beginne ich zu realisieren, was eigentlich passiert ist und welches Glück wir hatten.» Auf der Ladefläche eines Lastwagens werden die Hotelgäste ins sichere Landesinnere zur Teeplantage gebracht. Mit wem habe ich eigentlich auf der Veranda am Frühstückstisch gesessen, als die ersten Schreie vom Strand kamen? War es William, der 63-jährige amerikanische Journalist in Residence aus Chicago oder Alex (43) aus England, der den paradiesischen Indischen Ozean einsam und mit viel Zigaretten und Bier von hier aus zu beobachten pflegte? Es fällt mir nicht mehr ein. Obwohl dieses Frühstück erst vier Tage zurückliegt, steuert meine Erinnerung immer wieder auf die Momente zu, die die darauf folgenden Stunden prägten. Alles ging so schnell und ist immer noch unfassbar. Sonntag, 9.30 Uhr: Die erste Welle erreicht das Hotelgelände im Club Lanka in Ahangama aus dem Nichts. Mit jeder Welle wandert die Wassergrenze auf einen Schlag um mehrere Meter. Als es wieder abläuft, versuche ich noch meine Hosen einzusammeln, die ich am Hotelstrand auf einem Liegestuhl zum Trocknen ausgelegt hatte. Aber die nächste Welle versenkt sie bereits in den Fluten. Was zum Teufel passiert hier? Ein Hochwasser steigt nicht mit einer solchen Geschwindigkeit. Was kann solche Wassermassen bewegen? Die Hotelgäste laufen aufgeregt durcheinander. Ich muss Georgios wecken, sofort. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ich selbst im Wasser stehe. Ich laufe zur Treppe, die zu unseren Zimmern im ersten Stock führt. Mit dem nächsten Wellenschlag wird die Hotelveranda überflutet, die Autos auf dem dahinter gelegenen Parkplatz purzeln durcheinander und verschwinden. Bilder wie im Fernsehen. Ich realisiere: Es geht um unser Leben. Auf der kleinen Galerie vor Georgios' und meinem Zimmer haben sich schon 20, 30 Hotelgäste versammelt, weil unsere Räume am weitesten vom Meer entfernt liegen. Chaos und Panik. Nicht alle haben sich auf eine Erhöhung retten können. Vor allem die Alten können sich nicht so schnell bewegen. «Esther, Esther?!» - eine irische Familie vermisst ihre sechsjährige Tochter. Ich schaue auf das braungefärbte undurchsichtige Wasser unter mir. Sie ist nirgends zu sehen. Alle Hotelgäste bangen mit dieser unbekannten Familie. Eine Mutter und ihre Tochter stehen bis zum Bauchnabel in den Fluten, halten sich an einer Palme fest. «Hold on, hold on», rufen ihnen die anderen zu. Ich heule. Georgios nimmt mich in den Arm. Er hat genauso viel Angst wie ich. Die Kraft der Wellen hat die Steinmauern des Hotels weggerissen. Das bedeutet, dass wir auch auf dem Balkon nicht sicher sind. Und wenn das Wasser mit dieser Geschwindigkeit weiter steigt, versinkt bald die ganze Insel im Meer, denke ich. Angst. Ich spüre, wie mich Panik in Beschlag nimmt. Das ist gefährlich, sie raubt mir jeden klaren Gedanken. Wenn es noch härter kommt, brauche ich meinen Kopf. Ich hatte nie wirklich überlegt, wie ich vielleicht einmal sterben würde, aber Ertrinken im Indischen Ozean? Das kann nicht sein, ich muss durchhalten, ich muss meine Tochter Maha wiedersehen, meine Liebsten zu Hause. Ich laufe zurück in mein Zimmer: Was brauche ich? Mein Gott, wo ist mein Pass, mein Geld, mein Flugticket? Keine Ahnung. Auf einer Kommode stehen zwei leere Plastikwasserflaschen. Ich verschraube die Verschlüsse und stopfe sie unter mein TShirt: Ich bin keine gute Schwimmerin und mehrere Stunden im Wasser würde ich nicht durchhalten. Per Handy versuche ich, Kontakt mit meiner Familie aufzunehmen. Ich hatte plötzlich das grosse Bedürfnis, sie zu hören und weiss nicht, ob es das letzte Mal ist. Ich komme durch, kann kurz reden. «Passt auf Maha auf» sage ich. Sobald das Wasser ein wenig abläuft, suchen die Hoteliers und Einheimischen verzweifelt nach weiteren Vermissten und Verletzten. Sie riskieren ihr Leben. «Esther, Esther!» Lautes Getöse, die nächste grosse Welle kündigt sich an. Die einheimischen, singhalesischen Hotelgäste versammeln sich und beten laut. Gelähmt warten wir ab, aber diese Welle übersteigt die Höhe der ersten Wellen nicht. Sie läuft wieder ab und gibt grosse Teile des Hotelgeländes frei. Unter uns wird ein Toter weggetragen. «Wir müssen versuchen von der Wassernähe weg zu kommen», beschliessen die Männer der Hotelleitung. Georgios steht vor einer schwierigen Entscheidung, seine Fotografen-Ausrüstung wiegt etwa 20 Kilo - mitnehmen oder liegen lassen? Ich sage: «Liegen lassen.» Er nimmt sie mit. Wir waten durch den überfluteten Parkplatz zur Strasse und versuchen, ein höher gelegenes Schulgebäude im Dorf zu erreichen. Inzwischen heisst es, ein MeeresErdbeben sei die Ursache dieser Katastrophe. Erschöpft erreicht unsere Gruppe, gegen 50 Personen, das etwas höher gelegene Schulgelände. Die Verletzten werden versorgt, ihre Wunden desinfiziert und verbunden. Es ist jetzt etwa Mittag und heiss. Unsere einheimischen Betreuer sind bemüht, dass wir Wasser und Biskuits bekommen. «Die Kinder zuerst», heisst es. Vor dem abgegrenzten Schulgelände laufen die Dorfbewohner in Panik die Strasse auf und ab. Unsere Begleiter erklären uns: «Diese Menschen sind anders, aber wir geraten nicht in Panik. No panic please!» Unsere Betreuer können einen Lastwagen organisieren. Auf der offenen Ladefläche werden wir zu der 15 Kilometer weit entfernten Teeplantage des Hotelbesitzers im Landesinneren in Sicherheit gebracht. Als wir durch das Dorf fahren, gibt es laute Rufe. Der Lastwagen stoppt und Esther wird uns unter lauten Hurra-Rufen über die Ladeplanke gereicht. Ein Bettina Ullmann im Auffanglager in Colombo, völlig erschöpft, aber in Sicherheit. Die singhalesischen Behörden haben die vielen, gleichzeitig ein-treffenden Touristen versorgt und verköstigt. Hotelangestellter hatte sie geschnappt und vor der Flut retten können. Sie ist unversehrt und lächelt uns erstaunt an. Erst auf der Teeplantage beginnen wir uns auszutauschen. Die Gäste aus den unteren Zimmern hat es hart getroffen. Sie waren teilweise in ihren Zimmern eingesperrt und konnten die Tür wegen des Wasserdrucks nicht öffnen. Erst nachdem das Wasser die Tür eingedrückt hatte, wurden sie mit dem Mobiliar und Mauerteilen aus dem bis unter die Decke mit Wasser gefüllten Zimmer gespült und konnten sich retten. Lena (15), Tochter einer Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft in Colombo, war am Strand joggen, als sie von der Flut überrascht wurde. Die Welle zog sie ins Meer hinaus und spülte sie wieder zurück ans Land. Dann rannte sie um ihr Leben. Der Mann einer neuseeländischen Touristin bleibt auch vermisst. Eine singhalesische Familie hat ihren Vater verloren. Auf der Teeplantage können wir uns verpflegen, etwas trinken und uns waschen. Langsam weicht die Angst. Wir sind in Sicherheit. Die Nacht verbringen wir unter Bewachung auf der Plantage. Am nächsten Morgen soll uns ein Bus in die drei Stunden entfernte Hauptstadt Colombo bringen. Doch die Küstenstrasse ist zerstört. Auf den schmalen Strassen durch das Landesinnere dauert die Fahrt neun Stunden - ohne Pause, damit der Bus nicht gestürmt wird. Am Abend treffen wir in Colombo im Auffanglager ein. Dort liegen Matratzen, Laken, Formulare für die Ausreise bereit. Ein Buffet wird zum Abendessen aufgebaut. Die Betreuung durch die Einheimischen ist unglaublich. Und die Redaktionskollegen haben uns einen Rückflug organisiert. Wir sind erleichtert. coop-soforthilfe 500000 FRANKEN FÜR DIE FLUTOPFER Die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer mit den Opfern des Seebebens in Südostasien ist riesig. Viele Firmen und Kantone beteiligen sich an der Sammlung. Auch Coop liess der Glückskette 250000 Franken zukommen. Für weitere 250000 Franken hat Coop zusammen mit dem Schweizerischen Roten Kreuz letzten Freitag einen Hilfsflug mit dringend benötigten Hilfsgütern nach Sri Lanka organisiert (siehe auch «Frage der Woche»). Mit Leitern klettern die Menschen auf die Dächer der Häuser, um sich vor den Wassermassen zu retten. «WIR HATTEN SCHLICHT TODESANGST» Coopzeitungs-Fotograf Georgios Kefalas über die bangsten Stunden seines Lebens in Sri Lanka. COOPZEITUNG: Weshalb warst du in Sri Lanka? Georgios kefalas: Bettina Ullmann und ich waren im Auftrag der Coopzeitung für verschiedene Reportagen unterwegs - zuerst in Indien über Bio-Baumwolle, dann in Sri Lanka über den Tee- und Gewürzanbau. Lagen diese Plantagen an der Küste Sri Lankas? Nein. Wir wollten die Weihnachtstage in einem Hotel am Meer im Süden überbrücken und unser Material aus Indien ordnen. Am Tag der geplanten Weiterreise kamen plötzlich die Wassermassen ... Die Wassermassen spülen die Autos weg wie Spielzeug. Im Wasser kämpft ein Hotelgast mit den Fluten. Auch er konnte sich retten. Was genau ist geschehen? Am Sonntag, dem 26. Dezember, trat ich kurz nach 9 Uhr mit der Kamera aus dem Zimmer. Ich wollte ein paar Aufnahmen unseres Hotels machen. Von der Galerie im ersten Stock sah ich unten im Hotelhof die ersten Wassermassen. Ich begriff nicht, was das zu bedeuten hatte ... Dann kam Kollegin Bettina, die mich wecken und warnen wollte und rief «das Wasser kommt!» Wie habt ihr überlebt? Wir hatten ganz einfach Glück. Glück, dass das Wasser nicht bis zu uns in den ersten Stock kam, Glück, dass das Gebäude der Flut standhielt, die mit einem Riesengetöse hereinbrach. Andere wurden zusammen mit Mobiliar, Gebäudeteilen, Autos und Bäumen von den Wassermassen mitgerissen. Viele von ihnen wurden dabei verletzt. Wer aber im Gebäude eingeschlossen blieb, ertrank! Coopzeitungs-Redaktorin Bettina Ullmann hat die Flutkatastrophe in Sri Lanka überlebt. «Was zum Teufel passiert hier? Ein Hochwasser steigt nicht mit einer solchen Geschwindigkeit. Was kann solche Wassermassen bewegen?» Wie gehst du mit dem Erlebten um? Ich weiss nicht, was noch alles hochkommen wird. Als wir am Katastrophenort waren, waren unsere einzigen Gedanken, zu überleben. Nachdem wir von den Hotelbesitzern gerettet wurden, wollten wir nur noch nachhause fliegen. Erst hier beginne ich zu realisieren, was eigentlich passiert ist - und welches Glück wir hatten. Dass wir jetzt hier sind, verdanken wir unseren Hotelbesitzern, die uns selbstlos halfen. Hast du viel fotografiert? Als Betroffene waren wir mittendrin und hatten schlicht Todesangst. Das menschliche Leid lähmte mich, so dass ich nicht als Journalist funktionieren konnte. Erst, als ein vermisstes Mädchen wiedergefunden wurde, löste sich die Blockade. Daniel Sägesser «WIR WISSEN NICHT, WANN ES KOMMT.» Manfred Baer über riesige Flutwellen - und das nächste grosse Erdbeben in der Schweiz. Die kleine Esther wurde wohlbehalten gefunden. Ein Hotelangestellter hatte sie in Sicherheit gebracht. COOPZEITUNG: Warum wurde auch die Westküste von Sri Lanka so stark von der riesigen Flutwelle getroffen? Das Epizentrum des Seebebens lag doch im Osten von Sri Lanka? Manfred Baer: Vereinfacht gesagt war es so: Die Flutwelle, die mit grosser Wucht unterwegs war, erfasste die Küste von Sri Lanka ähnlich wie ein grosser Wirbel, der durch die Nähe des indischen Subkontinents zu Sri Lanka und durch Meeresströmungen verstärkt wurde. Könnte es diese Art von riesigen Meereswellen nach einem Erdbeben auch im Mittelmeer geben? Ja - und wenn, dann am ehesten im östlichen Mittelmeer in der Nähe der Türkei und von Griechenland, aber wohl kaum in diesen gigantischen Dimensionen wie jetzt in Asien. Aber im Mittelmeer gibt es ja - wie auch im Indischen Ozean - kein Frühwarnsystem wie zum Beispiel im Pazifik? Das stimmt. Aber ein Frühwarnsystem macht dann am meisten Sinn, wenn es - wie im Pazifik - riesige Distanzen zwischen dem Bebengebiet und potentiell betroffenen Küsten wie zum Beispiel in den USA, in Südamerika und in Japan gibt. Das gibt genügend Zeit, um möglicherweise die Bevölkerung dort notfallmässig zu evakuieren. Tsunamis können sich mit 800 km in der Stunde ausdehnen. Manfred Baer, ErdbebenExperte der ETH: «Die gigantische Flutwelle hat Sri Lanka wie in einem grossen weiten Wirbel erreicht ...» Auf der Terrasse eines Bungalows auf der Teeplantage übernachteten die Hotelgäste des Club Lanka, bevor sie nach Colombo gefahren wurden. Fotos: Bettina Ullmann, Georgios Kefalas, ETH Zürich, Keystone. Wann erwarten Sie in Kalifornien das nächste grosse Erdbeben? Der sogenannte «Big One», das grosse Beben, das dort viele Menschen erwarten, ist tatsächlich fällig. Aber eine genaue Prognose ist unmöglich: Das könnte nächste Woche passieren, aber auch erst in fünfzig Jahren. Wie steht es denn in der Schweiz? Könnte es in der Gegend von Basel nicht auch bald wieder ein grosses Erdbeben wie am 18. Oktober 1356 geben? Ja, das könnte sich tatsächlich ereignen. Aber auch hier gilt: Wir wissen nicht, wann. Möglich wäre ein grösseres Erdbeben in der Schweiz vor allem in der Gegend um Basel und allenfalls auch im Wallis.Interview: Paul Kienle
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