30 | WELTWEIT Moderne Architektur geht in Lüttich eine gelungene Symbiose mit historischen Bauten ein – sowohl im Großen wie dem spektakulären Bahnhof von Stararchitekt Santiago Calatrava (links und unten) als auch im Kleinen wie im Restaurant The Kitchen (r.) Design made in Belgium Was verbinden Sie mit Lüttich? Waffeln? Kohle und Stahl? Fußball und ein Radrennen? Ja auch, aber Belgiens viertgrößte Stadt ist vor allem eine Metropole für modernes Design. DCM-Autorin Alexa Christ bummelte durch Geschäfte, Restaurants und Boutiquen K lotzen, nicht kleckern!“, dachten sich die Lütticher, als sie den spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava beauftragten, ihren neuen Bahnhof zu bauen. So wurden 312 Millionen Euro in die Hand genommen und 10.000 Tonnen Stahl verschweißt. Ergebnis: Seit 2009 gleicht die Ankunft im Bahnhof Liège-Guillemins der Einfahrt in ein futuristisches Ufo. Ein kühner Entwurf: Das lichte Gebäude aus Stahl, Glas und Beton ähnelt einer weit geöffneten Venusmuschel: Im Inneren konkav-konvex geschwungen und nach allen Seiten offen – ein Anblick, bei dem einem schwindlig werden kann. Wie in aller Welt kommt ein solcher Bahnhof ins kleine, beschauliche Lüttich? Denn seien wir mal ehrlich: Die knapp 200.000 Einwohner zählende Stadt im Dreiländereck von Belgien, Holland und Deutschland ist nicht gerade als pulsierende, ständig neue Trends setzende Metropole bekannt, oder doch? Genau hier lohnt ein genauerer Blick, denn es tut sich was in der wallonischen Provinz! LEUCHTENDE HÄKELKLEIDER UND HANDSCHUHVASEN Die Stadt, die im Mittelalter ein reicher Fürstbischofssitz war und später von Kohle und Stahl lebte, mausert sich zu einem Designzentrum. Inmitten historischer Bauten realisieren Architekten wie Charles Vandenhove oder Bruno Albert harmonische Übergänge zur Moderne. Manch ein Mode-, Schmuck- oder Möbeldesigner pfeift auf Paris, London, Berlin, Mailand oder New York und tobt seine Kreativität im unaufgeregten Lüttich aus. Vielleicht ist es gerade die scheinbare Unmöglichkeit, in einer Arbeiterstadt Avantgarde zu betreiben, die die Designer inspiriert. Modemacher Giovanni Biasiolo stellt jedenfalls fest: „Generell ist es nicht leicht, die Lütticher für neue Konzepte zu begeistern. Aber in den letzten zwei, drei Jahren zeigen immer mehr Menschen Interesse an Design aus Lüttich.“ Vermutlich tut der Belgier mit den italienischen Wurzeln gut daran, seine gewagtesten Entwürfe, die er augenzwinkernd „Hautre Couture“ nennt, nur 32 | WELTWEIT DCM Tipps und Adressen Le Labo 4, Quai Edouard van Beneden 22, HOTELS: Crowne Plaza Liège, Mont Saint Tel. 00 32 / 4 / 3 44 24 04, www.lelabo4.be Martin 9 –11, Tel. 00 32 / 4 /2 22 94 94, DESIGN: Design-Shops, Galerien, www.crowneplazaliege.be, DZ ab ca. Restaurants und Bauwerke sind im Guide Lässig und kreativ präsentiert 131 Euro. Lüttichs erstes 5-Sterne-Hotel „Shop’in Design“ aufgeführt, erhältlich über sich Lüttich seinen Gästen, mit modernem Interior-Design in zwei das Lütticher Tourismusbüro und als so wie bei Modedesigner wunderschönen Adelspalästen aus dem PDF-Download unter www.liegetourisme.be Giovanni Biasiolo (l.), im 15. und 16. Jahrhundert. ANREISE: Lüttich ist TGV-Stopp und Straßencafé am Lütticher Markt- RESTAURANTS: The Kitchen, Boulevard de der Bahnhof Liège-Guillemins nach brunnen (u.) oder im la Sauvenière 139, Tel. 00 32/4/2 50 20 74, Entwürfen Santiago Calatravas das erste Restaurant Le Labo 4 (r. unten) www.thekitchenrestaurant.be Highlight der Reise. Manch ein Designer pfeift auf Paris, London, Berlin oder New York und tobt seine Kreativität im unaufgeregten Lüttich aus. Vielleicht ist es die scheinbare bei Modeschauen zu präsentieren. Da tragen die Models Kleidungsstücke aus Kuhhaut, riesige Federgebinde oder elektrisch illuminierte Häkelkleidchen. In seinem Shop in der Rue de la Madeleine 23 finden sich immer noch witzige, aber tragbarere Kreationen. Besonders beliebt sind seine Unisex-Schals, die auf den ersten Blick wie stylische Halskrausen aussehen und von den Männern gern mal als Krawattenersatz getragen werden. Daneben verkauft Biasiolo Möbel, Accessoires wie Babouschka-Gläser und Vintage-DVD-Hüllen, Handschuhvasen und Taschen sowie Schmuck seiner Designerkollegin Todo. DER CHARME DER PROVINZ Seit das Tourismusbüro Lüttich 2011 das kleine Büchlein „Shop’in Design“, einen Guide mit über 60 Designadressen, herausgebracht hat, begeben sich immer mehr Menschen in die malerische Altstadtgasse En Neuvice. Ihr Ziel: ein bunter Laden namens Arqontanporin. Das Künstlerpaar Katia Marchiori und Bruno Le Boulangé bietet hier Kunst für jedermann. Ihre Zutaten: quadratische PVC- oder Plexiglasleinwände, Acrylfarben und das, was ihnen gerade so durch den Kopf geht. Auf diese Weise entstehen mal mehr, mal weniger abstrakte Kunstwerke in Schwarz-Weiß oder schreienden Knallfarben, unter die die Künstler stets einen Gedanken des Moments setzen: „Ganz allein in der Nacht“ steht da zum Beispiel oder „Mach das nicht!“. Eine Art visuelles Tagebuch. Jedes Stück ein Original und preislich äußerst moderat: Je nach Größe reichen 10 bis 300 Euro, um einen echten Arqontanporin sein Eigen zu nennen. Und vielleicht ist ja auch das ein Verdienst der Provinz – in London oder New York liegt das Preisniveau von Kunst und Design auf einer ganz anderen Höhe. In Lüttich bleibt somit genug Geld für den Besuch eines der stylischen Restaurants wie zum Beispiel des The Kitchen. Auf der oberen Etage befindet sich ein ultraschicker Showroom mit Küchendesign von Bulthaup bis zu den gusseisernen Herden von La Cornue. Eine Etage tiefer genießt man das, was der Küchenchef auf solcherlei Geräten zaubert: Zander, Lamm oder doch lieber ein saftiges Rinderfilet? Serviert wird alles in einer Cocotte, dem Minischmortopf, der meist glühend heiß auf den Tisch kommt und derzeit der letzte Schrei in der belgischen Gastronomie ist, die sich hinter der des großen Bruders Frankreich keinesfalls zu verstecken braucht. Lüttich punktet zudem mit originellem Ambiente wie dem vielleicht einzigen Restaurant in einem ehemaligen Uni-Chemielabor. Im Labo 4 sitzt man neben Laborwaschbecken und inmitten von Reagenzgläsern, Bunsenbrennern und Chemikalienflaschen, die überall als Deko herumstehen. Doch die Luft ist frei von chemischen Gerüchen, sondern erfüllt vom Duft so köstlicher Gerichte wie Dorade in Korianderbutter oder einer Tajine mit Rind und Aprikosen. Und allein über den Aggregatzustand des frisch gebackenen, luftig leichten Bauernbrots, das im Labo 4 zu jedem Essen gereicht wird, würde jeder Chemielehrer jubeln. FOTOS: MA U R ITUS-IMA GES, A LEXA CHR IST (3), OPT.B E/J.P.R EMY, FTPL (4) Unmöglichkeit, in einer Arbeiterstadt Avantgarde zu betreiben, die sie inspiriert … In der Boutique von Ann Piron schlagen hingegen Damenherzen höher. Abendkleider und Brautroben in feminin-elegantem Stil aus Seide, Organza, Musselin und feiner Spitze sind die Spezialität der aparten Modeschöpferin. Mittlerweile schallt ihr Ruf so weit über die Stadtgrenzen hinaus, dass sie es sich leisten kann, nicht mehr im Zentrum, sondern im nördlichen Stadtteil Coronmeuse zu arbeiten. Den perfekten Kopfschmuck zu den umwerfenden Roben findet man bei Ariane Lespire. Die Lütticherin ist eigentlich Architektin. Ihr Diplom von der örtlichen L’École d’Architecture Saint Luc à Liège verstaubt jedoch schon längst in irgendeiner Aktenmappe. „Ich hatte einfach keine Lust mehr, nur im Büro zu sitzen und keinen Kontakt mit Menschen zu haben“, erklärt Lespire. So begann sie, ausgefallene Hüte zu kreieren. Irgendwann kamen Mützen, Schals und Handtaschen hinzu, und mittlerweile vertreibt sie ihre farbenfrohen Accessoires in über 100 Geschäften auf der ganzen Welt. VIEL RAUM FÜR KREATIVE KÖPFE So weit sind Lisette Nelissen und ihre Tochter Catherine Matagne zwar noch nicht, aber ihre filigranen Schmuckstücke, deren Stil sie selbst als „retro-romantisch“ bezeichnen, lohnen einen Abstecher allemal. In ihrem hübschen kleinen Laden namens Matrioshka mitten in der Altstadt fühlt man sich ins Paris der Belle Époque zurückversetzt. Catherine kreiert zarte Schmuckdesigns aus Bronze, Perlmutt, Kristall, Halbedelsteinen und vergoldetem Silber. Lisette, eine gelernte Kostüm- bildnerin, ist für die traumhaften Hüte verantwortlich, die überall in der Boutique wahre Entzückensbekundungen auslösen. Nur schade, dass wir in unserer heutigen Zeit so selten Hut tragen! Auch Catherine Matagne bestätigt, dass Lüttich eine gute Designstimmung ausstrahle. Man motiviere und inspiriere sich hier gegenseitig. Was dabei herauskommt, lässt sich besonders gut bei Jérôme Crahay und Stéphanie Loriaux begutachten. In ihrem Geschäft Sit on Design bieten sie Lütticher Raumausstattern die Möglichkeit, eigene Entwürfe zu verkaufen. Da wäre das faltbare Bücherregal von Emmanuel Garin, der dafür einen „Red Dot Design Award“ bekommen hat. Die neonfarbenen Plastikessstäbchen für asiatische Gerichte stammen von Pascal Koch, kuschelige Plaids mit wellenförmigem Farbverlauf von Textildesignerin Adeline Beaudry und die Stummen Diener in der Ecke von Thierry Bataille. Jean Francois Parisse designt asymmetrische Regale, und Sandrine Soyez näht aus allerlei Materialresten Patchworkkissen und grinsende Stofftiere, die sie unter dem Label Three Little Monkeys vertreibt. Jérôme Crahay verrät mit verschmitztem Lächeln: „Ich glaube, sie näht die Sachen in ihrer Küche zusammen.“ Und damit all diese begabten Menschen und ihre kreativen Produkte bald noch mehr aus der Küche herauskommen, bastelt Jérôme gerade an einer Website: Unter www.mybelgiumdesign.com werden sie demnächst alle versammelt sein. Denn das kleine, beschauliche Lüttich, oh ja, das ist ein Zentrum für Design geworden!
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