Ufzgi sind halb so wild - Migros

LEBEN | MM07, 15.2.2016 | 77
Kontrollieren,
motivieren:
Was ist
Ihr Rezept?
Mamma mia
Migmag.ch/ufzgi
E
Den Schmerz
zulassen
Erinnern Sie sich
noch an meine Freundin Susanne? Sie
erhielt neulich mit
35 Jahren die Schock­
diagnose «vorzeitige
Wechseljahre» und
wird vermutlich keine
leiblichen Kinder
haben können.
Hausaufgaben gehen
vielen Kindern leichter
von der Hand, wenn sie
dabei nicht allein sind.
Familie
Ufzgi sind halb so wild
Hausaufgaben können Kinder ganz schön unter Druck setzen. Den Eltern bieten sich viele
Möglichkeiten, ihre Sprösslinge zu unterstützen. Nur helfen sollten sie besser nicht.
Text: Andrea Fischer
Bild: Getty Images
N
ach der Schule am Tisch
sitzen, den Bleistift zer­
kauen und Löcher in die
Luft starren – für viele
Kinder mit Hausaufgaben ist das
der ganz normale Alltag.
Oft müssen Eltern bei jedem
Wort und jeder Ziffer Geburtshilfe
leisten. Woran liegt das? Und wie
viel elterliche Unterstützung ist
noch normal? «Es fällt den Kin­
dern heute schwerer, die Hausauf­
gaben selbst zu machen. Das liegt
einerseits daran, dass diese oft an­
spruchsvoller geworden sind, zum
anderen nehmen sich Eltern heute
die Zeit, um ihren Kindern zu hel­
fen – und die Kinder nehmen die
Hilfe gern an», erklärt Fabian
Grolimund (37), Psychologe und
Co­Leiter der Akademie für Lern­
coaching in Zürich.
Vor allem kleine Kinder fühlen
sich in ihrem Zimmer am Pult
rasch einsam. «Sie geniessen es,
wenn sie nicht allein sein müssen,
sondern ihre Aufgaben zum
Beispiel am Küchentisch erledigen
dürfen», sagt Fabian Grolimund.
«Als Eltern kann man das ruhig
zulassen. Allerdings sollte man
nicht danebensitzen und zusehen,
sondern selbst etwas arbeiten.»
Es ist wichtig, das Kind stetig in
Richtung Selbständigkeit zu be­
gleiten und es dazu zu ermutigen.
Von Belohnungen rät Grolimund
allerdings ab: «Hausaufgaben
gehören zu den Pflichten, und
dafür sollte es keine Belohnung
geben, sonst geht die innere
Motivation verloren.»
Wichtiger sei es, das Arbeiten
selbst zu etwas Schönem zu
machen und anschliessend aktiv
Zeit mit dem Kind zu verbringen,
beispielsweise mit ihm ein Spiel zu
spielen.
Werden die Hausaufgaben
dennoch zu einer Belastung für
Kind und Eltern, ist es wichtig, mit
der Lehrperson zu sprechen. Als
Faustregel gilt: pro Schuljahr und
Tag zehn Minuten Aufgaben. Also
10 in der 1. Klasse, 20 in der 2. etc.
Zudem ist es an der Lehrperson,
den Kindern zu zeigen, wie man
seine Zeit sinnvoll einteilt, und
den Schülern Aufgaben zu geben,
die sie selbständig begreifen und
lösen können – auch im Sinn der
Chancengleichheit.
Für Eltern, die unsicher sind
beim Thema Hausaufgaben oder
die noch besser lernen wollen, ihre
Kinder zu motivieren, bietet die
Akademie für Lerncoaching ein
kostenloses Onlinetraining an:
Mit­kindern­lernen.ch MM
Buchtipp: «Mit Kindern lernen – Konkrete
Strategien für Eltern», Fabian Grolimund,
Exlibris.ch, Fr. 23.60
Tipps
So läuft es mit den
Hausaufgaben besser
Lassen Sie das Kind die Haus-
aufgaben im selben Raum
machen, sofern es dies will.
Aber erledigen Sie in dieser Zeit
eigene Arbeiten.
Unterstützen Sie Ihr Kind,
indem Sie eine angenehme
Atmosphäre schaffen, Tee und
Knabbereien vorbeibringen.
Ermutigen Sie es zu Selbständigkeit und loben Sie es dafür
(«Hey, hast du das alles allein
geschafft?»).
Beobachten Sie, ob Menge
und Inhalt der Aufgaben
altersgerecht selbständig
bewältigbar sind. Suchen Sie
andernfalls das Gespräch mit
der Lehrperson.
Das Umfeld neigt
dazu, dem unangeneh­
men Vakuum, das
durch die verheerende
Diagnose entstanden
ist, auszuweichen.
«Ihr seid doch noch
jung und könnt ein
Baby adoptieren»,
schlug jemand vor. Ein
anderer sprach über
Eizellspenden und
Leihmütter. Wir
meinen es alle gut,
verhalten uns aber
(unabsichtlich) falsch.
Susannes Therapeutin hat ihr vor allem
geraten, sich Zeit zu
nehmen. Bitte keine
Weltreise oder sonsti­
gen Ablenkungsmanö­
ver. Susanne soll den
Schmerz zulassen, ihn
spüren, bis er etwas
von seinem Schrecken
verliert. Erst wenn die
Trauerarbeit verrich­
tet ist, kommt der Mo­
ment, über Alterna­
tiven nachzudenken.
Eine Option haben
bisher alle ausser Acht
gelassen: Ein erfülltes
Leben ohne eigene
Kinder ist möglich.
Bettina
Leinenbach (39)
ist Journalistin und
zweifache Mutter.